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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Regiment seiner Nachfolger ohne staatlichen Zwang an vielen Orten aufging
und gedieh, sodaß der erste österreichische Bevollmächtigte beim neuen Bundes¬
tage, Graf Buol, im Jahre 1316 zur Legitimierung des österreichischen Deutsch¬
tums die Behauptung wagte, "die Böhmen hätten sich originell und gediegen
zu einem deutschen Volksstamm ausgebildet; zwei Millionen Deutsche und eine
durchaus deutsche Bildung besäße Ungarn." Graf Buol hat nun den Mund
wohl etwas voll genommen; aber was ist von dem originellen und gediegnen
deutschen Volksstamm der Tscheche" und von der germanischen Bildung der Ungarn
heute noch übrig? Was von den nationalen Zwangsordnungen Josephs II,?
Und hätte damals eine geschlossene deutsche Nation hinter Joseph und seinen
Nachfolgern gestanden, so wäre uns das auch ohne büreaukratische Gewalt
wahrscheinlich erspart geblieben, was wir heute dort leider mit Sorge be¬
obachte". Der Staat kau" ehe" den Mangel an eigner nationaler Kraft seines
Volks nur in sehr geringem Maße ersetzen. Zu Josephs Zeiten aber gab es
keine geschlossene deutsche Nation, das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit
war erloschen, das Volk glich einem Kometen, dessen Haupt der Kaiser, dessen
Schweif ein Haufe größerer und kleinerer Körper war.

Man müßte um viele Jahrhunderte, etwa in die Stauferzeit, zurückgehn,
um die Spuren eines alle deutschen Stämme umfassenden Gemeinsinns zu ent¬
decken, in die Zeit, wo sich in unaufhörlichen Kämpfen nach anßen die Gegen¬
sätze der alten großen Stämme, in die das Volk zerfiel, allmählich auszugleichen
begannen, und wo Heinrich VI. den Versuch machte, ein Erbkaisertum zu er¬
richten. Wenn sich damals die Deutschen den Welschen und Slawen gegenüber
als einiges, und zwar als Herrenvolk fühlten, so ging dieses Bewußtsein wieder
unter in dein innern Zwist, der unter dem schlaffen Regiment der Luxemburger
zu der Goldner Bulle der Kleinstaaterei führte. Vollends auflösend wirkte der
Übergang der Kaiserkrone an das Haus Habsburg im Jahre 1438. Seit die
Ostmark von Bayern abgetrennt und später dnrch Kaiser Rudolf zum Stammsitz
seiner Hausmacht gewählt worden war, gewann dieses undeutsche Land eine
übermäßige und unheilvolle Bedeutung für Deutschland. So wenig Herrscher¬
tugenden in den Kaisern hnbsbnrgische" Bluts auch zu finden waren, so hätte"
ihre persönlichen Mängel schwerlich das Verderben über Deutschland gebracht
ohne den Umstand, daß Wien auf frischem Kolonialbvden lag und zugleich durch
die österreichischen Heiraten die Hauptstadt von Ungarn und Böhmen wurde.

Einen Augenblick schien es, als sollte Prag die Hauptstadt Deutschlands
werden; ja eiuer der luxemburgisch-böhmischen Kaiser, Karl IV., zog sogar
die Elbe abwärts und richtete sich in Tangermünde häuslich ein. Welche
andern Aussichten Hütten sich eröffnet, wenn Karl dort auf rein sächsischem
Boden die Kaisermacht befestigt und wenn seine Großtochter nicht einen Habs-



Perthe-z ,Ä'den, 8, Aufl., Bd. L, S, 101.

Regiment seiner Nachfolger ohne staatlichen Zwang an vielen Orten aufging
und gedieh, sodaß der erste österreichische Bevollmächtigte beim neuen Bundes¬
tage, Graf Buol, im Jahre 1316 zur Legitimierung des österreichischen Deutsch¬
tums die Behauptung wagte, „die Böhmen hätten sich originell und gediegen
zu einem deutschen Volksstamm ausgebildet; zwei Millionen Deutsche und eine
durchaus deutsche Bildung besäße Ungarn." Graf Buol hat nun den Mund
wohl etwas voll genommen; aber was ist von dem originellen und gediegnen
deutschen Volksstamm der Tscheche» und von der germanischen Bildung der Ungarn
heute noch übrig? Was von den nationalen Zwangsordnungen Josephs II,?
Und hätte damals eine geschlossene deutsche Nation hinter Joseph und seinen
Nachfolgern gestanden, so wäre uns das auch ohne büreaukratische Gewalt
wahrscheinlich erspart geblieben, was wir heute dort leider mit Sorge be¬
obachte». Der Staat kau» ehe» den Mangel an eigner nationaler Kraft seines
Volks nur in sehr geringem Maße ersetzen. Zu Josephs Zeiten aber gab es
keine geschlossene deutsche Nation, das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit
war erloschen, das Volk glich einem Kometen, dessen Haupt der Kaiser, dessen
Schweif ein Haufe größerer und kleinerer Körper war.

Man müßte um viele Jahrhunderte, etwa in die Stauferzeit, zurückgehn,
um die Spuren eines alle deutschen Stämme umfassenden Gemeinsinns zu ent¬
decken, in die Zeit, wo sich in unaufhörlichen Kämpfen nach anßen die Gegen¬
sätze der alten großen Stämme, in die das Volk zerfiel, allmählich auszugleichen
begannen, und wo Heinrich VI. den Versuch machte, ein Erbkaisertum zu er¬
richten. Wenn sich damals die Deutschen den Welschen und Slawen gegenüber
als einiges, und zwar als Herrenvolk fühlten, so ging dieses Bewußtsein wieder
unter in dein innern Zwist, der unter dem schlaffen Regiment der Luxemburger
zu der Goldner Bulle der Kleinstaaterei führte. Vollends auflösend wirkte der
Übergang der Kaiserkrone an das Haus Habsburg im Jahre 1438. Seit die
Ostmark von Bayern abgetrennt und später dnrch Kaiser Rudolf zum Stammsitz
seiner Hausmacht gewählt worden war, gewann dieses undeutsche Land eine
übermäßige und unheilvolle Bedeutung für Deutschland. So wenig Herrscher¬
tugenden in den Kaisern hnbsbnrgische» Bluts auch zu finden waren, so hätte»
ihre persönlichen Mängel schwerlich das Verderben über Deutschland gebracht
ohne den Umstand, daß Wien auf frischem Kolonialbvden lag und zugleich durch
die österreichischen Heiraten die Hauptstadt von Ungarn und Böhmen wurde.

Einen Augenblick schien es, als sollte Prag die Hauptstadt Deutschlands
werden; ja eiuer der luxemburgisch-böhmischen Kaiser, Karl IV., zog sogar
die Elbe abwärts und richtete sich in Tangermünde häuslich ein. Welche
andern Aussichten Hütten sich eröffnet, wenn Karl dort auf rein sächsischem
Boden die Kaisermacht befestigt und wenn seine Großtochter nicht einen Habs-



Perthe-z ,Ä'den, 8, Aufl., Bd. L, S, 101.
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[0638] Regiment seiner Nachfolger ohne staatlichen Zwang an vielen Orten aufging und gedieh, sodaß der erste österreichische Bevollmächtigte beim neuen Bundes¬ tage, Graf Buol, im Jahre 1316 zur Legitimierung des österreichischen Deutsch¬ tums die Behauptung wagte, „die Böhmen hätten sich originell und gediegen zu einem deutschen Volksstamm ausgebildet; zwei Millionen Deutsche und eine durchaus deutsche Bildung besäße Ungarn." Graf Buol hat nun den Mund wohl etwas voll genommen; aber was ist von dem originellen und gediegnen deutschen Volksstamm der Tscheche» und von der germanischen Bildung der Ungarn heute noch übrig? Was von den nationalen Zwangsordnungen Josephs II,? Und hätte damals eine geschlossene deutsche Nation hinter Joseph und seinen Nachfolgern gestanden, so wäre uns das auch ohne büreaukratische Gewalt wahrscheinlich erspart geblieben, was wir heute dort leider mit Sorge be¬ obachte». Der Staat kau» ehe» den Mangel an eigner nationaler Kraft seines Volks nur in sehr geringem Maße ersetzen. Zu Josephs Zeiten aber gab es keine geschlossene deutsche Nation, das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit war erloschen, das Volk glich einem Kometen, dessen Haupt der Kaiser, dessen Schweif ein Haufe größerer und kleinerer Körper war. Man müßte um viele Jahrhunderte, etwa in die Stauferzeit, zurückgehn, um die Spuren eines alle deutschen Stämme umfassenden Gemeinsinns zu ent¬ decken, in die Zeit, wo sich in unaufhörlichen Kämpfen nach anßen die Gegen¬ sätze der alten großen Stämme, in die das Volk zerfiel, allmählich auszugleichen begannen, und wo Heinrich VI. den Versuch machte, ein Erbkaisertum zu er¬ richten. Wenn sich damals die Deutschen den Welschen und Slawen gegenüber als einiges, und zwar als Herrenvolk fühlten, so ging dieses Bewußtsein wieder unter in dein innern Zwist, der unter dem schlaffen Regiment der Luxemburger zu der Goldner Bulle der Kleinstaaterei führte. Vollends auflösend wirkte der Übergang der Kaiserkrone an das Haus Habsburg im Jahre 1438. Seit die Ostmark von Bayern abgetrennt und später dnrch Kaiser Rudolf zum Stammsitz seiner Hausmacht gewählt worden war, gewann dieses undeutsche Land eine übermäßige und unheilvolle Bedeutung für Deutschland. So wenig Herrscher¬ tugenden in den Kaisern hnbsbnrgische» Bluts auch zu finden waren, so hätte» ihre persönlichen Mängel schwerlich das Verderben über Deutschland gebracht ohne den Umstand, daß Wien auf frischem Kolonialbvden lag und zugleich durch die österreichischen Heiraten die Hauptstadt von Ungarn und Böhmen wurde. Einen Augenblick schien es, als sollte Prag die Hauptstadt Deutschlands werden; ja eiuer der luxemburgisch-böhmischen Kaiser, Karl IV., zog sogar die Elbe abwärts und richtete sich in Tangermünde häuslich ein. Welche andern Aussichten Hütten sich eröffnet, wenn Karl dort auf rein sächsischem Boden die Kaisermacht befestigt und wenn seine Großtochter nicht einen Habs- Perthe-z ,Ä'den, 8, Aufl., Bd. L, S, 101.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/638>, abgerufen am 23.07.2024.