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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Zur reichsgesetzlichen Regelung des Versicherungsrechts

los, da die Gesellschaften trotz aller Konkurrenz, die sie einander machen, in
einer gewissen Verbindung gegen die eine Versicherung suchende Person stehen,
sodaß man bei sämtlichen Gesellschaften im wesentlichen dieselben Bedingungen
findet, von denen sie nicht abgehen, und denen man sich fügen muß, wenn
man überhaupt versichert sein will. Eine solche Ausbeutung der Vertrags¬
freiheit widerspricht aber dem die heutige Gesetzgebung beherrschenden "sozialen
Zuge."

Derselbe Gedanke, der insbesondre den Vorschriften des Bürgerlichen
Gesetzbuchs und des Handelsgesetzbuchs über den Dienstvertrag und über die
Handlungsgehilfen zu Grunde liegt, daß nämlich überall, wo die Vertrag¬
schließenden einander nicht gleich stark und gleich einsichtig gegenüberstehen, die
Regelung ihrer Angelegenheiten nicht ihrer freien Vereinbarung zu überlassen
ist, daß vielmehr der Gesetzgeber für den minder Starken und minder Ein¬
sichtigen zu sorgen hat, derselbe Gedanke muß auch ganz besonders auf dem
Gebiete des Versicherungswesens maßgebend sein. Wenn, wie die folgenden
Erörterungen ergeben werden, die Gesellschaften die durch den fortgesetzten
Betrieb des Versichcrungsgeschäfts erworbnen Kenntnisse aller Fragen, die zu
Zweifeln Anlaß bieten, dazu benutzt haben und immer wieder benutzen können,
um allmählich alle Schwierigkeiten in ihren "allgemeinen Bedingungen" zu
Ungunsten der Versicherten zu regeln, so muß verlangt werden, daß hier die
Vertragsfreiheit gänzlich oder doch in weitesten Umfang beseitigt werde, und
daß Versicherungsverträge lediglich nach Maßgabe des Gesetzes geschlossen
werden. Es ist wirklich nicht abzusehen, warum nicht der Feuerversicherungs¬
vertrag kurz dahin lautet: "Die Aktiengesellschaft A zu B versichert die in
der Anlage bezeichnete, im Hause N X zu A befindliche Habe des C auf
die Zeit vom 1. Januar 1900 bis 1. Januar 1905 gegen Feuersgefahr gegen
eine Vergütung von jährlich zwanzig Mark." Welche Rechte und Pflichten
dem einen wie dem andern Teil entstehen, wie sich der Versicherte beim Ver¬
tragsschluß und im Lauf des Vertrags, insbesondre bei Brandschäden zu ver¬
halten hat, an wen, wann und nach welchem Maßstab jeder Teil Zahlungen
zu leisten hat, unter welchen Voraussetzungen ein Rücktritt vom Vertrag oder
eine VerWirkung der Vertragsrechte eintritt: das alles muß sich ausschließlich
durch das Gesetz bestimmen, dessen zwingende Vorschriften nicht beseitigt werden
können durch die gegenwärtig beliebten fünfzig und mehr klein gedruckten Para¬
graphen, die der Versicherte nicht liest oder sich doch wenigstens nicht in allen
Einzelheiten klar macht, selbst wenn er geschäftsgewandt ist, am wenigsten aber,
wenn er zu der großen Menge der minder Gewandten und minder Gebildeten
gehört. Jene klein gedruckten Bestimmungen erwecken thatsächlich oft den Ein¬
druck, als handle es sich um Fußangeln, die dem Versicherten gelegt werden,
damit sich die Gesellschaft durch sie ihrer Zahlungspflicht entziehen kann. Dies
soll an einigen Fragen gezeigt werden, deren Regelung durch das Gesetz in


Zur reichsgesetzlichen Regelung des Versicherungsrechts

los, da die Gesellschaften trotz aller Konkurrenz, die sie einander machen, in
einer gewissen Verbindung gegen die eine Versicherung suchende Person stehen,
sodaß man bei sämtlichen Gesellschaften im wesentlichen dieselben Bedingungen
findet, von denen sie nicht abgehen, und denen man sich fügen muß, wenn
man überhaupt versichert sein will. Eine solche Ausbeutung der Vertrags¬
freiheit widerspricht aber dem die heutige Gesetzgebung beherrschenden „sozialen
Zuge."

Derselbe Gedanke, der insbesondre den Vorschriften des Bürgerlichen
Gesetzbuchs und des Handelsgesetzbuchs über den Dienstvertrag und über die
Handlungsgehilfen zu Grunde liegt, daß nämlich überall, wo die Vertrag¬
schließenden einander nicht gleich stark und gleich einsichtig gegenüberstehen, die
Regelung ihrer Angelegenheiten nicht ihrer freien Vereinbarung zu überlassen
ist, daß vielmehr der Gesetzgeber für den minder Starken und minder Ein¬
sichtigen zu sorgen hat, derselbe Gedanke muß auch ganz besonders auf dem
Gebiete des Versicherungswesens maßgebend sein. Wenn, wie die folgenden
Erörterungen ergeben werden, die Gesellschaften die durch den fortgesetzten
Betrieb des Versichcrungsgeschäfts erworbnen Kenntnisse aller Fragen, die zu
Zweifeln Anlaß bieten, dazu benutzt haben und immer wieder benutzen können,
um allmählich alle Schwierigkeiten in ihren „allgemeinen Bedingungen" zu
Ungunsten der Versicherten zu regeln, so muß verlangt werden, daß hier die
Vertragsfreiheit gänzlich oder doch in weitesten Umfang beseitigt werde, und
daß Versicherungsverträge lediglich nach Maßgabe des Gesetzes geschlossen
werden. Es ist wirklich nicht abzusehen, warum nicht der Feuerversicherungs¬
vertrag kurz dahin lautet: „Die Aktiengesellschaft A zu B versichert die in
der Anlage bezeichnete, im Hause N X zu A befindliche Habe des C auf
die Zeit vom 1. Januar 1900 bis 1. Januar 1905 gegen Feuersgefahr gegen
eine Vergütung von jährlich zwanzig Mark." Welche Rechte und Pflichten
dem einen wie dem andern Teil entstehen, wie sich der Versicherte beim Ver¬
tragsschluß und im Lauf des Vertrags, insbesondre bei Brandschäden zu ver¬
halten hat, an wen, wann und nach welchem Maßstab jeder Teil Zahlungen
zu leisten hat, unter welchen Voraussetzungen ein Rücktritt vom Vertrag oder
eine VerWirkung der Vertragsrechte eintritt: das alles muß sich ausschließlich
durch das Gesetz bestimmen, dessen zwingende Vorschriften nicht beseitigt werden
können durch die gegenwärtig beliebten fünfzig und mehr klein gedruckten Para¬
graphen, die der Versicherte nicht liest oder sich doch wenigstens nicht in allen
Einzelheiten klar macht, selbst wenn er geschäftsgewandt ist, am wenigsten aber,
wenn er zu der großen Menge der minder Gewandten und minder Gebildeten
gehört. Jene klein gedruckten Bestimmungen erwecken thatsächlich oft den Ein¬
druck, als handle es sich um Fußangeln, die dem Versicherten gelegt werden,
damit sich die Gesellschaft durch sie ihrer Zahlungspflicht entziehen kann. Dies
soll an einigen Fragen gezeigt werden, deren Regelung durch das Gesetz in


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[0539] Zur reichsgesetzlichen Regelung des Versicherungsrechts los, da die Gesellschaften trotz aller Konkurrenz, die sie einander machen, in einer gewissen Verbindung gegen die eine Versicherung suchende Person stehen, sodaß man bei sämtlichen Gesellschaften im wesentlichen dieselben Bedingungen findet, von denen sie nicht abgehen, und denen man sich fügen muß, wenn man überhaupt versichert sein will. Eine solche Ausbeutung der Vertrags¬ freiheit widerspricht aber dem die heutige Gesetzgebung beherrschenden „sozialen Zuge." Derselbe Gedanke, der insbesondre den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs und des Handelsgesetzbuchs über den Dienstvertrag und über die Handlungsgehilfen zu Grunde liegt, daß nämlich überall, wo die Vertrag¬ schließenden einander nicht gleich stark und gleich einsichtig gegenüberstehen, die Regelung ihrer Angelegenheiten nicht ihrer freien Vereinbarung zu überlassen ist, daß vielmehr der Gesetzgeber für den minder Starken und minder Ein¬ sichtigen zu sorgen hat, derselbe Gedanke muß auch ganz besonders auf dem Gebiete des Versicherungswesens maßgebend sein. Wenn, wie die folgenden Erörterungen ergeben werden, die Gesellschaften die durch den fortgesetzten Betrieb des Versichcrungsgeschäfts erworbnen Kenntnisse aller Fragen, die zu Zweifeln Anlaß bieten, dazu benutzt haben und immer wieder benutzen können, um allmählich alle Schwierigkeiten in ihren „allgemeinen Bedingungen" zu Ungunsten der Versicherten zu regeln, so muß verlangt werden, daß hier die Vertragsfreiheit gänzlich oder doch in weitesten Umfang beseitigt werde, und daß Versicherungsverträge lediglich nach Maßgabe des Gesetzes geschlossen werden. Es ist wirklich nicht abzusehen, warum nicht der Feuerversicherungs¬ vertrag kurz dahin lautet: „Die Aktiengesellschaft A zu B versichert die in der Anlage bezeichnete, im Hause N X zu A befindliche Habe des C auf die Zeit vom 1. Januar 1900 bis 1. Januar 1905 gegen Feuersgefahr gegen eine Vergütung von jährlich zwanzig Mark." Welche Rechte und Pflichten dem einen wie dem andern Teil entstehen, wie sich der Versicherte beim Ver¬ tragsschluß und im Lauf des Vertrags, insbesondre bei Brandschäden zu ver¬ halten hat, an wen, wann und nach welchem Maßstab jeder Teil Zahlungen zu leisten hat, unter welchen Voraussetzungen ein Rücktritt vom Vertrag oder eine VerWirkung der Vertragsrechte eintritt: das alles muß sich ausschließlich durch das Gesetz bestimmen, dessen zwingende Vorschriften nicht beseitigt werden können durch die gegenwärtig beliebten fünfzig und mehr klein gedruckten Para¬ graphen, die der Versicherte nicht liest oder sich doch wenigstens nicht in allen Einzelheiten klar macht, selbst wenn er geschäftsgewandt ist, am wenigsten aber, wenn er zu der großen Menge der minder Gewandten und minder Gebildeten gehört. Jene klein gedruckten Bestimmungen erwecken thatsächlich oft den Ein¬ druck, als handle es sich um Fußangeln, die dem Versicherten gelegt werden, damit sich die Gesellschaft durch sie ihrer Zahlungspflicht entziehen kann. Dies soll an einigen Fragen gezeigt werden, deren Regelung durch das Gesetz in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/539>, abgerufen am 23.07.2024.