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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Zur reichsgesetzlichen Regelung des Versicherungsrechts

kundig ist, in dieser unscheinbaren Bestimmung nichts auffälliges; und die
Gesellschaft bezeichnet als Zweck: der Versicherte solle dadurch angehalten
werden, seinen gesamten Schaden auf einmal zu berechnen und der Feststellung
keine Hindernisse noch Verzögerungen in den Weg zu legen. In Wahrheit
erhält die Gesellschaft hierdurch ein Mittel, die Zeit der Erfüllung ihrer Ver¬
bindlichkeit beliebig hinauszuschieben und sich auf Kosten des Versicherten zu
bereichern; und die Gesellschaften haben von diesem Mittel oft in so frivoler
Weise Gebrauch gemacht, daß das Reichsgericht mehrfach diese Vorschriften
der "allgemeinen Bedingungen" als den guten Sitten widersprechend und darum
für nichtig erklärt hat.

In einem Falle klagte der gänzlich abgebrannte Versicherte die Brand¬
schadensumme mit rund 130000 Mark ein; die Gesellschaft erkannte nur den
Betrag von 80000 Mark an, während sie den Mehrbetrag bestritt. Das Land¬
gericht erließ gemäß den oben gedachten gesetzlichen Bestimmungen ein vollstreck¬
bares Teilurteil, durch das die Gesellschaft zunächst zur sofortigen Zahlung
der anerkannten 80000 Mark verurteilt wurde; und gegen dieses Teilurteil
legte die Gesellschaft Berufung und schließlich Revision an das Reichsgericht
ein, weil sie durch die oben wörtlich wiedergegebne Bestimmung der "allge¬
meinen Bedingungen" zur Zahlung selbst des anerkannten Betrags nicht ver¬
pflichtet sei, bevor der Gesamtbetrag der Entschädigung durch Vergleich oder
rechtskräftiges Urteil endgiltig festgestellt sei. In würdiger Weise hat das
Reichsgericht unter Verwerfung der Revision darauf hingewiesen, daß die von
der Gesellschaft beliebte Auslegung der allgemeinen Bedingungen nicht dazu
führen dürfe, "daß es in die Hand der Gesellschaft gelegt wird, durch Führung
von Prozessen über einen Teil der Entschädigung und möglichste Ausdehnung
der Prozesse sich auf Kosten der Versicherten erheblich zu bereichern und die
bei völligen oder fast völligen Brandschäden meist gegebne Notlage des Ver¬
sicherten zu einer Verkürzung desselben mittels Hinwirkung auf weitgehende,
sonst nicht gerechtfertigte Verzichte auszubeuten." Das Reichsgericht erachtete
eine solche Ausnützung von Vorschriften der allgemeinen Bedingungen als den
guten Sitten widerstreitend, weil die Gesellschaft die Notlage des abgebrannten
Versicherten als Druckmittel benütze, um ihn dnrch Verweigerung des aner¬
kannten Betrages zur Aufgabe der weitern, von ihr bestrittnen Ansprüche zu
nötigen.

In einem andern dem Reichsgericht vorgelegten Fall hatte der Versicherte
eine Vrandschadensummc von 11527 Mark 10 Pfennigen verlangt; die Gesell¬
schaft hatte den Betrag auf 11006 Mark 61 Pfennige anerkannt, verweigerte
aber wegen des geringfügigen Unterschieds von 521 Mark 49 Pfennigen die
Auszahlung der anerkannten 11006 Mark 61 Pfennige und nötigte den Ver¬
sicherten zu einem Prozeß, der mehrere Jahre dauerte; sie wurde zur Zahlung
des ganzen eingeklagten Betrags mit Zinsen vom Tage der Zahlungsweigerung


Grenzboten I 1899 l>8
Zur reichsgesetzlichen Regelung des Versicherungsrechts

kundig ist, in dieser unscheinbaren Bestimmung nichts auffälliges; und die
Gesellschaft bezeichnet als Zweck: der Versicherte solle dadurch angehalten
werden, seinen gesamten Schaden auf einmal zu berechnen und der Feststellung
keine Hindernisse noch Verzögerungen in den Weg zu legen. In Wahrheit
erhält die Gesellschaft hierdurch ein Mittel, die Zeit der Erfüllung ihrer Ver¬
bindlichkeit beliebig hinauszuschieben und sich auf Kosten des Versicherten zu
bereichern; und die Gesellschaften haben von diesem Mittel oft in so frivoler
Weise Gebrauch gemacht, daß das Reichsgericht mehrfach diese Vorschriften
der „allgemeinen Bedingungen" als den guten Sitten widersprechend und darum
für nichtig erklärt hat.

In einem Falle klagte der gänzlich abgebrannte Versicherte die Brand¬
schadensumme mit rund 130000 Mark ein; die Gesellschaft erkannte nur den
Betrag von 80000 Mark an, während sie den Mehrbetrag bestritt. Das Land¬
gericht erließ gemäß den oben gedachten gesetzlichen Bestimmungen ein vollstreck¬
bares Teilurteil, durch das die Gesellschaft zunächst zur sofortigen Zahlung
der anerkannten 80000 Mark verurteilt wurde; und gegen dieses Teilurteil
legte die Gesellschaft Berufung und schließlich Revision an das Reichsgericht
ein, weil sie durch die oben wörtlich wiedergegebne Bestimmung der „allge¬
meinen Bedingungen" zur Zahlung selbst des anerkannten Betrags nicht ver¬
pflichtet sei, bevor der Gesamtbetrag der Entschädigung durch Vergleich oder
rechtskräftiges Urteil endgiltig festgestellt sei. In würdiger Weise hat das
Reichsgericht unter Verwerfung der Revision darauf hingewiesen, daß die von
der Gesellschaft beliebte Auslegung der allgemeinen Bedingungen nicht dazu
führen dürfe, „daß es in die Hand der Gesellschaft gelegt wird, durch Führung
von Prozessen über einen Teil der Entschädigung und möglichste Ausdehnung
der Prozesse sich auf Kosten der Versicherten erheblich zu bereichern und die
bei völligen oder fast völligen Brandschäden meist gegebne Notlage des Ver¬
sicherten zu einer Verkürzung desselben mittels Hinwirkung auf weitgehende,
sonst nicht gerechtfertigte Verzichte auszubeuten." Das Reichsgericht erachtete
eine solche Ausnützung von Vorschriften der allgemeinen Bedingungen als den
guten Sitten widerstreitend, weil die Gesellschaft die Notlage des abgebrannten
Versicherten als Druckmittel benütze, um ihn dnrch Verweigerung des aner¬
kannten Betrages zur Aufgabe der weitern, von ihr bestrittnen Ansprüche zu
nötigen.

In einem andern dem Reichsgericht vorgelegten Fall hatte der Versicherte
eine Vrandschadensummc von 11527 Mark 10 Pfennigen verlangt; die Gesell¬
schaft hatte den Betrag auf 11006 Mark 61 Pfennige anerkannt, verweigerte
aber wegen des geringfügigen Unterschieds von 521 Mark 49 Pfennigen die
Auszahlung der anerkannten 11006 Mark 61 Pfennige und nötigte den Ver¬
sicherten zu einem Prozeß, der mehrere Jahre dauerte; sie wurde zur Zahlung
des ganzen eingeklagten Betrags mit Zinsen vom Tage der Zahlungsweigerung


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[0545] Zur reichsgesetzlichen Regelung des Versicherungsrechts kundig ist, in dieser unscheinbaren Bestimmung nichts auffälliges; und die Gesellschaft bezeichnet als Zweck: der Versicherte solle dadurch angehalten werden, seinen gesamten Schaden auf einmal zu berechnen und der Feststellung keine Hindernisse noch Verzögerungen in den Weg zu legen. In Wahrheit erhält die Gesellschaft hierdurch ein Mittel, die Zeit der Erfüllung ihrer Ver¬ bindlichkeit beliebig hinauszuschieben und sich auf Kosten des Versicherten zu bereichern; und die Gesellschaften haben von diesem Mittel oft in so frivoler Weise Gebrauch gemacht, daß das Reichsgericht mehrfach diese Vorschriften der „allgemeinen Bedingungen" als den guten Sitten widersprechend und darum für nichtig erklärt hat. In einem Falle klagte der gänzlich abgebrannte Versicherte die Brand¬ schadensumme mit rund 130000 Mark ein; die Gesellschaft erkannte nur den Betrag von 80000 Mark an, während sie den Mehrbetrag bestritt. Das Land¬ gericht erließ gemäß den oben gedachten gesetzlichen Bestimmungen ein vollstreck¬ bares Teilurteil, durch das die Gesellschaft zunächst zur sofortigen Zahlung der anerkannten 80000 Mark verurteilt wurde; und gegen dieses Teilurteil legte die Gesellschaft Berufung und schließlich Revision an das Reichsgericht ein, weil sie durch die oben wörtlich wiedergegebne Bestimmung der „allge¬ meinen Bedingungen" zur Zahlung selbst des anerkannten Betrags nicht ver¬ pflichtet sei, bevor der Gesamtbetrag der Entschädigung durch Vergleich oder rechtskräftiges Urteil endgiltig festgestellt sei. In würdiger Weise hat das Reichsgericht unter Verwerfung der Revision darauf hingewiesen, daß die von der Gesellschaft beliebte Auslegung der allgemeinen Bedingungen nicht dazu führen dürfe, „daß es in die Hand der Gesellschaft gelegt wird, durch Führung von Prozessen über einen Teil der Entschädigung und möglichste Ausdehnung der Prozesse sich auf Kosten der Versicherten erheblich zu bereichern und die bei völligen oder fast völligen Brandschäden meist gegebne Notlage des Ver¬ sicherten zu einer Verkürzung desselben mittels Hinwirkung auf weitgehende, sonst nicht gerechtfertigte Verzichte auszubeuten." Das Reichsgericht erachtete eine solche Ausnützung von Vorschriften der allgemeinen Bedingungen als den guten Sitten widerstreitend, weil die Gesellschaft die Notlage des abgebrannten Versicherten als Druckmittel benütze, um ihn dnrch Verweigerung des aner¬ kannten Betrages zur Aufgabe der weitern, von ihr bestrittnen Ansprüche zu nötigen. In einem andern dem Reichsgericht vorgelegten Fall hatte der Versicherte eine Vrandschadensummc von 11527 Mark 10 Pfennigen verlangt; die Gesell¬ schaft hatte den Betrag auf 11006 Mark 61 Pfennige anerkannt, verweigerte aber wegen des geringfügigen Unterschieds von 521 Mark 49 Pfennigen die Auszahlung der anerkannten 11006 Mark 61 Pfennige und nötigte den Ver¬ sicherten zu einem Prozeß, der mehrere Jahre dauerte; sie wurde zur Zahlung des ganzen eingeklagten Betrags mit Zinsen vom Tage der Zahlungsweigerung Grenzboten I 1899 l>8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/545>, abgerufen am 23.07.2024.