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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Bachs weltliche Kantaten

gesprochen wird, oder die den Kopf schütteln, wenn ein Philosoph auch einmal
über Sinnesfeinheiten und Sinnesfreuden redet. Bei einem wirklichen Fürsten
ist es gewiß nicht ohne Belang, ob an seinem Ehrentage "Kaiserwetter"
herrscht oder nicht. Der Doktor August Müller, auf dessen Verherrlichung
die fragliche Kantate hinauslauft, war zwar uur ein Mann der Wissenschaft,
aber ein vielverehrter und beliebter Lehrer der studierenden Jugend, und wir
haben keinen Grund, an der Berechtigung seines Rufes zu zweifeln, obwohl
der gute Gelehrte ohne jene zufällige künstlerische Huldigung jetzt längst ver¬
gessen wäre. Gönnen wir ihm von Herzen die Verewigung durch eine Bachsche
Kantate! Freilich, der Name Müller kaun, im Munde der Pallas Athene,
komisch klingen. Das Zauberwort, fürchtet man, werde erschütternd auf das
Zwerchfell des heutigen Hörers wirken. Es ist aber doch bloß ein dummer
Zufall, wenn der Konzertbesucher etwa an Müller und Schlitze denkt. Auch
andre Namen, wie z. B. der Klopstocks, könnten, in ähnlicher Weise vorge¬
bracht, aus der poetischen Stimmung herausreißen und zum Lachen reizen.
Solche Wörter sind eben prosaisch. (Das Komische entsteht dann erst in
zweiter Linie.) Man muß sich aber den Nimbus hinzudenken, der die Namen
allgemein verehrter Personen umgiebt. Setzten wir statt "Müller" vielleicht
"Gellert," so wäre alles sogleich in Ordnung. Im übrigen hindert ja nichts,
den betreffenden Eigennamen überhaupt wegzulassen. Möge man das Werk
einfach unter der Bezeichnung "Zum Namensfest eines gefeierten Gelehrten"
aufführen, und lasse mau dünn Pallas etwa singen wie folgt: Mein Lieb¬
ling -- jener Held, der mir vor allen wohlgefüllt -- der Musen treuster
Freund -- erlebet usw. Den Schlnßchor etwa so: Vivat! Edler Meister,
lebe! Sei beglückt, gelehrter Manu! usw. Änderungen der Diktion lassen
sich nämlich in allen Kantaten Bachs anbringen. Man sollte getrost daran
gehen und die Ausdrucksweise überall, wo sie den Genuß beeinträchtigt, moder¬
nisieren. Dies ist etwas ganz andres als jenes radikale Eingreifen, womit man
ohne weiteres den Personen und der Handlung des Textes zuleide geht und
den ursprünglichen Sinn verwandelt; obgleich auch dieses für den Notfall,
nach dem Vorgang Bachs selbst, grundsätzlich erlaubt bleibt.

Zu den Kantaten, die einen unmittelbaren hohen Genuß bieten und sofort
ausführbar sind, gehören, außer "Phöbus und Pan," die schönen Hochzeits¬
kantaten ("Weichet nur, betrübte Schatten" und "O holder Tag") und die
kaum minder wertvollen Kammerkantaten mit italienischem Text (^mors er^äi-
toi-s und Avr sa ode sia äolors). Auch die Kaffeekantate wirkt ohne weiteres.
Bei den Kantaten auf den Kurfürsten Friedrich August II. dürfte es sich freilich
empfehlen, nur einzelne Sätze, Chöre oder Arien, zur Aufführung zu bringen,
z. B. den bekannten prächtigen Chor "Schleicht, spielende Wellen" in der Be¬
arbeitung von Ruft. Dagegen wird die Bauernkantate jederzeit als ein origi¬
nelles, frisches Ganze erfreuen können. Selbst das Dialektische kann hier bei-


Bachs weltliche Kantaten

gesprochen wird, oder die den Kopf schütteln, wenn ein Philosoph auch einmal
über Sinnesfeinheiten und Sinnesfreuden redet. Bei einem wirklichen Fürsten
ist es gewiß nicht ohne Belang, ob an seinem Ehrentage „Kaiserwetter"
herrscht oder nicht. Der Doktor August Müller, auf dessen Verherrlichung
die fragliche Kantate hinauslauft, war zwar uur ein Mann der Wissenschaft,
aber ein vielverehrter und beliebter Lehrer der studierenden Jugend, und wir
haben keinen Grund, an der Berechtigung seines Rufes zu zweifeln, obwohl
der gute Gelehrte ohne jene zufällige künstlerische Huldigung jetzt längst ver¬
gessen wäre. Gönnen wir ihm von Herzen die Verewigung durch eine Bachsche
Kantate! Freilich, der Name Müller kaun, im Munde der Pallas Athene,
komisch klingen. Das Zauberwort, fürchtet man, werde erschütternd auf das
Zwerchfell des heutigen Hörers wirken. Es ist aber doch bloß ein dummer
Zufall, wenn der Konzertbesucher etwa an Müller und Schlitze denkt. Auch
andre Namen, wie z. B. der Klopstocks, könnten, in ähnlicher Weise vorge¬
bracht, aus der poetischen Stimmung herausreißen und zum Lachen reizen.
Solche Wörter sind eben prosaisch. (Das Komische entsteht dann erst in
zweiter Linie.) Man muß sich aber den Nimbus hinzudenken, der die Namen
allgemein verehrter Personen umgiebt. Setzten wir statt „Müller" vielleicht
„Gellert," so wäre alles sogleich in Ordnung. Im übrigen hindert ja nichts,
den betreffenden Eigennamen überhaupt wegzulassen. Möge man das Werk
einfach unter der Bezeichnung „Zum Namensfest eines gefeierten Gelehrten"
aufführen, und lasse mau dünn Pallas etwa singen wie folgt: Mein Lieb¬
ling — jener Held, der mir vor allen wohlgefüllt — der Musen treuster
Freund — erlebet usw. Den Schlnßchor etwa so: Vivat! Edler Meister,
lebe! Sei beglückt, gelehrter Manu! usw. Änderungen der Diktion lassen
sich nämlich in allen Kantaten Bachs anbringen. Man sollte getrost daran
gehen und die Ausdrucksweise überall, wo sie den Genuß beeinträchtigt, moder¬
nisieren. Dies ist etwas ganz andres als jenes radikale Eingreifen, womit man
ohne weiteres den Personen und der Handlung des Textes zuleide geht und
den ursprünglichen Sinn verwandelt; obgleich auch dieses für den Notfall,
nach dem Vorgang Bachs selbst, grundsätzlich erlaubt bleibt.

Zu den Kantaten, die einen unmittelbaren hohen Genuß bieten und sofort
ausführbar sind, gehören, außer „Phöbus und Pan," die schönen Hochzeits¬
kantaten („Weichet nur, betrübte Schatten" und „O holder Tag") und die
kaum minder wertvollen Kammerkantaten mit italienischem Text (^mors er^äi-
toi-s und Avr sa ode sia äolors). Auch die Kaffeekantate wirkt ohne weiteres.
Bei den Kantaten auf den Kurfürsten Friedrich August II. dürfte es sich freilich
empfehlen, nur einzelne Sätze, Chöre oder Arien, zur Aufführung zu bringen,
z. B. den bekannten prächtigen Chor „Schleicht, spielende Wellen" in der Be¬
arbeitung von Ruft. Dagegen wird die Bauernkantate jederzeit als ein origi¬
nelles, frisches Ganze erfreuen können. Selbst das Dialektische kann hier bei-


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[0107] Bachs weltliche Kantaten gesprochen wird, oder die den Kopf schütteln, wenn ein Philosoph auch einmal über Sinnesfeinheiten und Sinnesfreuden redet. Bei einem wirklichen Fürsten ist es gewiß nicht ohne Belang, ob an seinem Ehrentage „Kaiserwetter" herrscht oder nicht. Der Doktor August Müller, auf dessen Verherrlichung die fragliche Kantate hinauslauft, war zwar uur ein Mann der Wissenschaft, aber ein vielverehrter und beliebter Lehrer der studierenden Jugend, und wir haben keinen Grund, an der Berechtigung seines Rufes zu zweifeln, obwohl der gute Gelehrte ohne jene zufällige künstlerische Huldigung jetzt längst ver¬ gessen wäre. Gönnen wir ihm von Herzen die Verewigung durch eine Bachsche Kantate! Freilich, der Name Müller kaun, im Munde der Pallas Athene, komisch klingen. Das Zauberwort, fürchtet man, werde erschütternd auf das Zwerchfell des heutigen Hörers wirken. Es ist aber doch bloß ein dummer Zufall, wenn der Konzertbesucher etwa an Müller und Schlitze denkt. Auch andre Namen, wie z. B. der Klopstocks, könnten, in ähnlicher Weise vorge¬ bracht, aus der poetischen Stimmung herausreißen und zum Lachen reizen. Solche Wörter sind eben prosaisch. (Das Komische entsteht dann erst in zweiter Linie.) Man muß sich aber den Nimbus hinzudenken, der die Namen allgemein verehrter Personen umgiebt. Setzten wir statt „Müller" vielleicht „Gellert," so wäre alles sogleich in Ordnung. Im übrigen hindert ja nichts, den betreffenden Eigennamen überhaupt wegzulassen. Möge man das Werk einfach unter der Bezeichnung „Zum Namensfest eines gefeierten Gelehrten" aufführen, und lasse mau dünn Pallas etwa singen wie folgt: Mein Lieb¬ ling — jener Held, der mir vor allen wohlgefüllt — der Musen treuster Freund — erlebet usw. Den Schlnßchor etwa so: Vivat! Edler Meister, lebe! Sei beglückt, gelehrter Manu! usw. Änderungen der Diktion lassen sich nämlich in allen Kantaten Bachs anbringen. Man sollte getrost daran gehen und die Ausdrucksweise überall, wo sie den Genuß beeinträchtigt, moder¬ nisieren. Dies ist etwas ganz andres als jenes radikale Eingreifen, womit man ohne weiteres den Personen und der Handlung des Textes zuleide geht und den ursprünglichen Sinn verwandelt; obgleich auch dieses für den Notfall, nach dem Vorgang Bachs selbst, grundsätzlich erlaubt bleibt. Zu den Kantaten, die einen unmittelbaren hohen Genuß bieten und sofort ausführbar sind, gehören, außer „Phöbus und Pan," die schönen Hochzeits¬ kantaten („Weichet nur, betrübte Schatten" und „O holder Tag") und die kaum minder wertvollen Kammerkantaten mit italienischem Text (^mors er^äi- toi-s und Avr sa ode sia äolors). Auch die Kaffeekantate wirkt ohne weiteres. Bei den Kantaten auf den Kurfürsten Friedrich August II. dürfte es sich freilich empfehlen, nur einzelne Sätze, Chöre oder Arien, zur Aufführung zu bringen, z. B. den bekannten prächtigen Chor „Schleicht, spielende Wellen" in der Be¬ arbeitung von Ruft. Dagegen wird die Bauernkantate jederzeit als ein origi¬ nelles, frisches Ganze erfreuen können. Selbst das Dialektische kann hier bei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/107>, abgerufen am 23.07.2024.