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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne

ist ein von allen einsichtigen Gefängnisbeamten erkannter Übelstand und wird
von ihnen lebhaft bekämpft; denn gerade dieser Methode, den Leuten einfach
wegen ihrer Bestrafung einen weit niedrigern Lohn zu zahlen als andern Arbeitern,
hat man es wohl zu verdanken, daß Menschen, die thatsächlich den besten Willen
hatten, ein andres Leben anzufangen, doch bald wieder ins Gefängnis zurück¬
kehren; in ihrem Unverstand hatten sie sich bethören lassen, sich an derartige
Vereine zu wenden, von denen sie dann noch einmal mit beispielloser Ge¬
wissenlosigkeit in Arbeitsverhältnisse gebracht wurden, wo ihnen gar keine andre
Wahl blieb als entweder zu verhungern oder neue Verbrechen zu begehen- Man
glaube nicht etwa, daß ich hierbei übertreibe, derartige Fälle könnten nötigen¬
falls mit Gerichtsakten belegt werden. So kam z. B. vor einer Reihe von
Jahren vor dem Berliner Amtsgericht ein Prozeß wegen Unterschlagung gegen
einen jungen kräftigen Hausdiener zur Verhandlung, der von dem dortigen Verein
an einen biedern Geschäftsmann für einen Wochenlohn von drei Mark ver¬
kuppelt worden war -- anders kann man diese Art Stellenvermittlung nicht
nennen. Davon konnte er aber unmöglich Nahrung, Kleidung und Wohnung
bestreiten, und so ging er eines Tages vom nagenden Hunger getrieben in ein
Lokal, um sich wieder einmal satt zu essen, und bezahlte die kleine Zeche von
dem Gelde, das er für seinen edeln Prinzipal erhalten hatte, und der Patron
trieb nun seine unerhörte Gewissenlosigkeit -- so nannte es nämlich der
Präsident selbst -- so weit, daß er den Menschen zur Anzeige brachte. Damit
hatte er nun allerdings kein Glück, denn der arme Teufel wurde unter diesen
Umstünden freigesprochen uno bekam sogar noch im Gerichtssaal in einem der
Schöffen einen neuen Brodherrn. Der geringste Lohn für eine solche Stelle
betrug nach übereinstimmendem Urteil der Sachverständigen auf dem Berliner
Arbeitsmarkt fünfzehn Mark; was soll man nun zu einem Vereine sagen, der
mit einer so philanthropischen Devise im Wappen die sich ihm im guten Glauben
anvertrauenden Menschen wissentlich solchen Ehrenmännern zur schrankenlosen
Ausnutzung in die Hände liefert? Man mag über die manchmal rücksichts¬
losen Lohnkämpfe der Arbeiter denken, wie man will, so glänzend sind sie jeden¬
falls alle nicht gestellt, daß sie ihren Lebensunterhalt noch auf ehrliche Weise
bestreiten könnten, wenn man ihren Lohn plötzlich auch nur auf die Hälfte,
geschweige denn gar auf ein Fünftel herabsetzen wollte. Und wenn man nun
ganz und gar im gedankenlosen Unverstand derartige Experimente gerade an
solchen Personen vornehmen läßt, deren sittliche Grundsätze an und für sich
schon nicht sehr fest sind, so kann dieser frivole Leichtsinn nicht hart genug ver¬
dammt werden.

Das hätte mau sich sagen können, daß die moralischen Begriffe solcher
Menschen, die schon einmal der Versuchung erlegen sind, nicht dadurch gebessert
werden können, daß man sie in die Hände gewerblicher Halsabschneider und
Bauernfänger liefert, die sittlich noch tief unter ihnen stehen. Allen guten


Grenzboten I 189!) 83
Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne

ist ein von allen einsichtigen Gefängnisbeamten erkannter Übelstand und wird
von ihnen lebhaft bekämpft; denn gerade dieser Methode, den Leuten einfach
wegen ihrer Bestrafung einen weit niedrigern Lohn zu zahlen als andern Arbeitern,
hat man es wohl zu verdanken, daß Menschen, die thatsächlich den besten Willen
hatten, ein andres Leben anzufangen, doch bald wieder ins Gefängnis zurück¬
kehren; in ihrem Unverstand hatten sie sich bethören lassen, sich an derartige
Vereine zu wenden, von denen sie dann noch einmal mit beispielloser Ge¬
wissenlosigkeit in Arbeitsverhältnisse gebracht wurden, wo ihnen gar keine andre
Wahl blieb als entweder zu verhungern oder neue Verbrechen zu begehen- Man
glaube nicht etwa, daß ich hierbei übertreibe, derartige Fälle könnten nötigen¬
falls mit Gerichtsakten belegt werden. So kam z. B. vor einer Reihe von
Jahren vor dem Berliner Amtsgericht ein Prozeß wegen Unterschlagung gegen
einen jungen kräftigen Hausdiener zur Verhandlung, der von dem dortigen Verein
an einen biedern Geschäftsmann für einen Wochenlohn von drei Mark ver¬
kuppelt worden war — anders kann man diese Art Stellenvermittlung nicht
nennen. Davon konnte er aber unmöglich Nahrung, Kleidung und Wohnung
bestreiten, und so ging er eines Tages vom nagenden Hunger getrieben in ein
Lokal, um sich wieder einmal satt zu essen, und bezahlte die kleine Zeche von
dem Gelde, das er für seinen edeln Prinzipal erhalten hatte, und der Patron
trieb nun seine unerhörte Gewissenlosigkeit — so nannte es nämlich der
Präsident selbst — so weit, daß er den Menschen zur Anzeige brachte. Damit
hatte er nun allerdings kein Glück, denn der arme Teufel wurde unter diesen
Umstünden freigesprochen uno bekam sogar noch im Gerichtssaal in einem der
Schöffen einen neuen Brodherrn. Der geringste Lohn für eine solche Stelle
betrug nach übereinstimmendem Urteil der Sachverständigen auf dem Berliner
Arbeitsmarkt fünfzehn Mark; was soll man nun zu einem Vereine sagen, der
mit einer so philanthropischen Devise im Wappen die sich ihm im guten Glauben
anvertrauenden Menschen wissentlich solchen Ehrenmännern zur schrankenlosen
Ausnutzung in die Hände liefert? Man mag über die manchmal rücksichts¬
losen Lohnkämpfe der Arbeiter denken, wie man will, so glänzend sind sie jeden¬
falls alle nicht gestellt, daß sie ihren Lebensunterhalt noch auf ehrliche Weise
bestreiten könnten, wenn man ihren Lohn plötzlich auch nur auf die Hälfte,
geschweige denn gar auf ein Fünftel herabsetzen wollte. Und wenn man nun
ganz und gar im gedankenlosen Unverstand derartige Experimente gerade an
solchen Personen vornehmen läßt, deren sittliche Grundsätze an und für sich
schon nicht sehr fest sind, so kann dieser frivole Leichtsinn nicht hart genug ver¬
dammt werden.

Das hätte mau sich sagen können, daß die moralischen Begriffe solcher
Menschen, die schon einmal der Versuchung erlegen sind, nicht dadurch gebessert
werden können, daß man sie in die Hände gewerblicher Halsabschneider und
Bauernfänger liefert, die sittlich noch tief unter ihnen stehen. Allen guten


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[0265] Die Fürsorge für entlassene Strafgefangne ist ein von allen einsichtigen Gefängnisbeamten erkannter Übelstand und wird von ihnen lebhaft bekämpft; denn gerade dieser Methode, den Leuten einfach wegen ihrer Bestrafung einen weit niedrigern Lohn zu zahlen als andern Arbeitern, hat man es wohl zu verdanken, daß Menschen, die thatsächlich den besten Willen hatten, ein andres Leben anzufangen, doch bald wieder ins Gefängnis zurück¬ kehren; in ihrem Unverstand hatten sie sich bethören lassen, sich an derartige Vereine zu wenden, von denen sie dann noch einmal mit beispielloser Ge¬ wissenlosigkeit in Arbeitsverhältnisse gebracht wurden, wo ihnen gar keine andre Wahl blieb als entweder zu verhungern oder neue Verbrechen zu begehen- Man glaube nicht etwa, daß ich hierbei übertreibe, derartige Fälle könnten nötigen¬ falls mit Gerichtsakten belegt werden. So kam z. B. vor einer Reihe von Jahren vor dem Berliner Amtsgericht ein Prozeß wegen Unterschlagung gegen einen jungen kräftigen Hausdiener zur Verhandlung, der von dem dortigen Verein an einen biedern Geschäftsmann für einen Wochenlohn von drei Mark ver¬ kuppelt worden war — anders kann man diese Art Stellenvermittlung nicht nennen. Davon konnte er aber unmöglich Nahrung, Kleidung und Wohnung bestreiten, und so ging er eines Tages vom nagenden Hunger getrieben in ein Lokal, um sich wieder einmal satt zu essen, und bezahlte die kleine Zeche von dem Gelde, das er für seinen edeln Prinzipal erhalten hatte, und der Patron trieb nun seine unerhörte Gewissenlosigkeit — so nannte es nämlich der Präsident selbst — so weit, daß er den Menschen zur Anzeige brachte. Damit hatte er nun allerdings kein Glück, denn der arme Teufel wurde unter diesen Umstünden freigesprochen uno bekam sogar noch im Gerichtssaal in einem der Schöffen einen neuen Brodherrn. Der geringste Lohn für eine solche Stelle betrug nach übereinstimmendem Urteil der Sachverständigen auf dem Berliner Arbeitsmarkt fünfzehn Mark; was soll man nun zu einem Vereine sagen, der mit einer so philanthropischen Devise im Wappen die sich ihm im guten Glauben anvertrauenden Menschen wissentlich solchen Ehrenmännern zur schrankenlosen Ausnutzung in die Hände liefert? Man mag über die manchmal rücksichts¬ losen Lohnkämpfe der Arbeiter denken, wie man will, so glänzend sind sie jeden¬ falls alle nicht gestellt, daß sie ihren Lebensunterhalt noch auf ehrliche Weise bestreiten könnten, wenn man ihren Lohn plötzlich auch nur auf die Hälfte, geschweige denn gar auf ein Fünftel herabsetzen wollte. Und wenn man nun ganz und gar im gedankenlosen Unverstand derartige Experimente gerade an solchen Personen vornehmen läßt, deren sittliche Grundsätze an und für sich schon nicht sehr fest sind, so kann dieser frivole Leichtsinn nicht hart genug ver¬ dammt werden. Das hätte mau sich sagen können, daß die moralischen Begriffe solcher Menschen, die schon einmal der Versuchung erlegen sind, nicht dadurch gebessert werden können, daß man sie in die Hände gewerblicher Halsabschneider und Bauernfänger liefert, die sittlich noch tief unter ihnen stehen. Allen guten Grenzboten I 189!) 83

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/265>, abgerufen am 23.07.2024.