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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Politik und Finanzen in' Rußland

gestellt hat. Ist dies wirklich pure Humanität? Nun wird aber über die
Herkunft dieses Friedensmanifestes folgendes erzählt. Es wurde, so sagt
man, ersonnen von niemand anders, als dem Finanzminister selbst, und aus¬
gearbeitet in dessen eigner Kanzlei. Das Projekt des Herrn Witte ist dann
vom Minister des Äußern angenommen worden. Ungewiß bleibt, ob der Zar
vorher durch Witte gewonnen worden ist, oder ob der Graf Murawjew das
Projekt unmittelbar vom Finanzminister übernommen und dem Zaren vorgelegt
hat. War dieses die Vorgeschichte der überraschenden Kundgebung, so wird
die europäische Verwunderung sich leicht in ein verständnisvolles Lächeln ver¬
wandeln.

Etwa bis vor einem halben Jahre hatte die äußere russische Politik einen
ziemlich dröhnenden Schritt. Man kümmerte sich wenig um englische Drohungen
und schien ganz bereit zu sein, es auf einen Krieg ankommen zu lassen. Dazu
bedürfte man neuer Schiffe, neuer Geschütze, schleunigen Aufbaus der sibirischen
Bahn und andrer Mittel der Verteidigung in Europa und in Asien. Es mag
Herrn Witte schwül zu Mute geworden sein, als man ihm befahl, jährlich
90 Millionen für Schiffsbauten für die fünf kommenden Jahre herbeizuschaffen;
als man, dann mehr als 200 Millionen für Herstellung schnellfeuernder Geschütze
forderte und weitere Millionen für Hafenbauten und Befestigungen im fernen
Osten. In der Not mag ihm der geniale Gedanke gekommen sein, Nußland plötz¬
lich zum Apostel des Friedens zu machen. Indem der Zar das Rundschreiben
unterzeichnete, hatte er seinem Finanzminister eine Waffe in die Hand gegeben,
mit der er dem Andrang von Generalen, Kriegslustigen, wenn nötig, selbst
dem Grafen Murawjew widerstehen konnte. Eben hat Nußland, hat der Zar
ein Manifest des Friedens in die Welt gesandt -- wie sollte man da zu neuen
großen Rüstungen gerade in Nußland selbst schreiten? Wurde Herr Witte
durch den Befehl überrascht, zu Flottcnzwecken Hunderte von Millionen herbei¬
zuschaffen, so wurden die Flottenschwärmer jetzt durch den Gegenhieb ent¬
waffnet. Die Kriegslustige" haben ihren Gegner gefunden, der politische
Grundton ist milder geworden. Und der Zar hat sich auf den Frieden ver¬
pflichtet.

So löst sich die rätselhafte Friedensaktion in eine Finanzaktion auf. Was
auch auf der bevorstehenden Konferenz beschlossen werden mag: der eigentliche
Zweck dieses Unternehmens ist erreicht, indem Herr Witte wenigstens fürs erste
mit den großen Geldforderungen für kriegerische Rüstungen verschont bleibt.
Ganz Nußland bewundert die erhabne Politik seines Zaren, Europa huldigt
seinem idealen Humanismus, und Herr Witte hat einige hundert Millionen
und seine Goldwährung vor unmittelbarster Gefahr gerettet. Er hat zugleich
einen großen Sieg über kriegslustige und andre Gegner erfochten. Ist diese
Darstellung des Hergangs der Sache richtig, so müssen wir bekennen, daß wohl
selten auf der politischen Bühne ein geistvolleres Stück gespielt worden ist.


Politik und Finanzen in' Rußland

gestellt hat. Ist dies wirklich pure Humanität? Nun wird aber über die
Herkunft dieses Friedensmanifestes folgendes erzählt. Es wurde, so sagt
man, ersonnen von niemand anders, als dem Finanzminister selbst, und aus¬
gearbeitet in dessen eigner Kanzlei. Das Projekt des Herrn Witte ist dann
vom Minister des Äußern angenommen worden. Ungewiß bleibt, ob der Zar
vorher durch Witte gewonnen worden ist, oder ob der Graf Murawjew das
Projekt unmittelbar vom Finanzminister übernommen und dem Zaren vorgelegt
hat. War dieses die Vorgeschichte der überraschenden Kundgebung, so wird
die europäische Verwunderung sich leicht in ein verständnisvolles Lächeln ver¬
wandeln.

Etwa bis vor einem halben Jahre hatte die äußere russische Politik einen
ziemlich dröhnenden Schritt. Man kümmerte sich wenig um englische Drohungen
und schien ganz bereit zu sein, es auf einen Krieg ankommen zu lassen. Dazu
bedürfte man neuer Schiffe, neuer Geschütze, schleunigen Aufbaus der sibirischen
Bahn und andrer Mittel der Verteidigung in Europa und in Asien. Es mag
Herrn Witte schwül zu Mute geworden sein, als man ihm befahl, jährlich
90 Millionen für Schiffsbauten für die fünf kommenden Jahre herbeizuschaffen;
als man, dann mehr als 200 Millionen für Herstellung schnellfeuernder Geschütze
forderte und weitere Millionen für Hafenbauten und Befestigungen im fernen
Osten. In der Not mag ihm der geniale Gedanke gekommen sein, Nußland plötz¬
lich zum Apostel des Friedens zu machen. Indem der Zar das Rundschreiben
unterzeichnete, hatte er seinem Finanzminister eine Waffe in die Hand gegeben,
mit der er dem Andrang von Generalen, Kriegslustigen, wenn nötig, selbst
dem Grafen Murawjew widerstehen konnte. Eben hat Nußland, hat der Zar
ein Manifest des Friedens in die Welt gesandt — wie sollte man da zu neuen
großen Rüstungen gerade in Nußland selbst schreiten? Wurde Herr Witte
durch den Befehl überrascht, zu Flottcnzwecken Hunderte von Millionen herbei¬
zuschaffen, so wurden die Flottenschwärmer jetzt durch den Gegenhieb ent¬
waffnet. Die Kriegslustige» haben ihren Gegner gefunden, der politische
Grundton ist milder geworden. Und der Zar hat sich auf den Frieden ver¬
pflichtet.

So löst sich die rätselhafte Friedensaktion in eine Finanzaktion auf. Was
auch auf der bevorstehenden Konferenz beschlossen werden mag: der eigentliche
Zweck dieses Unternehmens ist erreicht, indem Herr Witte wenigstens fürs erste
mit den großen Geldforderungen für kriegerische Rüstungen verschont bleibt.
Ganz Nußland bewundert die erhabne Politik seines Zaren, Europa huldigt
seinem idealen Humanismus, und Herr Witte hat einige hundert Millionen
und seine Goldwährung vor unmittelbarster Gefahr gerettet. Er hat zugleich
einen großen Sieg über kriegslustige und andre Gegner erfochten. Ist diese
Darstellung des Hergangs der Sache richtig, so müssen wir bekennen, daß wohl
selten auf der politischen Bühne ein geistvolleres Stück gespielt worden ist.


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[0162] Politik und Finanzen in' Rußland gestellt hat. Ist dies wirklich pure Humanität? Nun wird aber über die Herkunft dieses Friedensmanifestes folgendes erzählt. Es wurde, so sagt man, ersonnen von niemand anders, als dem Finanzminister selbst, und aus¬ gearbeitet in dessen eigner Kanzlei. Das Projekt des Herrn Witte ist dann vom Minister des Äußern angenommen worden. Ungewiß bleibt, ob der Zar vorher durch Witte gewonnen worden ist, oder ob der Graf Murawjew das Projekt unmittelbar vom Finanzminister übernommen und dem Zaren vorgelegt hat. War dieses die Vorgeschichte der überraschenden Kundgebung, so wird die europäische Verwunderung sich leicht in ein verständnisvolles Lächeln ver¬ wandeln. Etwa bis vor einem halben Jahre hatte die äußere russische Politik einen ziemlich dröhnenden Schritt. Man kümmerte sich wenig um englische Drohungen und schien ganz bereit zu sein, es auf einen Krieg ankommen zu lassen. Dazu bedürfte man neuer Schiffe, neuer Geschütze, schleunigen Aufbaus der sibirischen Bahn und andrer Mittel der Verteidigung in Europa und in Asien. Es mag Herrn Witte schwül zu Mute geworden sein, als man ihm befahl, jährlich 90 Millionen für Schiffsbauten für die fünf kommenden Jahre herbeizuschaffen; als man, dann mehr als 200 Millionen für Herstellung schnellfeuernder Geschütze forderte und weitere Millionen für Hafenbauten und Befestigungen im fernen Osten. In der Not mag ihm der geniale Gedanke gekommen sein, Nußland plötz¬ lich zum Apostel des Friedens zu machen. Indem der Zar das Rundschreiben unterzeichnete, hatte er seinem Finanzminister eine Waffe in die Hand gegeben, mit der er dem Andrang von Generalen, Kriegslustigen, wenn nötig, selbst dem Grafen Murawjew widerstehen konnte. Eben hat Nußland, hat der Zar ein Manifest des Friedens in die Welt gesandt — wie sollte man da zu neuen großen Rüstungen gerade in Nußland selbst schreiten? Wurde Herr Witte durch den Befehl überrascht, zu Flottcnzwecken Hunderte von Millionen herbei¬ zuschaffen, so wurden die Flottenschwärmer jetzt durch den Gegenhieb ent¬ waffnet. Die Kriegslustige» haben ihren Gegner gefunden, der politische Grundton ist milder geworden. Und der Zar hat sich auf den Frieden ver¬ pflichtet. So löst sich die rätselhafte Friedensaktion in eine Finanzaktion auf. Was auch auf der bevorstehenden Konferenz beschlossen werden mag: der eigentliche Zweck dieses Unternehmens ist erreicht, indem Herr Witte wenigstens fürs erste mit den großen Geldforderungen für kriegerische Rüstungen verschont bleibt. Ganz Nußland bewundert die erhabne Politik seines Zaren, Europa huldigt seinem idealen Humanismus, und Herr Witte hat einige hundert Millionen und seine Goldwährung vor unmittelbarster Gefahr gerettet. Er hat zugleich einen großen Sieg über kriegslustige und andre Gegner erfochten. Ist diese Darstellung des Hergangs der Sache richtig, so müssen wir bekennen, daß wohl selten auf der politischen Bühne ein geistvolleres Stück gespielt worden ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/162>, abgerufen am 23.07.2024.