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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Lili neuer Streiter wider den Naturalismus

dafür den Bürgerkrieg gewühlt, und Künstler kämpfen gegen Künstler, Kunst¬
kritiker gegen Kunstkritiker, woraus wenigstens der Vorteil erwachsen ist, daß
die Kämpfe mit gleichen Waffen ausgefochten werden.

Welche Stellung soll aber das Publikum, soll der Laie, der von der
Kunst Ergötzung und Erhebung erwartet und verlangt, in diesen Kämpfen
einnehmen? Als ihr Wortführer ist nun Pietschker in seiner "kunstgeschichtlichen
Streitschrift" aufgetreten, und die Gründe, die er für die Notwendigkeit des
Eingriffs eines Laien in diesen Streit beibringt, sind so einleuchtend, daß sie
selbst den "modernsten" Künstler zur Vernunft bringen werden, vorausgesetzt,
daß er noch für die ultimg. ratio, die Rücksicht auf seinen Geldbeutel, einiges
Verständnis hat. "Ohne Wechselwirkung zwischen dem Dilettantismus in
gutem Sinne und den ausübenden Künstlern ist eine Blüte der Kunst gar
nicht möglich; und die groben Urteile, mit denen die "Neuesten" uns zurück¬
stoßen und uns das Verständnis ihrer Schöpfungen absprechen, müssen schlie߬
lich ihrem eignen Kunstleben den Nährboden entziehen. Die kunstliebenden,
laufenden Dilettanten haben mindestens dasselbe Recht wie die schaffenden
Künstler, und die Thätigkeit der Künstler wird schließlich doch immer wieder
von dem Geschmack und der Aufnahmefähigkeit des Publikums beeinflußt."

Es sind einfache Worte, und viele Künstler werden die darin enthaltne
Weisheit vielleicht sogar trivial finden und hochmütig darüber die Achseln
Zucken. Wer aber etwas tiefer in die Geheimnisse des Kunsthandels, hinter
die Kulissen der Kunsthändlermagazine und auch in die Armut vieler Künstler¬
werkstätten geblickt hat, der kann sich der Befürchtung nicht verschließen, daß
die Zeit nicht mehr fern ist, wo diese triviale Weisheit zur furchtbaren Wahr¬
heit führen wird.

Der Titel des Pietschkerschen Buches kann übrigens leicht irre führen.
Er erweckt die Meinung, als richte sich die Streitschrift gegen Gusfow und
den Naturalismus in Deutschland. Es ist aber nicht so. Gussow ist für den
Verfasser nur deshalb der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen geworden, weil
er durch zufällige Umstünde zu ihm in nähere Beziehungen gekommen ist und
in ihm einen Künstler kennen gelernt hat, der mit Ehrlichkeit das vertritt,
was an dem Naturalismus gesund und gut ist. Wir wollen uns hier nicht
weiter bei der Frage aufhalten, ob das Wort Naturalismus das Wesen der
so genannten Kunstrichtung wirklich erschöpft oder nicht, ob vielmehr der
Naturalismus nur eine Weltanschauung, gleichbedeutend mit Materialismus,
aber leine Kunstanschauung ist, zumal da doch jede Kunst irgend ein Verhältnis
zur Natur haben muß, also in gewissem Sinne auch naturalistisch ist. Für
uns genügt es, daß der Begriff Naturalismus dem großen Publikum, ins¬
besondre den gebildeten Laien, zu denen wir hier reden, geläufig geworden ist
als eine bequeme Bezeichnung für eine Anzahl von einzelnen Erscheinungen
und Richtungen in der modernen Kunst, die, unter sich verschieden geartet,


Lili neuer Streiter wider den Naturalismus

dafür den Bürgerkrieg gewühlt, und Künstler kämpfen gegen Künstler, Kunst¬
kritiker gegen Kunstkritiker, woraus wenigstens der Vorteil erwachsen ist, daß
die Kämpfe mit gleichen Waffen ausgefochten werden.

Welche Stellung soll aber das Publikum, soll der Laie, der von der
Kunst Ergötzung und Erhebung erwartet und verlangt, in diesen Kämpfen
einnehmen? Als ihr Wortführer ist nun Pietschker in seiner „kunstgeschichtlichen
Streitschrift" aufgetreten, und die Gründe, die er für die Notwendigkeit des
Eingriffs eines Laien in diesen Streit beibringt, sind so einleuchtend, daß sie
selbst den „modernsten" Künstler zur Vernunft bringen werden, vorausgesetzt,
daß er noch für die ultimg. ratio, die Rücksicht auf seinen Geldbeutel, einiges
Verständnis hat. „Ohne Wechselwirkung zwischen dem Dilettantismus in
gutem Sinne und den ausübenden Künstlern ist eine Blüte der Kunst gar
nicht möglich; und die groben Urteile, mit denen die »Neuesten« uns zurück¬
stoßen und uns das Verständnis ihrer Schöpfungen absprechen, müssen schlie߬
lich ihrem eignen Kunstleben den Nährboden entziehen. Die kunstliebenden,
laufenden Dilettanten haben mindestens dasselbe Recht wie die schaffenden
Künstler, und die Thätigkeit der Künstler wird schließlich doch immer wieder
von dem Geschmack und der Aufnahmefähigkeit des Publikums beeinflußt."

Es sind einfache Worte, und viele Künstler werden die darin enthaltne
Weisheit vielleicht sogar trivial finden und hochmütig darüber die Achseln
Zucken. Wer aber etwas tiefer in die Geheimnisse des Kunsthandels, hinter
die Kulissen der Kunsthändlermagazine und auch in die Armut vieler Künstler¬
werkstätten geblickt hat, der kann sich der Befürchtung nicht verschließen, daß
die Zeit nicht mehr fern ist, wo diese triviale Weisheit zur furchtbaren Wahr¬
heit führen wird.

Der Titel des Pietschkerschen Buches kann übrigens leicht irre führen.
Er erweckt die Meinung, als richte sich die Streitschrift gegen Gusfow und
den Naturalismus in Deutschland. Es ist aber nicht so. Gussow ist für den
Verfasser nur deshalb der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen geworden, weil
er durch zufällige Umstünde zu ihm in nähere Beziehungen gekommen ist und
in ihm einen Künstler kennen gelernt hat, der mit Ehrlichkeit das vertritt,
was an dem Naturalismus gesund und gut ist. Wir wollen uns hier nicht
weiter bei der Frage aufhalten, ob das Wort Naturalismus das Wesen der
so genannten Kunstrichtung wirklich erschöpft oder nicht, ob vielmehr der
Naturalismus nur eine Weltanschauung, gleichbedeutend mit Materialismus,
aber leine Kunstanschauung ist, zumal da doch jede Kunst irgend ein Verhältnis
zur Natur haben muß, also in gewissem Sinne auch naturalistisch ist. Für
uns genügt es, daß der Begriff Naturalismus dem großen Publikum, ins¬
besondre den gebildeten Laien, zu denen wir hier reden, geläufig geworden ist
als eine bequeme Bezeichnung für eine Anzahl von einzelnen Erscheinungen
und Richtungen in der modernen Kunst, die, unter sich verschieden geartet,


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[0323] Lili neuer Streiter wider den Naturalismus dafür den Bürgerkrieg gewühlt, und Künstler kämpfen gegen Künstler, Kunst¬ kritiker gegen Kunstkritiker, woraus wenigstens der Vorteil erwachsen ist, daß die Kämpfe mit gleichen Waffen ausgefochten werden. Welche Stellung soll aber das Publikum, soll der Laie, der von der Kunst Ergötzung und Erhebung erwartet und verlangt, in diesen Kämpfen einnehmen? Als ihr Wortführer ist nun Pietschker in seiner „kunstgeschichtlichen Streitschrift" aufgetreten, und die Gründe, die er für die Notwendigkeit des Eingriffs eines Laien in diesen Streit beibringt, sind so einleuchtend, daß sie selbst den „modernsten" Künstler zur Vernunft bringen werden, vorausgesetzt, daß er noch für die ultimg. ratio, die Rücksicht auf seinen Geldbeutel, einiges Verständnis hat. „Ohne Wechselwirkung zwischen dem Dilettantismus in gutem Sinne und den ausübenden Künstlern ist eine Blüte der Kunst gar nicht möglich; und die groben Urteile, mit denen die »Neuesten« uns zurück¬ stoßen und uns das Verständnis ihrer Schöpfungen absprechen, müssen schlie߬ lich ihrem eignen Kunstleben den Nährboden entziehen. Die kunstliebenden, laufenden Dilettanten haben mindestens dasselbe Recht wie die schaffenden Künstler, und die Thätigkeit der Künstler wird schließlich doch immer wieder von dem Geschmack und der Aufnahmefähigkeit des Publikums beeinflußt." Es sind einfache Worte, und viele Künstler werden die darin enthaltne Weisheit vielleicht sogar trivial finden und hochmütig darüber die Achseln Zucken. Wer aber etwas tiefer in die Geheimnisse des Kunsthandels, hinter die Kulissen der Kunsthändlermagazine und auch in die Armut vieler Künstler¬ werkstätten geblickt hat, der kann sich der Befürchtung nicht verschließen, daß die Zeit nicht mehr fern ist, wo diese triviale Weisheit zur furchtbaren Wahr¬ heit führen wird. Der Titel des Pietschkerschen Buches kann übrigens leicht irre führen. Er erweckt die Meinung, als richte sich die Streitschrift gegen Gusfow und den Naturalismus in Deutschland. Es ist aber nicht so. Gussow ist für den Verfasser nur deshalb der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen geworden, weil er durch zufällige Umstünde zu ihm in nähere Beziehungen gekommen ist und in ihm einen Künstler kennen gelernt hat, der mit Ehrlichkeit das vertritt, was an dem Naturalismus gesund und gut ist. Wir wollen uns hier nicht weiter bei der Frage aufhalten, ob das Wort Naturalismus das Wesen der so genannten Kunstrichtung wirklich erschöpft oder nicht, ob vielmehr der Naturalismus nur eine Weltanschauung, gleichbedeutend mit Materialismus, aber leine Kunstanschauung ist, zumal da doch jede Kunst irgend ein Verhältnis zur Natur haben muß, also in gewissem Sinne auch naturalistisch ist. Für uns genügt es, daß der Begriff Naturalismus dem großen Publikum, ins¬ besondre den gebildeten Laien, zu denen wir hier reden, geläufig geworden ist als eine bequeme Bezeichnung für eine Anzahl von einzelnen Erscheinungen und Richtungen in der modernen Kunst, die, unter sich verschieden geartet,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/323>, abgerufen am 24.07.2024.