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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

bei voller Geistesgegenwart. "Kein Wort des Ingrimms oder Rachegefühls
kam über seine Lippen."

Biedrer Deutscher, wo sind deine Sympathien? Bei dem in Stücke ge¬
hackten echten Volksfreunde, oder bei dem Manne mit der Hellebarde und dem
Frauenzimmer mit dem roten Sonnenschirme?




Betrachtungen über das Drama,
insbesondre das deutsche
(Fortsetzung)

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echte realistische Kunst, meint er, kennt streng genommen
kein Epigonentum. Die Nachahmung artet nicht so leicht in
leere Manier aus, weil der Realist durch eigne Beobachtung
sich immer eine gewisse Selbständigkeit bewahrt. Auch der
Naturalist fußt auf Beobachtung, aber er kennt keinen Unter¬
schied zwischen wesentlich und unwesentlich, ihm ist jede Beobachtung gleich¬
viel wert, er meint die Dinge objektiv zu fassen, er will das Charakte¬
ristische nicht steigern, so nähert er sich unvermerkt dem Typischen. Wenn die
individuell trennenden Eigenschaften nicht deutlich hervortreten, so wenden wir
den typisch einenden unsre Aufmerksamkeit zu. "So verfahren in der That
die naturalistischen Dichter. Das Typische ihrer Figuren bildet den Kern,
woran dann das Individuelle als eine bloße Verbrämung gefügt wird. Hier
ist das Bindemittel zwischen naturalistischer und idealistischer Methode." Beide
liebäugeln mit der Theorie und ordnen den Stoff nach theoretischen Erwägungen,
der Idealist geht von der Reflexion aus, der Naturalist strebt von seiner Be¬
obachtung aus zu ihr hin. "Naturalismus ist nichts weiter als phantasieloser
Idealismus mit naturwissenschaftlichem Drill." Er ist "seinem Wesen nach
mit dem Idealismus viel näher verwandt als mit dem Realismus." Von
diesen, wie mir scheint, sehr beachtenswerten Gedanken der Kunstlehre des
Verfassers wenden wir uns wieder zu dem Drama in Österreich und der
Wiener Bühne zurück.

In Bezug auf Laubes Theaterleitung urteilt er, daß man ihr für manches
dankbar zu sein habe, aber die "Mißachtung gegen die künstlerischen Absichten
der Dichter" Hütte keiner weiter getrieben als Laube. "Sein Glück war, daß
ihm kein Besserer vorangegangen und kein Besserer gefolgt ist." Sein jüngster
Nachfolger war Burckhard. Sein Verdienst sei, daß er Ibsen und Hauptmann


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

bei voller Geistesgegenwart. „Kein Wort des Ingrimms oder Rachegefühls
kam über seine Lippen."

Biedrer Deutscher, wo sind deine Sympathien? Bei dem in Stücke ge¬
hackten echten Volksfreunde, oder bei dem Manne mit der Hellebarde und dem
Frauenzimmer mit dem roten Sonnenschirme?




Betrachtungen über das Drama,
insbesondre das deutsche
(Fortsetzung)

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echte realistische Kunst, meint er, kennt streng genommen
kein Epigonentum. Die Nachahmung artet nicht so leicht in
leere Manier aus, weil der Realist durch eigne Beobachtung
sich immer eine gewisse Selbständigkeit bewahrt. Auch der
Naturalist fußt auf Beobachtung, aber er kennt keinen Unter¬
schied zwischen wesentlich und unwesentlich, ihm ist jede Beobachtung gleich¬
viel wert, er meint die Dinge objektiv zu fassen, er will das Charakte¬
ristische nicht steigern, so nähert er sich unvermerkt dem Typischen. Wenn die
individuell trennenden Eigenschaften nicht deutlich hervortreten, so wenden wir
den typisch einenden unsre Aufmerksamkeit zu. „So verfahren in der That
die naturalistischen Dichter. Das Typische ihrer Figuren bildet den Kern,
woran dann das Individuelle als eine bloße Verbrämung gefügt wird. Hier
ist das Bindemittel zwischen naturalistischer und idealistischer Methode." Beide
liebäugeln mit der Theorie und ordnen den Stoff nach theoretischen Erwägungen,
der Idealist geht von der Reflexion aus, der Naturalist strebt von seiner Be¬
obachtung aus zu ihr hin. „Naturalismus ist nichts weiter als phantasieloser
Idealismus mit naturwissenschaftlichem Drill." Er ist „seinem Wesen nach
mit dem Idealismus viel näher verwandt als mit dem Realismus." Von
diesen, wie mir scheint, sehr beachtenswerten Gedanken der Kunstlehre des
Verfassers wenden wir uns wieder zu dem Drama in Österreich und der
Wiener Bühne zurück.

In Bezug auf Laubes Theaterleitung urteilt er, daß man ihr für manches
dankbar zu sein habe, aber die „Mißachtung gegen die künstlerischen Absichten
der Dichter" Hütte keiner weiter getrieben als Laube. „Sein Glück war, daß
ihm kein Besserer vorangegangen und kein Besserer gefolgt ist." Sein jüngster
Nachfolger war Burckhard. Sein Verdienst sei, daß er Ibsen und Hauptmann


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/90>, abgerufen am 24.07.2024.