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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Poesie und Liziehung

übertragnen Sinne tritt dieses Verhältnis oft ein, woran das dichterische Bild
nicht eigentlich denken läßt -- den Königsbau durch Schutt verunzieren, ver¬
decken, verderben.

Sollte auch die Poesie im Dienste der Erziehung unter dieses Urteil
fallen können? Daran zu denken kann dem nicht nahe liegen, der von der einen
und der andern reine Begriffe hat und für beide die Schätzung, die ihnen gebührt.
Ist nicht vielmehr eine Wahlverwandtschaft da? Welche Aufgabe darf edler heißen,
als die Hinbildung des reifenden Geschlechts zu den höchsten Werten, die das
gereifte zu gewinnen und zu fühlen vermochte? und wo anders ist das reinste
Gold dieses Empfindens niedergelegt, als in der Poesie? Wir wollen es uns
nur von vornherein klar machen und es uns auch hinterher nicht ausreden
lassen, daß die beiden Begriffe (deren unerlüuterte Zusammenstellung in unserm
Thema immerhin ein wenig befremden mag) einander nicht innerlich fremd sind,
sondern viel mit einander zu thun haben, viel für einander bedeuten. Fühlen
wird das übrigens jeder, der sich überhaupt zum Fühlen der Dinge erhebt.

Aber eine andre Frage ist es, ob hier nicht oft die Wirklichkeit das Bild einer
mangelhaften Beziehung, einer bedauernswerten Art der Dienstbarmachung dar¬
bietet, ob sie nicht in allen vergangnen Zeiten reichlich oft dergleichen dargeboten
hat. Ju allen vergangnen Zeiten -- das nun freilich nicht wörtlich. Sicher¬
lich lag ein Festgeber dieser Art nicht immer gleich nahe. Was aus einer
Begeisterung geboren ist, die nicht bloß den Einzelnen in gewissen Stunden
emporträgt, sondern die mit ihm viele erfüllt und durchdringt, sein Volk, die
Genossen seiner Sprache und die Teilnehmer seiner Gefühle, das wirkt auch
eine Zeit laug mindestens, vielleicht eine geraume Periode nationalen Lebens
hindurch, so unmittelbar und voll, daß keine klügelnde Beleuchtung und
bedachte Ausnutzung sich regt und aufkommt. Dem Zeitalter des thatensrohen
Heldentums folgt unmittelbar immer noch ein solches der vollen und unmittel¬
baren Resonanz. Homers Gesänge standen in Griechenland jahrhundertelang
im Mittelpunkt der gesamten Jugendbildung; jedes neu aufwachsende Geschlecht
nahm sie in sich auf, hörend oder lesend, einprägend, übend, rentierend. Seine
Dichtung wird mit Recht als Jungbruuueu bezeichnet, ans dem griechisches
Fühlen sich immer neu erzeugte. Auch anderswo tönt selbstverständlich der
Sang von Großthaten der Väter vor allem stark an die Sinne und Herzen
des jungen Geschlechts: hier muß die Empfänglichkeit am größten sein, hier
ist das Bedürfnis des Nachempsindens am lebendigsten. Das war so beim
germanischen Heldengesang wie bei denen so mancher andern Völker. Noch zur
ritterlichen und also nicht etwa naiven, sondern wohlbedachten und geregelten
Erziehung gehörte auch das Kennenlernen von allerlei Aventiuren; mit Saiten¬
spiel und Gesang selber auch dichten zu lernen war bekanntlich ein besonders
schönes Ziel. Von einem so allgemeinen aktiven Triebe hören wir bei den
Griechen kaum; wohl geht, wer sich zum Dichter berufen fühlt, hin zu trinken


Poesie und Liziehung

übertragnen Sinne tritt dieses Verhältnis oft ein, woran das dichterische Bild
nicht eigentlich denken läßt — den Königsbau durch Schutt verunzieren, ver¬
decken, verderben.

Sollte auch die Poesie im Dienste der Erziehung unter dieses Urteil
fallen können? Daran zu denken kann dem nicht nahe liegen, der von der einen
und der andern reine Begriffe hat und für beide die Schätzung, die ihnen gebührt.
Ist nicht vielmehr eine Wahlverwandtschaft da? Welche Aufgabe darf edler heißen,
als die Hinbildung des reifenden Geschlechts zu den höchsten Werten, die das
gereifte zu gewinnen und zu fühlen vermochte? und wo anders ist das reinste
Gold dieses Empfindens niedergelegt, als in der Poesie? Wir wollen es uns
nur von vornherein klar machen und es uns auch hinterher nicht ausreden
lassen, daß die beiden Begriffe (deren unerlüuterte Zusammenstellung in unserm
Thema immerhin ein wenig befremden mag) einander nicht innerlich fremd sind,
sondern viel mit einander zu thun haben, viel für einander bedeuten. Fühlen
wird das übrigens jeder, der sich überhaupt zum Fühlen der Dinge erhebt.

Aber eine andre Frage ist es, ob hier nicht oft die Wirklichkeit das Bild einer
mangelhaften Beziehung, einer bedauernswerten Art der Dienstbarmachung dar¬
bietet, ob sie nicht in allen vergangnen Zeiten reichlich oft dergleichen dargeboten
hat. Ju allen vergangnen Zeiten — das nun freilich nicht wörtlich. Sicher¬
lich lag ein Festgeber dieser Art nicht immer gleich nahe. Was aus einer
Begeisterung geboren ist, die nicht bloß den Einzelnen in gewissen Stunden
emporträgt, sondern die mit ihm viele erfüllt und durchdringt, sein Volk, die
Genossen seiner Sprache und die Teilnehmer seiner Gefühle, das wirkt auch
eine Zeit laug mindestens, vielleicht eine geraume Periode nationalen Lebens
hindurch, so unmittelbar und voll, daß keine klügelnde Beleuchtung und
bedachte Ausnutzung sich regt und aufkommt. Dem Zeitalter des thatensrohen
Heldentums folgt unmittelbar immer noch ein solches der vollen und unmittel¬
baren Resonanz. Homers Gesänge standen in Griechenland jahrhundertelang
im Mittelpunkt der gesamten Jugendbildung; jedes neu aufwachsende Geschlecht
nahm sie in sich auf, hörend oder lesend, einprägend, übend, rentierend. Seine
Dichtung wird mit Recht als Jungbruuueu bezeichnet, ans dem griechisches
Fühlen sich immer neu erzeugte. Auch anderswo tönt selbstverständlich der
Sang von Großthaten der Väter vor allem stark an die Sinne und Herzen
des jungen Geschlechts: hier muß die Empfänglichkeit am größten sein, hier
ist das Bedürfnis des Nachempsindens am lebendigsten. Das war so beim
germanischen Heldengesang wie bei denen so mancher andern Völker. Noch zur
ritterlichen und also nicht etwa naiven, sondern wohlbedachten und geregelten
Erziehung gehörte auch das Kennenlernen von allerlei Aventiuren; mit Saiten¬
spiel und Gesang selber auch dichten zu lernen war bekanntlich ein besonders
schönes Ziel. Von einem so allgemeinen aktiven Triebe hören wir bei den
Griechen kaum; wohl geht, wer sich zum Dichter berufen fühlt, hin zu trinken


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[0389] Poesie und Liziehung übertragnen Sinne tritt dieses Verhältnis oft ein, woran das dichterische Bild nicht eigentlich denken läßt — den Königsbau durch Schutt verunzieren, ver¬ decken, verderben. Sollte auch die Poesie im Dienste der Erziehung unter dieses Urteil fallen können? Daran zu denken kann dem nicht nahe liegen, der von der einen und der andern reine Begriffe hat und für beide die Schätzung, die ihnen gebührt. Ist nicht vielmehr eine Wahlverwandtschaft da? Welche Aufgabe darf edler heißen, als die Hinbildung des reifenden Geschlechts zu den höchsten Werten, die das gereifte zu gewinnen und zu fühlen vermochte? und wo anders ist das reinste Gold dieses Empfindens niedergelegt, als in der Poesie? Wir wollen es uns nur von vornherein klar machen und es uns auch hinterher nicht ausreden lassen, daß die beiden Begriffe (deren unerlüuterte Zusammenstellung in unserm Thema immerhin ein wenig befremden mag) einander nicht innerlich fremd sind, sondern viel mit einander zu thun haben, viel für einander bedeuten. Fühlen wird das übrigens jeder, der sich überhaupt zum Fühlen der Dinge erhebt. Aber eine andre Frage ist es, ob hier nicht oft die Wirklichkeit das Bild einer mangelhaften Beziehung, einer bedauernswerten Art der Dienstbarmachung dar¬ bietet, ob sie nicht in allen vergangnen Zeiten reichlich oft dergleichen dargeboten hat. Ju allen vergangnen Zeiten — das nun freilich nicht wörtlich. Sicher¬ lich lag ein Festgeber dieser Art nicht immer gleich nahe. Was aus einer Begeisterung geboren ist, die nicht bloß den Einzelnen in gewissen Stunden emporträgt, sondern die mit ihm viele erfüllt und durchdringt, sein Volk, die Genossen seiner Sprache und die Teilnehmer seiner Gefühle, das wirkt auch eine Zeit laug mindestens, vielleicht eine geraume Periode nationalen Lebens hindurch, so unmittelbar und voll, daß keine klügelnde Beleuchtung und bedachte Ausnutzung sich regt und aufkommt. Dem Zeitalter des thatensrohen Heldentums folgt unmittelbar immer noch ein solches der vollen und unmittel¬ baren Resonanz. Homers Gesänge standen in Griechenland jahrhundertelang im Mittelpunkt der gesamten Jugendbildung; jedes neu aufwachsende Geschlecht nahm sie in sich auf, hörend oder lesend, einprägend, übend, rentierend. Seine Dichtung wird mit Recht als Jungbruuueu bezeichnet, ans dem griechisches Fühlen sich immer neu erzeugte. Auch anderswo tönt selbstverständlich der Sang von Großthaten der Väter vor allem stark an die Sinne und Herzen des jungen Geschlechts: hier muß die Empfänglichkeit am größten sein, hier ist das Bedürfnis des Nachempsindens am lebendigsten. Das war so beim germanischen Heldengesang wie bei denen so mancher andern Völker. Noch zur ritterlichen und also nicht etwa naiven, sondern wohlbedachten und geregelten Erziehung gehörte auch das Kennenlernen von allerlei Aventiuren; mit Saiten¬ spiel und Gesang selber auch dichten zu lernen war bekanntlich ein besonders schönes Ziel. Von einem so allgemeinen aktiven Triebe hören wir bei den Griechen kaum; wohl geht, wer sich zum Dichter berufen fühlt, hin zu trinken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/389>, abgerufen am 23.07.2024.