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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die imperialistische Bewegung in England

heute eins England nach Kanada, Anstralien oder dem Kaplande gehen.
Vermöge der großen technischen Fortschritte unsrer Zeit, der Naschheit der'
Verbindung nach allen Teilen der Welt sei es heute möglich, daß weitaus¬
gedehnte Reiche doch eine Einheit darstellten, und der Gedanke an eine parla¬
mentarische Vertretung der Kolonien, der Burke wegen der äußern Schwierig¬
keiten der Sache lächerlich erschienen sei, sei heute nicht mehr lächerlich. Das
Problem, an dessen Lösbarkeit man in England verzweifle, sei thatsächlich
anderswo gelöst worden.

Die Vereinigten Staaten, sagt Seeley, haben gezeigt, wie ein Staat einen
fortwährenden Auswauderungsstrom aussenden kann, wie von einem be¬
siedelten Streifen am Atlantischen Ozean ein ganzer Kontinent bis zum Stillen
Ozean bevölkert werden nud doch nie der Zweifel entstehen kann, ob diese
entfernten Ansiedlungen nicht bald ihre Unabhängigkeit beanspruchen, oder ob
sie es sich gefallen lassen werden, zum Norden des Ganzen besteuert zu werden.
Der Fehler liegt darin, daß man unter England nur Großbritannien mit
seiner Bevölkerung von etlichen dreißig Millionen versteht. Man darf in
den Kolonien nicht Besitzungen, sondern muß in ihnen Teile Englands sehen
und mit dieser Ansicht Ernst machen. "Wir müssen aufhören zu denken, daß
Auswnndrer, wenn sie in die Kolonien gehen, England verlassen oder für
England verloren sind. Wir müssen aufhören zu denken, daß die Geschichte
Englands die Geschichte des Parlaments ist, das in Westminster tagt, und
daß Angelegenheiten, die dort nicht erörtert werden, nicht zur englischen Ge¬
schichte gehören können. Wenn wir uns gewöhnt haben, das ganze Imperium
zusammen zu betrachten und alles England zu nennen, werden wir sehen, daß
hier ebenfalls Vereinigte Staaten sind. Hier ist ebenfalls el" großes gleich¬
artiges Volk, eins in Blut, Sprache, Religion und Gesetzen, aber über einen
grenzenlosen Raum verstreut. Allerdings hat es, wenn es auch durch starke
moralische Bande zusammengehalten wird, nichts, was eine Verfassung genannt
werden kann, kein Shstcm, das fähig scheint, einem harten Anprall zu wider¬
stehe". Wenn mau aber geneigt ist, zu zweifeln, ob ein System erdacht werden
kau", fähig, so weit von einander entfernte Gemeinschaften zusammenzuhalten,
dann ist es Zeit, sich an die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika
Zu erinnern."

Was so als möglich nachgewiesen wird, ist nach Seeley auf der andern
Seite von dringender Wichtigkeit. "Denn dieselben Erfindungen, die aus¬
gedehnte politische Vereinigungen möglich machen, wirken dahin, daß Staaten
von den alten Größenverhältnissen unsicher, bedeutungslos nud solche zweiten
Ranges werden- Halten die Bereinigten Staaten und Nußland noch fünfzig
^"hre zusammen, so werden am Ende dieser Zeit solche alten europäischen
Staaten wie Frankreich und Deutschland ganz zwerghaft erscheinen und in
zweite Klasse hinabsinken. Dasselbe wird mit England geschehen, wenn


Die imperialistische Bewegung in England

heute eins England nach Kanada, Anstralien oder dem Kaplande gehen.
Vermöge der großen technischen Fortschritte unsrer Zeit, der Naschheit der'
Verbindung nach allen Teilen der Welt sei es heute möglich, daß weitaus¬
gedehnte Reiche doch eine Einheit darstellten, und der Gedanke an eine parla¬
mentarische Vertretung der Kolonien, der Burke wegen der äußern Schwierig¬
keiten der Sache lächerlich erschienen sei, sei heute nicht mehr lächerlich. Das
Problem, an dessen Lösbarkeit man in England verzweifle, sei thatsächlich
anderswo gelöst worden.

Die Vereinigten Staaten, sagt Seeley, haben gezeigt, wie ein Staat einen
fortwährenden Auswauderungsstrom aussenden kann, wie von einem be¬
siedelten Streifen am Atlantischen Ozean ein ganzer Kontinent bis zum Stillen
Ozean bevölkert werden nud doch nie der Zweifel entstehen kann, ob diese
entfernten Ansiedlungen nicht bald ihre Unabhängigkeit beanspruchen, oder ob
sie es sich gefallen lassen werden, zum Norden des Ganzen besteuert zu werden.
Der Fehler liegt darin, daß man unter England nur Großbritannien mit
seiner Bevölkerung von etlichen dreißig Millionen versteht. Man darf in
den Kolonien nicht Besitzungen, sondern muß in ihnen Teile Englands sehen
und mit dieser Ansicht Ernst machen. „Wir müssen aufhören zu denken, daß
Auswnndrer, wenn sie in die Kolonien gehen, England verlassen oder für
England verloren sind. Wir müssen aufhören zu denken, daß die Geschichte
Englands die Geschichte des Parlaments ist, das in Westminster tagt, und
daß Angelegenheiten, die dort nicht erörtert werden, nicht zur englischen Ge¬
schichte gehören können. Wenn wir uns gewöhnt haben, das ganze Imperium
zusammen zu betrachten und alles England zu nennen, werden wir sehen, daß
hier ebenfalls Vereinigte Staaten sind. Hier ist ebenfalls el» großes gleich¬
artiges Volk, eins in Blut, Sprache, Religion und Gesetzen, aber über einen
grenzenlosen Raum verstreut. Allerdings hat es, wenn es auch durch starke
moralische Bande zusammengehalten wird, nichts, was eine Verfassung genannt
werden kann, kein Shstcm, das fähig scheint, einem harten Anprall zu wider¬
stehe». Wenn mau aber geneigt ist, zu zweifeln, ob ein System erdacht werden
kau», fähig, so weit von einander entfernte Gemeinschaften zusammenzuhalten,
dann ist es Zeit, sich an die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika
Zu erinnern."

Was so als möglich nachgewiesen wird, ist nach Seeley auf der andern
Seite von dringender Wichtigkeit. „Denn dieselben Erfindungen, die aus¬
gedehnte politische Vereinigungen möglich machen, wirken dahin, daß Staaten
von den alten Größenverhältnissen unsicher, bedeutungslos nud solche zweiten
Ranges werden- Halten die Bereinigten Staaten und Nußland noch fünfzig
^"hre zusammen, so werden am Ende dieser Zeit solche alten europäischen
Staaten wie Frankreich und Deutschland ganz zwerghaft erscheinen und in
zweite Klasse hinabsinken. Dasselbe wird mit England geschehen, wenn


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[0029] Die imperialistische Bewegung in England heute eins England nach Kanada, Anstralien oder dem Kaplande gehen. Vermöge der großen technischen Fortschritte unsrer Zeit, der Naschheit der' Verbindung nach allen Teilen der Welt sei es heute möglich, daß weitaus¬ gedehnte Reiche doch eine Einheit darstellten, und der Gedanke an eine parla¬ mentarische Vertretung der Kolonien, der Burke wegen der äußern Schwierig¬ keiten der Sache lächerlich erschienen sei, sei heute nicht mehr lächerlich. Das Problem, an dessen Lösbarkeit man in England verzweifle, sei thatsächlich anderswo gelöst worden. Die Vereinigten Staaten, sagt Seeley, haben gezeigt, wie ein Staat einen fortwährenden Auswauderungsstrom aussenden kann, wie von einem be¬ siedelten Streifen am Atlantischen Ozean ein ganzer Kontinent bis zum Stillen Ozean bevölkert werden nud doch nie der Zweifel entstehen kann, ob diese entfernten Ansiedlungen nicht bald ihre Unabhängigkeit beanspruchen, oder ob sie es sich gefallen lassen werden, zum Norden des Ganzen besteuert zu werden. Der Fehler liegt darin, daß man unter England nur Großbritannien mit seiner Bevölkerung von etlichen dreißig Millionen versteht. Man darf in den Kolonien nicht Besitzungen, sondern muß in ihnen Teile Englands sehen und mit dieser Ansicht Ernst machen. „Wir müssen aufhören zu denken, daß Auswnndrer, wenn sie in die Kolonien gehen, England verlassen oder für England verloren sind. Wir müssen aufhören zu denken, daß die Geschichte Englands die Geschichte des Parlaments ist, das in Westminster tagt, und daß Angelegenheiten, die dort nicht erörtert werden, nicht zur englischen Ge¬ schichte gehören können. Wenn wir uns gewöhnt haben, das ganze Imperium zusammen zu betrachten und alles England zu nennen, werden wir sehen, daß hier ebenfalls Vereinigte Staaten sind. Hier ist ebenfalls el» großes gleich¬ artiges Volk, eins in Blut, Sprache, Religion und Gesetzen, aber über einen grenzenlosen Raum verstreut. Allerdings hat es, wenn es auch durch starke moralische Bande zusammengehalten wird, nichts, was eine Verfassung genannt werden kann, kein Shstcm, das fähig scheint, einem harten Anprall zu wider¬ stehe». Wenn mau aber geneigt ist, zu zweifeln, ob ein System erdacht werden kau», fähig, so weit von einander entfernte Gemeinschaften zusammenzuhalten, dann ist es Zeit, sich an die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika Zu erinnern." Was so als möglich nachgewiesen wird, ist nach Seeley auf der andern Seite von dringender Wichtigkeit. „Denn dieselben Erfindungen, die aus¬ gedehnte politische Vereinigungen möglich machen, wirken dahin, daß Staaten von den alten Größenverhältnissen unsicher, bedeutungslos nud solche zweiten Ranges werden- Halten die Bereinigten Staaten und Nußland noch fünfzig ^"hre zusammen, so werden am Ende dieser Zeit solche alten europäischen Staaten wie Frankreich und Deutschland ganz zwerghaft erscheinen und in zweite Klasse hinabsinken. Dasselbe wird mit England geschehen, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/29>, abgerufen am 23.07.2024.