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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Zur Reform des Personentarifs der preußischen Eisenbahnen

5 Kilometern hin und zurück fährt, nur drei Viertel des normalen Fahrpreises
zu zahlen braucht. Wo bleibt da die Konsequenz und die Gerechtigkeit? Also
auch hier kein zureichender Grund.

Eine Möglichkeit ist noch vorhanden, aber nicht denkbar. Sollte die
Eisenbahnverwaltung grundsätzlich von denen höhere Preise nehmen, die nicht
aus freien Stücken, sondern nur unter einem gewissen Zwange reisen? Wer
seinen Wohnort auf Tage oder wenige Wochen verläßt, mit der Absicht wieder
zurückzukehren, der -- so könnte man annehmen -- hat es in der Hand, ob
er reisen will oder nicht. Er reist nur, wenn er die Mittel dazu hat, und
nur so lange und so weit als seine Mittel reichen. Wer aber seinen Wohnort
verläßt, um gar nicht oder erst nach langer Zeit zurückzukehren, der thut es
nicht zum Vergnügen, nicht um Erholung zu suchen, sondern einem gewissen
Zwange gehorchend, er ist in einer Notlage, die ihm keine Wahl läßt, er darf
nicht fragen, was es kostet, sondern er muß bezahlen, was man fordert. Aber
es ist nicht denkbar, daß sich die Eisenbahnverwaltung von dem Grundsatze
leiten ließe: Wir ermäßigen die Preise denen, die das Reisen nicht nötig
haben, damit sie uns kommen, wir fordern aber volle Preise von denen, die
unter allen Umständen reisen müssen, die uns also kommen müssen, sie mögen
wollen oder nicht. Dies wäre eine Ausbeutung der Notlage zur Gewinnung
eines Vermögensvorteils für den Eisenbahnfiskus, ein Grundsatz, der einer
Behörde, wie die staatliche Eisenbahnverwaltung, so unwürdig wäre, daß man
im Ernste nicht daran denken kann, in ihm das Prinzip der Fahrpreisermäßi¬
gungen zu suchen, ganz abgesehen davon, daß das bestehende System die kon¬
sequente Anwendung dieses Grundsatzes vermissen lassen würde. Denn von
den Reisenden, die in der Ausübung ihres Berufs oder Gewerbes reisen, die
also der Eisenbahnverwaltung gegenüber ebenfalls in der Notlage sind, daß
sie sich allen Bedingungen fügen müssen, benutzen wohl die meisten die
Fahrpreisermäßigungen, die mit Rückfahrkarten oder Fahrscheinheften ver¬
bunden sind.

Wir sehen also, das einzige konsequent durchgeführte Prinzip für Fahr¬
preisermäßigungen ist: sie werden gewährt, wenn der Reisende innerhalb einer
bestimmten Frist an den Ausgangspunkt der Reise zurückkehrt. Aber ein ver¬
nünftiger Grund hierfür ist nicht zu entdecken, und in der Ausführung giebt
es eine Menge von Verschiedenheiten hinsichtlich der Giltigkeitsdauer der Fahrt¬
ausweise, der Vergünstigung des Freigepäcks u. a., für die wieder ein rechter
Grund nicht einzusehen ist. Die Sache hat, weil man sich immer vor neuen
Ausfassungen gescheut hat und immer in den alten Geleisen geblieben ist, nur
von Zeit zu Zeit hier und da etwas anflickend, eine Entwicklung genommen,
daß das, was jetzt als Personentarif gilt, als Ausfluß reiner Willkür erscheint,
und daß die Einzelheiten die ihnen ursprünglich vielleicht zukommende Berech¬
tigung verloren haben. Ist dies aber der Fall, so muß das ungerechte Prinzip
bei einer Reform der Tarife verschwinden und ein andres an seine Stelle


Zur Reform des Personentarifs der preußischen Eisenbahnen

5 Kilometern hin und zurück fährt, nur drei Viertel des normalen Fahrpreises
zu zahlen braucht. Wo bleibt da die Konsequenz und die Gerechtigkeit? Also
auch hier kein zureichender Grund.

Eine Möglichkeit ist noch vorhanden, aber nicht denkbar. Sollte die
Eisenbahnverwaltung grundsätzlich von denen höhere Preise nehmen, die nicht
aus freien Stücken, sondern nur unter einem gewissen Zwange reisen? Wer
seinen Wohnort auf Tage oder wenige Wochen verläßt, mit der Absicht wieder
zurückzukehren, der — so könnte man annehmen — hat es in der Hand, ob
er reisen will oder nicht. Er reist nur, wenn er die Mittel dazu hat, und
nur so lange und so weit als seine Mittel reichen. Wer aber seinen Wohnort
verläßt, um gar nicht oder erst nach langer Zeit zurückzukehren, der thut es
nicht zum Vergnügen, nicht um Erholung zu suchen, sondern einem gewissen
Zwange gehorchend, er ist in einer Notlage, die ihm keine Wahl läßt, er darf
nicht fragen, was es kostet, sondern er muß bezahlen, was man fordert. Aber
es ist nicht denkbar, daß sich die Eisenbahnverwaltung von dem Grundsatze
leiten ließe: Wir ermäßigen die Preise denen, die das Reisen nicht nötig
haben, damit sie uns kommen, wir fordern aber volle Preise von denen, die
unter allen Umständen reisen müssen, die uns also kommen müssen, sie mögen
wollen oder nicht. Dies wäre eine Ausbeutung der Notlage zur Gewinnung
eines Vermögensvorteils für den Eisenbahnfiskus, ein Grundsatz, der einer
Behörde, wie die staatliche Eisenbahnverwaltung, so unwürdig wäre, daß man
im Ernste nicht daran denken kann, in ihm das Prinzip der Fahrpreisermäßi¬
gungen zu suchen, ganz abgesehen davon, daß das bestehende System die kon¬
sequente Anwendung dieses Grundsatzes vermissen lassen würde. Denn von
den Reisenden, die in der Ausübung ihres Berufs oder Gewerbes reisen, die
also der Eisenbahnverwaltung gegenüber ebenfalls in der Notlage sind, daß
sie sich allen Bedingungen fügen müssen, benutzen wohl die meisten die
Fahrpreisermäßigungen, die mit Rückfahrkarten oder Fahrscheinheften ver¬
bunden sind.

Wir sehen also, das einzige konsequent durchgeführte Prinzip für Fahr¬
preisermäßigungen ist: sie werden gewährt, wenn der Reisende innerhalb einer
bestimmten Frist an den Ausgangspunkt der Reise zurückkehrt. Aber ein ver¬
nünftiger Grund hierfür ist nicht zu entdecken, und in der Ausführung giebt
es eine Menge von Verschiedenheiten hinsichtlich der Giltigkeitsdauer der Fahrt¬
ausweise, der Vergünstigung des Freigepäcks u. a., für die wieder ein rechter
Grund nicht einzusehen ist. Die Sache hat, weil man sich immer vor neuen
Ausfassungen gescheut hat und immer in den alten Geleisen geblieben ist, nur
von Zeit zu Zeit hier und da etwas anflickend, eine Entwicklung genommen,
daß das, was jetzt als Personentarif gilt, als Ausfluß reiner Willkür erscheint,
und daß die Einzelheiten die ihnen ursprünglich vielleicht zukommende Berech¬
tigung verloren haben. Ist dies aber der Fall, so muß das ungerechte Prinzip
bei einer Reform der Tarife verschwinden und ein andres an seine Stelle


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[0376] Zur Reform des Personentarifs der preußischen Eisenbahnen 5 Kilometern hin und zurück fährt, nur drei Viertel des normalen Fahrpreises zu zahlen braucht. Wo bleibt da die Konsequenz und die Gerechtigkeit? Also auch hier kein zureichender Grund. Eine Möglichkeit ist noch vorhanden, aber nicht denkbar. Sollte die Eisenbahnverwaltung grundsätzlich von denen höhere Preise nehmen, die nicht aus freien Stücken, sondern nur unter einem gewissen Zwange reisen? Wer seinen Wohnort auf Tage oder wenige Wochen verläßt, mit der Absicht wieder zurückzukehren, der — so könnte man annehmen — hat es in der Hand, ob er reisen will oder nicht. Er reist nur, wenn er die Mittel dazu hat, und nur so lange und so weit als seine Mittel reichen. Wer aber seinen Wohnort verläßt, um gar nicht oder erst nach langer Zeit zurückzukehren, der thut es nicht zum Vergnügen, nicht um Erholung zu suchen, sondern einem gewissen Zwange gehorchend, er ist in einer Notlage, die ihm keine Wahl läßt, er darf nicht fragen, was es kostet, sondern er muß bezahlen, was man fordert. Aber es ist nicht denkbar, daß sich die Eisenbahnverwaltung von dem Grundsatze leiten ließe: Wir ermäßigen die Preise denen, die das Reisen nicht nötig haben, damit sie uns kommen, wir fordern aber volle Preise von denen, die unter allen Umständen reisen müssen, die uns also kommen müssen, sie mögen wollen oder nicht. Dies wäre eine Ausbeutung der Notlage zur Gewinnung eines Vermögensvorteils für den Eisenbahnfiskus, ein Grundsatz, der einer Behörde, wie die staatliche Eisenbahnverwaltung, so unwürdig wäre, daß man im Ernste nicht daran denken kann, in ihm das Prinzip der Fahrpreisermäßi¬ gungen zu suchen, ganz abgesehen davon, daß das bestehende System die kon¬ sequente Anwendung dieses Grundsatzes vermissen lassen würde. Denn von den Reisenden, die in der Ausübung ihres Berufs oder Gewerbes reisen, die also der Eisenbahnverwaltung gegenüber ebenfalls in der Notlage sind, daß sie sich allen Bedingungen fügen müssen, benutzen wohl die meisten die Fahrpreisermäßigungen, die mit Rückfahrkarten oder Fahrscheinheften ver¬ bunden sind. Wir sehen also, das einzige konsequent durchgeführte Prinzip für Fahr¬ preisermäßigungen ist: sie werden gewährt, wenn der Reisende innerhalb einer bestimmten Frist an den Ausgangspunkt der Reise zurückkehrt. Aber ein ver¬ nünftiger Grund hierfür ist nicht zu entdecken, und in der Ausführung giebt es eine Menge von Verschiedenheiten hinsichtlich der Giltigkeitsdauer der Fahrt¬ ausweise, der Vergünstigung des Freigepäcks u. a., für die wieder ein rechter Grund nicht einzusehen ist. Die Sache hat, weil man sich immer vor neuen Ausfassungen gescheut hat und immer in den alten Geleisen geblieben ist, nur von Zeit zu Zeit hier und da etwas anflickend, eine Entwicklung genommen, daß das, was jetzt als Personentarif gilt, als Ausfluß reiner Willkür erscheint, und daß die Einzelheiten die ihnen ursprünglich vielleicht zukommende Berech¬ tigung verloren haben. Ist dies aber der Fall, so muß das ungerechte Prinzip bei einer Reform der Tarife verschwinden und ein andres an seine Stelle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/376>, abgerufen am 23.07.2024.