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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Hansestädte und Kolonialpolitik

s ist ein unausrottbarer Irrtum, daß sich jeder für das, was
ihm anscheinend am nächsten liegt, auch am stärksten interessieren
müsse; die tägliche Erfahrung beweist das Gegenteil. Wäre die
Meinung richtig, dann müßte es z. V. keine leidenschaftlichem
Alpentouristen geben als die Schweizer, aber die Liste ruhmvoll
abgestürzter "Kraxler" weist, von berufsmäßigen Führern natürlich abgesehen,
unerwartet wenig helvetische Namen ans. Über die Kunstschätze und sonstige"
Genüsse Berlins weiß der Eingeborne sicher weniger Bescheid, als der seit drei
Tagen anwesende Vetter ans Meseritz, und wer sich über fremde Länder unter¬
richten will, soll um Himmels willen keinen Seemann fragen -- von dem erfährt
er zuverlässig nichts oder wenigstens nichts Gutes.

In der Politik ist es nicht anders. So oft die Flotte verstärkt oder eine
neue Kolonie mit der deutschen Flag-ge beglückt wurde, dachte der harmlose
Binnenländer: Wie werden sich die Küstenbewohner, wie Werdensich vor allem
die lieben Hansestädte freuen! Und wenn man ihm dann sagt, daß nirgends
der koloniale Gedanke kühler aufgenommen worden ist als in Hamburg und
Bremen, daß sich in beideu Städten lange Zeit nicht einmal die bescheidenste
Gruppe der Deutschen Kolvnialgesellschaft halten konnte, daß der Spott über
Kolonialbestrebungen dort fast zum gute" Ton gehörte, dann steht er vor einem
Rätsel, das ihm unlösbar scheint. Und doch handelt es sich zum guten Teil
um nichts andres als um die alltägliche Erfahrung, mit der ich diese kleine
Betrachtung eröffnet habe. Dem Hausenten mißfällt die Kolonialpolitik, gerade
weil sie ihm zu nahe gerückt ist, weil ihr der verlockende blaue Duft der Ferne
sehlt, und vielleicht auch, weil er ihre großen und hoffnungsvollen Züge über
den störenden Einzelheiten übersieht.


Gnnzboten I I3W


Hansestädte und Kolonialpolitik

s ist ein unausrottbarer Irrtum, daß sich jeder für das, was
ihm anscheinend am nächsten liegt, auch am stärksten interessieren
müsse; die tägliche Erfahrung beweist das Gegenteil. Wäre die
Meinung richtig, dann müßte es z. V. keine leidenschaftlichem
Alpentouristen geben als die Schweizer, aber die Liste ruhmvoll
abgestürzter „Kraxler" weist, von berufsmäßigen Führern natürlich abgesehen,
unerwartet wenig helvetische Namen ans. Über die Kunstschätze und sonstige»
Genüsse Berlins weiß der Eingeborne sicher weniger Bescheid, als der seit drei
Tagen anwesende Vetter ans Meseritz, und wer sich über fremde Länder unter¬
richten will, soll um Himmels willen keinen Seemann fragen — von dem erfährt
er zuverlässig nichts oder wenigstens nichts Gutes.

In der Politik ist es nicht anders. So oft die Flotte verstärkt oder eine
neue Kolonie mit der deutschen Flag-ge beglückt wurde, dachte der harmlose
Binnenländer: Wie werden sich die Küstenbewohner, wie Werdensich vor allem
die lieben Hansestädte freuen! Und wenn man ihm dann sagt, daß nirgends
der koloniale Gedanke kühler aufgenommen worden ist als in Hamburg und
Bremen, daß sich in beideu Städten lange Zeit nicht einmal die bescheidenste
Gruppe der Deutschen Kolvnialgesellschaft halten konnte, daß der Spott über
Kolonialbestrebungen dort fast zum gute» Ton gehörte, dann steht er vor einem
Rätsel, das ihm unlösbar scheint. Und doch handelt es sich zum guten Teil
um nichts andres als um die alltägliche Erfahrung, mit der ich diese kleine
Betrachtung eröffnet habe. Dem Hausenten mißfällt die Kolonialpolitik, gerade
weil sie ihm zu nahe gerückt ist, weil ihr der verlockende blaue Duft der Ferne
sehlt, und vielleicht auch, weil er ihre großen und hoffnungsvollen Züge über
den störenden Einzelheiten übersieht.


Gnnzboten I I3W
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[0353] [Abbildung] Hansestädte und Kolonialpolitik s ist ein unausrottbarer Irrtum, daß sich jeder für das, was ihm anscheinend am nächsten liegt, auch am stärksten interessieren müsse; die tägliche Erfahrung beweist das Gegenteil. Wäre die Meinung richtig, dann müßte es z. V. keine leidenschaftlichem Alpentouristen geben als die Schweizer, aber die Liste ruhmvoll abgestürzter „Kraxler" weist, von berufsmäßigen Führern natürlich abgesehen, unerwartet wenig helvetische Namen ans. Über die Kunstschätze und sonstige» Genüsse Berlins weiß der Eingeborne sicher weniger Bescheid, als der seit drei Tagen anwesende Vetter ans Meseritz, und wer sich über fremde Länder unter¬ richten will, soll um Himmels willen keinen Seemann fragen — von dem erfährt er zuverlässig nichts oder wenigstens nichts Gutes. In der Politik ist es nicht anders. So oft die Flotte verstärkt oder eine neue Kolonie mit der deutschen Flag-ge beglückt wurde, dachte der harmlose Binnenländer: Wie werden sich die Küstenbewohner, wie Werdensich vor allem die lieben Hansestädte freuen! Und wenn man ihm dann sagt, daß nirgends der koloniale Gedanke kühler aufgenommen worden ist als in Hamburg und Bremen, daß sich in beideu Städten lange Zeit nicht einmal die bescheidenste Gruppe der Deutschen Kolvnialgesellschaft halten konnte, daß der Spott über Kolonialbestrebungen dort fast zum gute» Ton gehörte, dann steht er vor einem Rätsel, das ihm unlösbar scheint. Und doch handelt es sich zum guten Teil um nichts andres als um die alltägliche Erfahrung, mit der ich diese kleine Betrachtung eröffnet habe. Dem Hausenten mißfällt die Kolonialpolitik, gerade weil sie ihm zu nahe gerückt ist, weil ihr der verlockende blaue Duft der Ferne sehlt, und vielleicht auch, weil er ihre großen und hoffnungsvollen Züge über den störenden Einzelheiten übersieht. Gnnzboten I I3W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/353>, abgerufen am 23.07.2024.