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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Die Fabel vom Untergang des Handwerks

herab, der überhaupt noch vom Handwerk sprach. Es würde viel zu weit
führen, hier von dem Wirrsal irrtümlicher und übertriebner Vorstellungen auch
nur ein annäherndes Bild zu geben, die sich die phantasievollen Jünger der
in Preußen allmächtig gewordnen nationalökonomischen Schule bis auf den
heutigen Tag von der Lage und Entwicklung des Handwerks machten und in
unzähligen "Werken" der staunenden Mitwelt vorsetzten. Auch die Massen¬
veröffentlichungen des Vereins für Sozialpolitik über die Lage des Handwerks
haben neben einzelnen vortrefflichen Darstellungen der Wirklichkeit -- unter denen
sich vor allem die Arbeit über das Kleingewerbe in Karlsruhe durch nüchterne,
vorurteilsfreie Forschung auszeichnet -- und neben einer Menge wertvoller
Einzelbeobachtungen im großen und ganzen den Bann doktrinärer Vorein¬
genommenheit, unter der die kathedersozialistische und die sozialdemokratische
Behandlung der Handwerkerfrage leiden, mehr zum Ausdruck gebracht als
gebrochen.

Unter diesen Umstünden gewinnen natürlich die Ergebnisse der mit der
Berufszählung vom Juni 1895 verbundnen gewerblichen Betriebszählung eine
ganz besonders hohe Bedeutung. Es wäre vielleicht verständiger gewesen,
wenn der Verein für Sozialpolitik sie abgewartet hätte, ehe er seine Forscher
losließ. Solch eine Zählung ist denn doch ein Wirtschafts- und sozialwissen¬
schaftliches Ereignis allerersten Ranges. Die Zählungen von 1895 kosten über
drei Millionen Mark, sie werden also sobald nicht wiederholt werden. Bis
jetzt liegen -- abgesehen von der landwirtschaftlichen Betriebsstatistik und
einigen kleinern Mitteilungen -- nur die reinen Tabellenbünde vor; die wissen¬
schaftliche Zusammenfassung des Thatbestands, der sich aus dem Zahlenerwerb
ergeben wird, steht noch aus. Sie erst wird die Probe auf das Exempel
machen und den Beweis bringen, inwieweit sich unsre Doktrinäre bei der
Beurteilung der Handwerkerfrage mit der Wirklichkeit abgegeben haben oder
mit Wahnvorstellungen. Immerhin läßt sich doch auch jetzt schon aus den
veröffentlichten Zahlen ein Urteil darüber gewinnen, ob die Veränderungen
seit 1882 die Lehre von dem Untergang des Handwerks bestätigen oder nicht.

Wenn hier daran gegangen wird, dies zu untersuchen, statt die amtliche Er¬
schließung des Zahlenwerth abzuwarten, so ist der Grnno dazu, daß man sich
in neuerer Zeit bemüht hat, durch statistische Arbeiten den ausgesprochen
Übertreibungen, die oben gekennzeichnet sind, noch in der letzten Stunde den
Schein der Berechtigung zu wahren. Gerade aus der Berliner kathedersozia¬
listischen Schule heraus ist kürzlich eine Arbeit -- bemerkenswerterweise mit
finanzieller Unterstützung des im allgemeinen der manchesterlichen Orthodoxie
treugebliebncn Ältestenkolleginms der Berliner Kaufmannschaft -- erschienen,")



Statistische Studien zur Entwicklungsgeschichte der Berliner Industrie von 1720 bis
18S0. Von Otto Wiedtfeld (Leipzig, 18S7, Duncker und Humblot),
Die Fabel vom Untergang des Handwerks

herab, der überhaupt noch vom Handwerk sprach. Es würde viel zu weit
führen, hier von dem Wirrsal irrtümlicher und übertriebner Vorstellungen auch
nur ein annäherndes Bild zu geben, die sich die phantasievollen Jünger der
in Preußen allmächtig gewordnen nationalökonomischen Schule bis auf den
heutigen Tag von der Lage und Entwicklung des Handwerks machten und in
unzähligen „Werken" der staunenden Mitwelt vorsetzten. Auch die Massen¬
veröffentlichungen des Vereins für Sozialpolitik über die Lage des Handwerks
haben neben einzelnen vortrefflichen Darstellungen der Wirklichkeit — unter denen
sich vor allem die Arbeit über das Kleingewerbe in Karlsruhe durch nüchterne,
vorurteilsfreie Forschung auszeichnet — und neben einer Menge wertvoller
Einzelbeobachtungen im großen und ganzen den Bann doktrinärer Vorein¬
genommenheit, unter der die kathedersozialistische und die sozialdemokratische
Behandlung der Handwerkerfrage leiden, mehr zum Ausdruck gebracht als
gebrochen.

Unter diesen Umstünden gewinnen natürlich die Ergebnisse der mit der
Berufszählung vom Juni 1895 verbundnen gewerblichen Betriebszählung eine
ganz besonders hohe Bedeutung. Es wäre vielleicht verständiger gewesen,
wenn der Verein für Sozialpolitik sie abgewartet hätte, ehe er seine Forscher
losließ. Solch eine Zählung ist denn doch ein Wirtschafts- und sozialwissen¬
schaftliches Ereignis allerersten Ranges. Die Zählungen von 1895 kosten über
drei Millionen Mark, sie werden also sobald nicht wiederholt werden. Bis
jetzt liegen — abgesehen von der landwirtschaftlichen Betriebsstatistik und
einigen kleinern Mitteilungen — nur die reinen Tabellenbünde vor; die wissen¬
schaftliche Zusammenfassung des Thatbestands, der sich aus dem Zahlenerwerb
ergeben wird, steht noch aus. Sie erst wird die Probe auf das Exempel
machen und den Beweis bringen, inwieweit sich unsre Doktrinäre bei der
Beurteilung der Handwerkerfrage mit der Wirklichkeit abgegeben haben oder
mit Wahnvorstellungen. Immerhin läßt sich doch auch jetzt schon aus den
veröffentlichten Zahlen ein Urteil darüber gewinnen, ob die Veränderungen
seit 1882 die Lehre von dem Untergang des Handwerks bestätigen oder nicht.

Wenn hier daran gegangen wird, dies zu untersuchen, statt die amtliche Er¬
schließung des Zahlenwerth abzuwarten, so ist der Grnno dazu, daß man sich
in neuerer Zeit bemüht hat, durch statistische Arbeiten den ausgesprochen
Übertreibungen, die oben gekennzeichnet sind, noch in der letzten Stunde den
Schein der Berechtigung zu wahren. Gerade aus der Berliner kathedersozia¬
listischen Schule heraus ist kürzlich eine Arbeit — bemerkenswerterweise mit
finanzieller Unterstützung des im allgemeinen der manchesterlichen Orthodoxie
treugebliebncn Ältestenkolleginms der Berliner Kaufmannschaft — erschienen,")



Statistische Studien zur Entwicklungsgeschichte der Berliner Industrie von 1720 bis
18S0. Von Otto Wiedtfeld (Leipzig, 18S7, Duncker und Humblot),
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[0243] Die Fabel vom Untergang des Handwerks herab, der überhaupt noch vom Handwerk sprach. Es würde viel zu weit führen, hier von dem Wirrsal irrtümlicher und übertriebner Vorstellungen auch nur ein annäherndes Bild zu geben, die sich die phantasievollen Jünger der in Preußen allmächtig gewordnen nationalökonomischen Schule bis auf den heutigen Tag von der Lage und Entwicklung des Handwerks machten und in unzähligen „Werken" der staunenden Mitwelt vorsetzten. Auch die Massen¬ veröffentlichungen des Vereins für Sozialpolitik über die Lage des Handwerks haben neben einzelnen vortrefflichen Darstellungen der Wirklichkeit — unter denen sich vor allem die Arbeit über das Kleingewerbe in Karlsruhe durch nüchterne, vorurteilsfreie Forschung auszeichnet — und neben einer Menge wertvoller Einzelbeobachtungen im großen und ganzen den Bann doktrinärer Vorein¬ genommenheit, unter der die kathedersozialistische und die sozialdemokratische Behandlung der Handwerkerfrage leiden, mehr zum Ausdruck gebracht als gebrochen. Unter diesen Umstünden gewinnen natürlich die Ergebnisse der mit der Berufszählung vom Juni 1895 verbundnen gewerblichen Betriebszählung eine ganz besonders hohe Bedeutung. Es wäre vielleicht verständiger gewesen, wenn der Verein für Sozialpolitik sie abgewartet hätte, ehe er seine Forscher losließ. Solch eine Zählung ist denn doch ein Wirtschafts- und sozialwissen¬ schaftliches Ereignis allerersten Ranges. Die Zählungen von 1895 kosten über drei Millionen Mark, sie werden also sobald nicht wiederholt werden. Bis jetzt liegen — abgesehen von der landwirtschaftlichen Betriebsstatistik und einigen kleinern Mitteilungen — nur die reinen Tabellenbünde vor; die wissen¬ schaftliche Zusammenfassung des Thatbestands, der sich aus dem Zahlenerwerb ergeben wird, steht noch aus. Sie erst wird die Probe auf das Exempel machen und den Beweis bringen, inwieweit sich unsre Doktrinäre bei der Beurteilung der Handwerkerfrage mit der Wirklichkeit abgegeben haben oder mit Wahnvorstellungen. Immerhin läßt sich doch auch jetzt schon aus den veröffentlichten Zahlen ein Urteil darüber gewinnen, ob die Veränderungen seit 1882 die Lehre von dem Untergang des Handwerks bestätigen oder nicht. Wenn hier daran gegangen wird, dies zu untersuchen, statt die amtliche Er¬ schließung des Zahlenwerth abzuwarten, so ist der Grnno dazu, daß man sich in neuerer Zeit bemüht hat, durch statistische Arbeiten den ausgesprochen Übertreibungen, die oben gekennzeichnet sind, noch in der letzten Stunde den Schein der Berechtigung zu wahren. Gerade aus der Berliner kathedersozia¬ listischen Schule heraus ist kürzlich eine Arbeit — bemerkenswerterweise mit finanzieller Unterstützung des im allgemeinen der manchesterlichen Orthodoxie treugebliebncn Ältestenkolleginms der Berliner Kaufmannschaft — erschienen,") Statistische Studien zur Entwicklungsgeschichte der Berliner Industrie von 1720 bis 18S0. Von Otto Wiedtfeld (Leipzig, 18S7, Duncker und Humblot),

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/243>, abgerufen am 23.07.2024.