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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Märchenhafte Romane

Wenig glaublicher Weise von der Wirklichkeit. Der "Henker" ist ein junger
Räuber, der, nachdem er zwei reisende Amerikaner unweit Athens aufgehoben
hat, mit seiner Bande gefangen und zum Tode verurteilt, darauf jedoch unter
der Bedingung begnadigt wird, daß er zehn Jahre lang, auf einer Insel be¬
wacht, das verachtete und wegen der Blutrache gefährliche Amt des Henkers
ausübe, das er zunächst an einigen seiner Gefährten vollziehen muß. Seine
Geliebte, die Tochter eines dieser Opfer, teilt mit ihm das Leben des Aus¬
gestoßenen und wird seine Frau. Die weitere Umgebung -dieser Szene bildet
eine ziemlich verkommne Gesellschaft von Beamten und Militärs aus der Zeit
des Königs Otto, die Haupthandlung besteht in den Thaten und Kämpfen
dieser Räuber bis zu ihrer Gefangennahme. Nach vielen Anfeindungen und
gefahrvollen Abenteuern gelangen sie nach Amerika in den Schutz des einen
der Reisenden, dem der "Henker" und seine Geliebte damals zur Flucht aus
dem Lager der Räuber verhalfen, und mit einer ganz überraschenden Ver¬
lobung zwischen dem jüngsten Mitgliede der ehemaligen Räuberbande und einer
Schwester des reichen Amerikaners schließt die Erzählung. Die Darstellung
ist geschickt, die Schilderung oft sehr spannend, aber erwärmen können wir uns
trotz aller Romantik doch nicht für das seltsame Milieu dieses Profcssoren-
romans.

Das letzte unsrer Bücher: Das Idyll von Capri, aus der Bildermappe
des Bcatus Rhenanus, herausgegeben von Theodor Birk (Marburg, Elwert)
ist nun in der That von einem wirklichen Professor geschrieben worden, der
sich schon durch manche nicht sachwissenschastliche Schrift bekannt gemacht hat.
Diesmal giebt er eine Liebesgeschichte, die er in die Zeit verlegt, wo der
Kaiser Tiberius sich auf die Insel zurückgezogen hatte; ihre Bewohner und
der Hof des Kaisers bilden die weitere Umgebung. Die Schilderung bedient
sich einer feinen Naturmalerei und aller der kleinen, entlegnen historischen und
antiquarischen Kenntnisse eines außergewöhnlich unterrichteten Philologen, sodaß
in dem ganzen Bilde, wenn es jemand nachprüfen mochte, gewiß kein falscher
Strich zu finden sein wird. Für den Kenner oder Freund des Altertums
ist die Lektüre dieses kleinen Buches gewiß ein ausgesuchter Genuß. Hat das
Bild aber auch, abgesehen von diesem Nciguugswerte, für andre zum Verstehe"
eignes Leben genug, als selbständige Dichtung? Nach meinem Eindruck wirkt
die Schilderung an vielen einzelnen Stellen durchaus überzeugend, an andern
scheint dann freilich Klio mehr beteiligt als eine ihrer Schwester,,, und das
Ganze dürfte heutigen gebildeten Lesern etwa so vorkommen, wie der jetzt ja
viel wieder genannte spätgriechische Roman den Leuten seiner Zeit erschienen sein
mag. Auch das Wunderbare und Geheimnisvolle, was in dem Idyll von
Capri sehr hervortritt, ist von dieser Art: es besteht in Ahnungen, Sinnes¬
täuschungen und Vorbedeutungen- All die bunte Farbenpracht kann doch die
schwermütige Stimmung nicht verscheuchen. Das Märchen mit seinein leichten,


Märchenhafte Romane

Wenig glaublicher Weise von der Wirklichkeit. Der „Henker" ist ein junger
Räuber, der, nachdem er zwei reisende Amerikaner unweit Athens aufgehoben
hat, mit seiner Bande gefangen und zum Tode verurteilt, darauf jedoch unter
der Bedingung begnadigt wird, daß er zehn Jahre lang, auf einer Insel be¬
wacht, das verachtete und wegen der Blutrache gefährliche Amt des Henkers
ausübe, das er zunächst an einigen seiner Gefährten vollziehen muß. Seine
Geliebte, die Tochter eines dieser Opfer, teilt mit ihm das Leben des Aus¬
gestoßenen und wird seine Frau. Die weitere Umgebung -dieser Szene bildet
eine ziemlich verkommne Gesellschaft von Beamten und Militärs aus der Zeit
des Königs Otto, die Haupthandlung besteht in den Thaten und Kämpfen
dieser Räuber bis zu ihrer Gefangennahme. Nach vielen Anfeindungen und
gefahrvollen Abenteuern gelangen sie nach Amerika in den Schutz des einen
der Reisenden, dem der „Henker" und seine Geliebte damals zur Flucht aus
dem Lager der Räuber verhalfen, und mit einer ganz überraschenden Ver¬
lobung zwischen dem jüngsten Mitgliede der ehemaligen Räuberbande und einer
Schwester des reichen Amerikaners schließt die Erzählung. Die Darstellung
ist geschickt, die Schilderung oft sehr spannend, aber erwärmen können wir uns
trotz aller Romantik doch nicht für das seltsame Milieu dieses Profcssoren-
romans.

Das letzte unsrer Bücher: Das Idyll von Capri, aus der Bildermappe
des Bcatus Rhenanus, herausgegeben von Theodor Birk (Marburg, Elwert)
ist nun in der That von einem wirklichen Professor geschrieben worden, der
sich schon durch manche nicht sachwissenschastliche Schrift bekannt gemacht hat.
Diesmal giebt er eine Liebesgeschichte, die er in die Zeit verlegt, wo der
Kaiser Tiberius sich auf die Insel zurückgezogen hatte; ihre Bewohner und
der Hof des Kaisers bilden die weitere Umgebung. Die Schilderung bedient
sich einer feinen Naturmalerei und aller der kleinen, entlegnen historischen und
antiquarischen Kenntnisse eines außergewöhnlich unterrichteten Philologen, sodaß
in dem ganzen Bilde, wenn es jemand nachprüfen mochte, gewiß kein falscher
Strich zu finden sein wird. Für den Kenner oder Freund des Altertums
ist die Lektüre dieses kleinen Buches gewiß ein ausgesuchter Genuß. Hat das
Bild aber auch, abgesehen von diesem Nciguugswerte, für andre zum Verstehe»
eignes Leben genug, als selbständige Dichtung? Nach meinem Eindruck wirkt
die Schilderung an vielen einzelnen Stellen durchaus überzeugend, an andern
scheint dann freilich Klio mehr beteiligt als eine ihrer Schwester,,, und das
Ganze dürfte heutigen gebildeten Lesern etwa so vorkommen, wie der jetzt ja
viel wieder genannte spätgriechische Roman den Leuten seiner Zeit erschienen sein
mag. Auch das Wunderbare und Geheimnisvolle, was in dem Idyll von
Capri sehr hervortritt, ist von dieser Art: es besteht in Ahnungen, Sinnes¬
täuschungen und Vorbedeutungen- All die bunte Farbenpracht kann doch die
schwermütige Stimmung nicht verscheuchen. Das Märchen mit seinein leichten,


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[0057] Märchenhafte Romane Wenig glaublicher Weise von der Wirklichkeit. Der „Henker" ist ein junger Räuber, der, nachdem er zwei reisende Amerikaner unweit Athens aufgehoben hat, mit seiner Bande gefangen und zum Tode verurteilt, darauf jedoch unter der Bedingung begnadigt wird, daß er zehn Jahre lang, auf einer Insel be¬ wacht, das verachtete und wegen der Blutrache gefährliche Amt des Henkers ausübe, das er zunächst an einigen seiner Gefährten vollziehen muß. Seine Geliebte, die Tochter eines dieser Opfer, teilt mit ihm das Leben des Aus¬ gestoßenen und wird seine Frau. Die weitere Umgebung -dieser Szene bildet eine ziemlich verkommne Gesellschaft von Beamten und Militärs aus der Zeit des Königs Otto, die Haupthandlung besteht in den Thaten und Kämpfen dieser Räuber bis zu ihrer Gefangennahme. Nach vielen Anfeindungen und gefahrvollen Abenteuern gelangen sie nach Amerika in den Schutz des einen der Reisenden, dem der „Henker" und seine Geliebte damals zur Flucht aus dem Lager der Räuber verhalfen, und mit einer ganz überraschenden Ver¬ lobung zwischen dem jüngsten Mitgliede der ehemaligen Räuberbande und einer Schwester des reichen Amerikaners schließt die Erzählung. Die Darstellung ist geschickt, die Schilderung oft sehr spannend, aber erwärmen können wir uns trotz aller Romantik doch nicht für das seltsame Milieu dieses Profcssoren- romans. Das letzte unsrer Bücher: Das Idyll von Capri, aus der Bildermappe des Bcatus Rhenanus, herausgegeben von Theodor Birk (Marburg, Elwert) ist nun in der That von einem wirklichen Professor geschrieben worden, der sich schon durch manche nicht sachwissenschastliche Schrift bekannt gemacht hat. Diesmal giebt er eine Liebesgeschichte, die er in die Zeit verlegt, wo der Kaiser Tiberius sich auf die Insel zurückgezogen hatte; ihre Bewohner und der Hof des Kaisers bilden die weitere Umgebung. Die Schilderung bedient sich einer feinen Naturmalerei und aller der kleinen, entlegnen historischen und antiquarischen Kenntnisse eines außergewöhnlich unterrichteten Philologen, sodaß in dem ganzen Bilde, wenn es jemand nachprüfen mochte, gewiß kein falscher Strich zu finden sein wird. Für den Kenner oder Freund des Altertums ist die Lektüre dieses kleinen Buches gewiß ein ausgesuchter Genuß. Hat das Bild aber auch, abgesehen von diesem Nciguugswerte, für andre zum Verstehe» eignes Leben genug, als selbständige Dichtung? Nach meinem Eindruck wirkt die Schilderung an vielen einzelnen Stellen durchaus überzeugend, an andern scheint dann freilich Klio mehr beteiligt als eine ihrer Schwester,,, und das Ganze dürfte heutigen gebildeten Lesern etwa so vorkommen, wie der jetzt ja viel wieder genannte spätgriechische Roman den Leuten seiner Zeit erschienen sein mag. Auch das Wunderbare und Geheimnisvolle, was in dem Idyll von Capri sehr hervortritt, ist von dieser Art: es besteht in Ahnungen, Sinnes¬ täuschungen und Vorbedeutungen- All die bunte Farbenpracht kann doch die schwermütige Stimmung nicht verscheuchen. Das Märchen mit seinein leichten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/57>, abgerufen am 24.07.2024.