Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.glauben, der Raupen geschaffen habe bloß zu dem Zweck, daß sie bei leben¬ Eben dieser Radikalismus, den die Zeit erklärt und entschuldigt, zeigt uns glauben, der Raupen geschaffen habe bloß zu dem Zweck, daß sie bei leben¬ Eben dieser Radikalismus, den die Zeit erklärt und entschuldigt, zeigt uns <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0693" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230379"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_2948" prev="#ID_2947"> glauben, der Raupen geschaffen habe bloß zu dem Zweck, daß sie bei leben¬<lb/> digem Leibe von den Maden der Schlupfwespe aufgefressen würden, so meint<lb/> Holbach, wenn es einen Gott gäbe, so würde er doch vor allem unter den<lb/> Menschen eine vernünftige soziale Harmonie hergestellt haben, anstatt die be¬<lb/> stehende gottlose Wirtschaft zuzulassen. Der Gott, den die Theologen lehrten,<lb/> dieses harte und rachgierige Wesen, sei doch nun einmal kein Gott, wie sich<lb/> ihn die Vernunft denken müsse; wie könne z. B. ein Gott, der seine eignen<lb/> Feinde oder die, die er um geringer Übertretungen willen für seine Feinde<lb/> erklärt, zu ewigen Höllenqualen verurteilt, wie könne ein solcher Gott den<lb/> Menschen Versöhnlichkeit gebieten?</p><lb/> <p xml:id="ID_2949" next="#ID_2950"> Eben dieser Radikalismus, den die Zeit erklärt und entschuldigt, zeigt uns<lb/> recht deutlich, wie die Irrtümer des Holbachschen Systems aus mangelhafter<lb/> Erfahrung, aus unvollständiger Geschichts- und Weltkenntnis entsprungen sind.<lb/> Was er vor Augen hatte, war ja leider ein recht breites Stück Welt, aber<lb/> doch zum Glück nicht die ganze Menschenwelt. Wenn er die heidnische Philo¬<lb/> sophie und das Christentum in den Quellen studiert und nicht bloß ans ober-<lb/> flüchlichen Lehrbüchern kennen gelernt hätte, so würde er gewußt haben, daß<lb/> die meisten seiner Sätze nicht neu waren, sondern alten Weisheitsschätzen ent¬<lb/> stammten. Und wenn er die Menschen selbst mehr studiert hätte, so würde<lb/> er um so manchem seiner Lehrsätze irre geworden sein. Er bildet sich ein, daß<lb/> man nur die Menschen vernünftig zu machen brauche, um eine vollkommne<lb/> soziale Ordnung herzustellen, ja er glaubt, wie unsre heutigen „Edelanarchisten,"<lb/> daß, wenn alle Menschen vernünftig wären, gar keine Negierung notwendig<lb/> sein würde. Sem Irrtum würde ihm vielleicht klar geworden sein, wenn er<lb/> Gelegenheit gehabt hätte, die Thätigkeit einer heutigen Feuerwehr mit der<lb/> Verwirrung zu vergleichen, die zu seiner Zeit bei Bränden geherrscht hat.<lb/> Der Unterschied beruht uicht darauf, daß die heutigen Feuerwehrmänner jeder<lb/> einzeln vernünftiger wären als die Leute, die ehedem bei Bränden löschten oder<lb/> unthätig herumstanden oder durch unzweckmäßiges Eingreifen Verwirrung an¬<lb/> richteten. Die Sache geht heute anch dann ganz glatt, wenn zufällig einmal<lb/> sämtliche Feuerwehrmänner beschränkte Menschen sind, die in ihrem sonstigen<lb/> Leben wenig Vernunft offenbaren, während bei einem Brande vor hundert<lb/> Jahren die Konfusion nicht kleiner, sondern noch ein wenig größer gewesen<lb/> sein würde, wenn die Löschmannschaft zufällig aus lauter großen Philosophen<lb/> bestanden hätte. Der Unterschied besteht darin, daß wir heute Löschmann¬<lb/> schaften haben, die für den Zweck gedrillt sind, und daß ein Brandmeister die<lb/> Löscharbeit leitet, dessen Kommando alle pünktlich gehorchen, während die Mit¬<lb/> wirkung Unberufner vollständig ausgeschlossen ist. Ein großer hochzivilisierter<lb/> Staat umfaßt nun eine große Anzahl mit einander verflochtner Gemeinschaften,<lb/> deren jede aus vielen Mitgliedern besteht, die gewisse Thätigkeiten gemein¬<lb/> schaftlich auszuüben haben. Sollen sich diese Thätigkeiten ohne Reibung und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0693]
glauben, der Raupen geschaffen habe bloß zu dem Zweck, daß sie bei leben¬
digem Leibe von den Maden der Schlupfwespe aufgefressen würden, so meint
Holbach, wenn es einen Gott gäbe, so würde er doch vor allem unter den
Menschen eine vernünftige soziale Harmonie hergestellt haben, anstatt die be¬
stehende gottlose Wirtschaft zuzulassen. Der Gott, den die Theologen lehrten,
dieses harte und rachgierige Wesen, sei doch nun einmal kein Gott, wie sich
ihn die Vernunft denken müsse; wie könne z. B. ein Gott, der seine eignen
Feinde oder die, die er um geringer Übertretungen willen für seine Feinde
erklärt, zu ewigen Höllenqualen verurteilt, wie könne ein solcher Gott den
Menschen Versöhnlichkeit gebieten?
Eben dieser Radikalismus, den die Zeit erklärt und entschuldigt, zeigt uns
recht deutlich, wie die Irrtümer des Holbachschen Systems aus mangelhafter
Erfahrung, aus unvollständiger Geschichts- und Weltkenntnis entsprungen sind.
Was er vor Augen hatte, war ja leider ein recht breites Stück Welt, aber
doch zum Glück nicht die ganze Menschenwelt. Wenn er die heidnische Philo¬
sophie und das Christentum in den Quellen studiert und nicht bloß ans ober-
flüchlichen Lehrbüchern kennen gelernt hätte, so würde er gewußt haben, daß
die meisten seiner Sätze nicht neu waren, sondern alten Weisheitsschätzen ent¬
stammten. Und wenn er die Menschen selbst mehr studiert hätte, so würde
er um so manchem seiner Lehrsätze irre geworden sein. Er bildet sich ein, daß
man nur die Menschen vernünftig zu machen brauche, um eine vollkommne
soziale Ordnung herzustellen, ja er glaubt, wie unsre heutigen „Edelanarchisten,"
daß, wenn alle Menschen vernünftig wären, gar keine Negierung notwendig
sein würde. Sem Irrtum würde ihm vielleicht klar geworden sein, wenn er
Gelegenheit gehabt hätte, die Thätigkeit einer heutigen Feuerwehr mit der
Verwirrung zu vergleichen, die zu seiner Zeit bei Bränden geherrscht hat.
Der Unterschied beruht uicht darauf, daß die heutigen Feuerwehrmänner jeder
einzeln vernünftiger wären als die Leute, die ehedem bei Bränden löschten oder
unthätig herumstanden oder durch unzweckmäßiges Eingreifen Verwirrung an¬
richteten. Die Sache geht heute anch dann ganz glatt, wenn zufällig einmal
sämtliche Feuerwehrmänner beschränkte Menschen sind, die in ihrem sonstigen
Leben wenig Vernunft offenbaren, während bei einem Brande vor hundert
Jahren die Konfusion nicht kleiner, sondern noch ein wenig größer gewesen
sein würde, wenn die Löschmannschaft zufällig aus lauter großen Philosophen
bestanden hätte. Der Unterschied besteht darin, daß wir heute Löschmann¬
schaften haben, die für den Zweck gedrillt sind, und daß ein Brandmeister die
Löscharbeit leitet, dessen Kommando alle pünktlich gehorchen, während die Mit¬
wirkung Unberufner vollständig ausgeschlossen ist. Ein großer hochzivilisierter
Staat umfaßt nun eine große Anzahl mit einander verflochtner Gemeinschaften,
deren jede aus vielen Mitgliedern besteht, die gewisse Thätigkeiten gemein¬
schaftlich auszuüben haben. Sollen sich diese Thätigkeiten ohne Reibung und
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |