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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Reinhold

Empfindung ab und verleiten zu andern Mißhandlungen, die nicht durch jenen
Zweck veranlaßt und einigermaßen entschuldigt werden; es bildet sich bei rohen
Eltern die Gewohnheit aus, an einem wehrlosen Kinde den Unmut über ihre
Leiden und Entbehrungen und den Zorn über sein als Last empfundnes Dasein
auszulassen, und wenn sich dann vollends die Grausamkeit mit der Wollust
verbindet, gebiert sie Ruchlosigkeiten, von denen die heidnischen Griechen nichts
gewußt haben. In einem Konkurrenzkampf endlich, der jeden in einen Interessen-
konflikt mit jedem verwickelt, entschwindet die Thatsache, daß die Menschen von
Natur eiuer des andern Ergänzung und Helfer und einander unentbehrlich sind,
mit der Zeit vollständig den Blicken; die Wahrheit, daß das höchste Glück in
der Sorge für andre besteht, wird vergessen, man gewöhnt sich daran, in allen
Menschen Feinde zu sehen, und die natürliche Sympathie, wofern sie nicht ganz
verloren geht, schrumpft dermaßen ein, daß sie nur die allernächsten Verwandten
umfaßt. Alle diese schlechten Gewohnheiten und Neigungen werden nun durch
Vererbung und Erziehung fortgepflanzt und durch Summierung verstärkt, und
eben darin besteht die Erbsünde.

Die Erlösung aber ist durch Christus gegeben, nicht im theologischen
Sinne und nicht als etwas Fertiges, sondern als eine Offenbarung, die das
Heilmittel aufweist und dazu treibt, es immer wieder aufs neue anzuwenden.
Gott ist als Kind erschienen, und der Mensch gewordne Gott hat in die Mitte
seiner Jünger ein Kind gestellt und gesagt: Wenn ihr nicht werdet wie dieses
Kind, werdet ihr nicht ins Himmelreich eingehn. Nicht ein getauftes Kind
war es, nicht ein Wunderkind, das schon in frühen Jahren die Weltweisheit
eingesogen Hütte, sondern ein ungetauftes, nach dem theologischen Sprachgebrauch
"unerlöstes" und ein durch keine Philosophie und keinen Drill "vergeistigtes"
Judeubüblein; ein Büblein, nicht besser und nicht schlechter als die übrigen
Büblein, die herumstanden, ein Büblein mit einem Worte, wie es Gott der
Herr geschaffen hat. Denn eben darauf kommt es an. Was aus den Händen
des Schöpfers hervorgegangen ist, das ist gut. Das Schlechte an der Gottes-
schöpfnng haben Unwissenheit, Irrtümer und gesellschaftliche Verhältnisse, hat
die Kultur verschuldet. Nicht daß ich die Kultur verachtete oder die Rückkehr
zur Natur im Sinne Rousseaus predigte. Aber jeder Kulturfortschritt erzeugt
Irrtümer, Verwicklungen und Übel, die seinen Wohlthaten das Gleichgewicht
halten, wenn der Mensch nicht aufpaßt, sie sogar überwiegen und die gesunde
Natur, das Göttliche im Menschen, verschütten. Darum bleibt es Aufgabe
jedes Zeitalters, jedes Volkes und jedes Einzelnen, dieses Göttliche, das immer¬
fort verschüttet wird, immerfort wieder auszugraben und dafür zu sorgen, daß
der Kulturfortschritt die Entfaltung und nicht die Verhunzung der Natur be¬
deute. Darin also besteht die Erlösung, von der selbstverständlich nicht die
Rede sein könnte, wenn der Wille, oder was dasselbe ist, die Natur böse
wäre.


Reinhold

Empfindung ab und verleiten zu andern Mißhandlungen, die nicht durch jenen
Zweck veranlaßt und einigermaßen entschuldigt werden; es bildet sich bei rohen
Eltern die Gewohnheit aus, an einem wehrlosen Kinde den Unmut über ihre
Leiden und Entbehrungen und den Zorn über sein als Last empfundnes Dasein
auszulassen, und wenn sich dann vollends die Grausamkeit mit der Wollust
verbindet, gebiert sie Ruchlosigkeiten, von denen die heidnischen Griechen nichts
gewußt haben. In einem Konkurrenzkampf endlich, der jeden in einen Interessen-
konflikt mit jedem verwickelt, entschwindet die Thatsache, daß die Menschen von
Natur eiuer des andern Ergänzung und Helfer und einander unentbehrlich sind,
mit der Zeit vollständig den Blicken; die Wahrheit, daß das höchste Glück in
der Sorge für andre besteht, wird vergessen, man gewöhnt sich daran, in allen
Menschen Feinde zu sehen, und die natürliche Sympathie, wofern sie nicht ganz
verloren geht, schrumpft dermaßen ein, daß sie nur die allernächsten Verwandten
umfaßt. Alle diese schlechten Gewohnheiten und Neigungen werden nun durch
Vererbung und Erziehung fortgepflanzt und durch Summierung verstärkt, und
eben darin besteht die Erbsünde.

Die Erlösung aber ist durch Christus gegeben, nicht im theologischen
Sinne und nicht als etwas Fertiges, sondern als eine Offenbarung, die das
Heilmittel aufweist und dazu treibt, es immer wieder aufs neue anzuwenden.
Gott ist als Kind erschienen, und der Mensch gewordne Gott hat in die Mitte
seiner Jünger ein Kind gestellt und gesagt: Wenn ihr nicht werdet wie dieses
Kind, werdet ihr nicht ins Himmelreich eingehn. Nicht ein getauftes Kind
war es, nicht ein Wunderkind, das schon in frühen Jahren die Weltweisheit
eingesogen Hütte, sondern ein ungetauftes, nach dem theologischen Sprachgebrauch
„unerlöstes" und ein durch keine Philosophie und keinen Drill „vergeistigtes"
Judeubüblein; ein Büblein, nicht besser und nicht schlechter als die übrigen
Büblein, die herumstanden, ein Büblein mit einem Worte, wie es Gott der
Herr geschaffen hat. Denn eben darauf kommt es an. Was aus den Händen
des Schöpfers hervorgegangen ist, das ist gut. Das Schlechte an der Gottes-
schöpfnng haben Unwissenheit, Irrtümer und gesellschaftliche Verhältnisse, hat
die Kultur verschuldet. Nicht daß ich die Kultur verachtete oder die Rückkehr
zur Natur im Sinne Rousseaus predigte. Aber jeder Kulturfortschritt erzeugt
Irrtümer, Verwicklungen und Übel, die seinen Wohlthaten das Gleichgewicht
halten, wenn der Mensch nicht aufpaßt, sie sogar überwiegen und die gesunde
Natur, das Göttliche im Menschen, verschütten. Darum bleibt es Aufgabe
jedes Zeitalters, jedes Volkes und jedes Einzelnen, dieses Göttliche, das immer¬
fort verschüttet wird, immerfort wieder auszugraben und dafür zu sorgen, daß
der Kulturfortschritt die Entfaltung und nicht die Verhunzung der Natur be¬
deute. Darin also besteht die Erlösung, von der selbstverständlich nicht die
Rede sein könnte, wenn der Wille, oder was dasselbe ist, die Natur böse
wäre.


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[0364] Reinhold Empfindung ab und verleiten zu andern Mißhandlungen, die nicht durch jenen Zweck veranlaßt und einigermaßen entschuldigt werden; es bildet sich bei rohen Eltern die Gewohnheit aus, an einem wehrlosen Kinde den Unmut über ihre Leiden und Entbehrungen und den Zorn über sein als Last empfundnes Dasein auszulassen, und wenn sich dann vollends die Grausamkeit mit der Wollust verbindet, gebiert sie Ruchlosigkeiten, von denen die heidnischen Griechen nichts gewußt haben. In einem Konkurrenzkampf endlich, der jeden in einen Interessen- konflikt mit jedem verwickelt, entschwindet die Thatsache, daß die Menschen von Natur eiuer des andern Ergänzung und Helfer und einander unentbehrlich sind, mit der Zeit vollständig den Blicken; die Wahrheit, daß das höchste Glück in der Sorge für andre besteht, wird vergessen, man gewöhnt sich daran, in allen Menschen Feinde zu sehen, und die natürliche Sympathie, wofern sie nicht ganz verloren geht, schrumpft dermaßen ein, daß sie nur die allernächsten Verwandten umfaßt. Alle diese schlechten Gewohnheiten und Neigungen werden nun durch Vererbung und Erziehung fortgepflanzt und durch Summierung verstärkt, und eben darin besteht die Erbsünde. Die Erlösung aber ist durch Christus gegeben, nicht im theologischen Sinne und nicht als etwas Fertiges, sondern als eine Offenbarung, die das Heilmittel aufweist und dazu treibt, es immer wieder aufs neue anzuwenden. Gott ist als Kind erschienen, und der Mensch gewordne Gott hat in die Mitte seiner Jünger ein Kind gestellt und gesagt: Wenn ihr nicht werdet wie dieses Kind, werdet ihr nicht ins Himmelreich eingehn. Nicht ein getauftes Kind war es, nicht ein Wunderkind, das schon in frühen Jahren die Weltweisheit eingesogen Hütte, sondern ein ungetauftes, nach dem theologischen Sprachgebrauch „unerlöstes" und ein durch keine Philosophie und keinen Drill „vergeistigtes" Judeubüblein; ein Büblein, nicht besser und nicht schlechter als die übrigen Büblein, die herumstanden, ein Büblein mit einem Worte, wie es Gott der Herr geschaffen hat. Denn eben darauf kommt es an. Was aus den Händen des Schöpfers hervorgegangen ist, das ist gut. Das Schlechte an der Gottes- schöpfnng haben Unwissenheit, Irrtümer und gesellschaftliche Verhältnisse, hat die Kultur verschuldet. Nicht daß ich die Kultur verachtete oder die Rückkehr zur Natur im Sinne Rousseaus predigte. Aber jeder Kulturfortschritt erzeugt Irrtümer, Verwicklungen und Übel, die seinen Wohlthaten das Gleichgewicht halten, wenn der Mensch nicht aufpaßt, sie sogar überwiegen und die gesunde Natur, das Göttliche im Menschen, verschütten. Darum bleibt es Aufgabe jedes Zeitalters, jedes Volkes und jedes Einzelnen, dieses Göttliche, das immer¬ fort verschüttet wird, immerfort wieder auszugraben und dafür zu sorgen, daß der Kulturfortschritt die Entfaltung und nicht die Verhunzung der Natur be¬ deute. Darin also besteht die Erlösung, von der selbstverständlich nicht die Rede sein könnte, wenn der Wille, oder was dasselbe ist, die Natur böse wäre.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/364>, abgerufen am 23.07.2024.