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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die Fabel vom Untergang des Handwerks

dazu, so Wird die Forschung zur Spielerei und die Statistik zum Unfug. Die
Arbeitsteilung ist überhaupt nicht in dem Grade als Merkmal für die Grenze
zwischen Handwerk und "moderner Großunternehmung" oder Fabrik, wie das
vielfach geschieht, anzuerkennen. Auch im unzweifelhaften Handwerk kommt sie
vor und geschah sie schon zu Hans Sachsens Zeiten. Es hat immer geschickte
und ungeschickte Gesellen gegeben, und die ungeschickten haben beim Meister Sachs
ebenso wie heute bei jedem Schuhmachermeister das Befohlen und andre Flick¬
arbeiten mit den Lehrlingen besorgt, gerade in der Maßarbeit, aber das "Zwicken,"
das ist das besonders wichtige Ausspannen des Oberleders auf den Leisten, hat
der Meister immer selbst besorgt oder doch nur dem besten Gesellen anvertraut.
Und nun gar erst das Zuschneiden. Es ist höchst ergötzlich, es in manchen
neuern Forschungen als ein Zeichen des Verfalls des Handwerks entdeckt zu
sehen, daß der Schneider- und der Schusterlehrling nicht auch im Zuschneiden
vollkommen ausgebildet werde. Als ob jemals jeder Schneider- und Schuster¬
geselle zugeschnitten hätte! Und nicht anders liegen die Dinge im Handwerks¬
betrieb andrer Gewerbzweige. Wenn auch die Polizei geglaubt hat, die Arbeits¬
teilung als Merkmal für die Unterscheidung von Handwerks- und Fabrikbetrieb
in Bezug auf die Anwendung mancher Bestimmungen der Arbeitsschutzgesetz¬
gebung brauchen zu können, so ist das nur ein Beweis, daß man sich über¬
haupt keinen Rat weiß. Dem Zweck des Arbeiterschutzes entspricht diese un¬
brauchbare Schablone ebenso wenig, wie irgend einer vernünftigen Grenzlinie
zwischen Handwerk und Fabrik. Der Doktrinarismus ist hier bedenklich in
die Praxis eingedrungen, aber die gesunde Willkür der Polizei hilft Gott sei
Dank über manche UnVerständlichkeit hinweg, zu der der Verstand der Über¬
verständigen geführt hat oder führen muß.

Wenn auf solcher Grundlage nnn gar Statistik gemacht wird, was
kann da nicht alles bewiesen werden? Würden -- so fährt unser Totengräber
des Handwerks fort -- in einem Gewerbe die Abhängigen den selbständigen
gegenüber gestellt, so ergäbe die Verhültniszahl, wie weit durchschnittlich in
den Betriebsstätten dieses Gewerbes die Produktionszerleguug Eingang gefunden
habe. Im Jahre 1729 hätte beispielsweise ein selbständiger Meister in Berlin
0,9 Abhängige, 1890 dagegen 3,7, also die vierfache Zahl beschäftigt: "ein
Anzeichen, daß, im großen angesehen, die Überführung der ganzen Industrie
(d. h. immer: einschließlich des Handwerks) aus der handwerksmüßigen in die
fabrikmäßige Betriebsweise sehr fortgeschritten ist." Was ist damit in der
Sache, um die es sich handelt, bewiesen? Im Jahre 1729 war von Gro߬
industrie in Berlin überhaupt keine Rede. Wenn aber im Handwerk von da¬
mals, wie alte Zunftstatuten beweisen, ein Meister bis drei Gesellen und einen
Lehrling, unter Umständen auch noch mehr Personal halten durste, so wäre
unter Umständen die Arbeitsteilung ohne Großindustrie fortgeschrittuer gewesen
als 1890 mit ihr. Und wenn, wie der Verfasser angiebt, im Jahre 1801 auf


Die Fabel vom Untergang des Handwerks

dazu, so Wird die Forschung zur Spielerei und die Statistik zum Unfug. Die
Arbeitsteilung ist überhaupt nicht in dem Grade als Merkmal für die Grenze
zwischen Handwerk und „moderner Großunternehmung" oder Fabrik, wie das
vielfach geschieht, anzuerkennen. Auch im unzweifelhaften Handwerk kommt sie
vor und geschah sie schon zu Hans Sachsens Zeiten. Es hat immer geschickte
und ungeschickte Gesellen gegeben, und die ungeschickten haben beim Meister Sachs
ebenso wie heute bei jedem Schuhmachermeister das Befohlen und andre Flick¬
arbeiten mit den Lehrlingen besorgt, gerade in der Maßarbeit, aber das „Zwicken,"
das ist das besonders wichtige Ausspannen des Oberleders auf den Leisten, hat
der Meister immer selbst besorgt oder doch nur dem besten Gesellen anvertraut.
Und nun gar erst das Zuschneiden. Es ist höchst ergötzlich, es in manchen
neuern Forschungen als ein Zeichen des Verfalls des Handwerks entdeckt zu
sehen, daß der Schneider- und der Schusterlehrling nicht auch im Zuschneiden
vollkommen ausgebildet werde. Als ob jemals jeder Schneider- und Schuster¬
geselle zugeschnitten hätte! Und nicht anders liegen die Dinge im Handwerks¬
betrieb andrer Gewerbzweige. Wenn auch die Polizei geglaubt hat, die Arbeits¬
teilung als Merkmal für die Unterscheidung von Handwerks- und Fabrikbetrieb
in Bezug auf die Anwendung mancher Bestimmungen der Arbeitsschutzgesetz¬
gebung brauchen zu können, so ist das nur ein Beweis, daß man sich über¬
haupt keinen Rat weiß. Dem Zweck des Arbeiterschutzes entspricht diese un¬
brauchbare Schablone ebenso wenig, wie irgend einer vernünftigen Grenzlinie
zwischen Handwerk und Fabrik. Der Doktrinarismus ist hier bedenklich in
die Praxis eingedrungen, aber die gesunde Willkür der Polizei hilft Gott sei
Dank über manche UnVerständlichkeit hinweg, zu der der Verstand der Über¬
verständigen geführt hat oder führen muß.

Wenn auf solcher Grundlage nnn gar Statistik gemacht wird, was
kann da nicht alles bewiesen werden? Würden — so fährt unser Totengräber
des Handwerks fort — in einem Gewerbe die Abhängigen den selbständigen
gegenüber gestellt, so ergäbe die Verhültniszahl, wie weit durchschnittlich in
den Betriebsstätten dieses Gewerbes die Produktionszerleguug Eingang gefunden
habe. Im Jahre 1729 hätte beispielsweise ein selbständiger Meister in Berlin
0,9 Abhängige, 1890 dagegen 3,7, also die vierfache Zahl beschäftigt: „ein
Anzeichen, daß, im großen angesehen, die Überführung der ganzen Industrie
(d. h. immer: einschließlich des Handwerks) aus der handwerksmüßigen in die
fabrikmäßige Betriebsweise sehr fortgeschritten ist." Was ist damit in der
Sache, um die es sich handelt, bewiesen? Im Jahre 1729 war von Gro߬
industrie in Berlin überhaupt keine Rede. Wenn aber im Handwerk von da¬
mals, wie alte Zunftstatuten beweisen, ein Meister bis drei Gesellen und einen
Lehrling, unter Umständen auch noch mehr Personal halten durste, so wäre
unter Umständen die Arbeitsteilung ohne Großindustrie fortgeschrittuer gewesen
als 1890 mit ihr. Und wenn, wie der Verfasser angiebt, im Jahre 1801 auf


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[0245] Die Fabel vom Untergang des Handwerks dazu, so Wird die Forschung zur Spielerei und die Statistik zum Unfug. Die Arbeitsteilung ist überhaupt nicht in dem Grade als Merkmal für die Grenze zwischen Handwerk und „moderner Großunternehmung" oder Fabrik, wie das vielfach geschieht, anzuerkennen. Auch im unzweifelhaften Handwerk kommt sie vor und geschah sie schon zu Hans Sachsens Zeiten. Es hat immer geschickte und ungeschickte Gesellen gegeben, und die ungeschickten haben beim Meister Sachs ebenso wie heute bei jedem Schuhmachermeister das Befohlen und andre Flick¬ arbeiten mit den Lehrlingen besorgt, gerade in der Maßarbeit, aber das „Zwicken," das ist das besonders wichtige Ausspannen des Oberleders auf den Leisten, hat der Meister immer selbst besorgt oder doch nur dem besten Gesellen anvertraut. Und nun gar erst das Zuschneiden. Es ist höchst ergötzlich, es in manchen neuern Forschungen als ein Zeichen des Verfalls des Handwerks entdeckt zu sehen, daß der Schneider- und der Schusterlehrling nicht auch im Zuschneiden vollkommen ausgebildet werde. Als ob jemals jeder Schneider- und Schuster¬ geselle zugeschnitten hätte! Und nicht anders liegen die Dinge im Handwerks¬ betrieb andrer Gewerbzweige. Wenn auch die Polizei geglaubt hat, die Arbeits¬ teilung als Merkmal für die Unterscheidung von Handwerks- und Fabrikbetrieb in Bezug auf die Anwendung mancher Bestimmungen der Arbeitsschutzgesetz¬ gebung brauchen zu können, so ist das nur ein Beweis, daß man sich über¬ haupt keinen Rat weiß. Dem Zweck des Arbeiterschutzes entspricht diese un¬ brauchbare Schablone ebenso wenig, wie irgend einer vernünftigen Grenzlinie zwischen Handwerk und Fabrik. Der Doktrinarismus ist hier bedenklich in die Praxis eingedrungen, aber die gesunde Willkür der Polizei hilft Gott sei Dank über manche UnVerständlichkeit hinweg, zu der der Verstand der Über¬ verständigen geführt hat oder führen muß. Wenn auf solcher Grundlage nnn gar Statistik gemacht wird, was kann da nicht alles bewiesen werden? Würden — so fährt unser Totengräber des Handwerks fort — in einem Gewerbe die Abhängigen den selbständigen gegenüber gestellt, so ergäbe die Verhültniszahl, wie weit durchschnittlich in den Betriebsstätten dieses Gewerbes die Produktionszerleguug Eingang gefunden habe. Im Jahre 1729 hätte beispielsweise ein selbständiger Meister in Berlin 0,9 Abhängige, 1890 dagegen 3,7, also die vierfache Zahl beschäftigt: „ein Anzeichen, daß, im großen angesehen, die Überführung der ganzen Industrie (d. h. immer: einschließlich des Handwerks) aus der handwerksmüßigen in die fabrikmäßige Betriebsweise sehr fortgeschritten ist." Was ist damit in der Sache, um die es sich handelt, bewiesen? Im Jahre 1729 war von Gro߬ industrie in Berlin überhaupt keine Rede. Wenn aber im Handwerk von da¬ mals, wie alte Zunftstatuten beweisen, ein Meister bis drei Gesellen und einen Lehrling, unter Umständen auch noch mehr Personal halten durste, so wäre unter Umständen die Arbeitsteilung ohne Großindustrie fortgeschrittuer gewesen als 1890 mit ihr. Und wenn, wie der Verfasser angiebt, im Jahre 1801 auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/245>, abgerufen am 23.07.2024.