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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Tastbare Malerei

Wir bei Michelangelo den Eindruck der vollen Körperlichkeit. Man sollte
meinen, das wäre ziemlich selbstverständlich, und wir haben mit dem eben ge¬
sagten auch das Neue, was uns Berenson lehrt, noch gar nicht berührt. Es
besteht, soweit wir zu urteilen vermögen, auch nicht in einer von der bis¬
herigen abweichenden Erkenntnis der Sache, sondern in einer etwas ungewöhn¬
lichen Terminologie. Gut geprägte Ausdrücke machen Eindruck, namentlich
wenn sie oft wiederholt werden; sie wirken dann wie mathematische Formeln
auf solche, denen die Mathematik nicht tägliche Beschäftigung ist, sie isoliren
die jedesmalige Sachvorstellnng und schürfen die Aufmerksamkeit, sie haben
etwas von der Wirkung einer Zauberformel in sich, und irren wir nicht, so
beruhen der Wert des Berensonschen Buches und der Beifall, den es gefunden
hat, auf der wohlangewandten Kunst einer solchen mit ungewohnten Formu¬
lirungen arbeitenden Darstellung. Übertragen wir also nun jene oben gegebnen
einfachen Sätze über die florentinischen Figurenmaler in die weit interessantere
Sprache Berensons!

Die Malerei mit nur zwei Dimensionen konstruirt sich eine dritte. Die
Empfindung von der dritten giebt uns als Kindern nicht das Auge, sondern
der Tastsinn; später vergessen wir diesen Ursprung und sehen auch mit den
Augen dreidimensional. Diese großen florentinischen Figurenmaler regen also
unsre Tastvorstellung an, sie veranlassen uns, unsern Netzhautempfindungen
"Taktilwerte" zu geben, wir erkennen Greifbares, also Wirklichkeit. Je voll-
kommnere Taktilwerte sie darstellen, desto bessere Künstler sind sie. Diese
taktile Wirklichkeit erfreut uns im Bilde noch mehr als an dem Naturobjekt.
Auf der Empfindung dieses im Bilde wiedergegebnen Taktiken beruht in erster
Linie der ästhetische Genuß, erst in zweiter Linie kommen die andern Genüsse
der Komposition, der Bewegung, der Gedankenassoziation und der Farbe (die
ja in der That bei den Florentinern weniger bedeutet als die Zeichnung und
die Form). Die Charakteristik der einzelnen Künstler durch Berenson und die
geschichtliche Entwicklung der florentinischen Malerei erfolgt nun hauptsächlich
durch die jedesmalige Vorführung der Taktilitüt, aber so, daß, wie es bei der
Anwendung von Formeln zu geschehen pflegt, die Mannigfaltigkeit der Er¬
scheinungen nicht immer zu ihrem Rechte kommt.

Das zeigt sich gleich bei der Behandlung Mottos. Unsre Tastvorstellung,
meint der Verfasser, fühle sich durch eine thronende Madonna von ihm, die
in der Akademie hängt, sofort zu spielen angeregt. "Unsre Handflächen und
Finger begleiten unsre Augen viel rascher als bei wirklichen Gegenständen,
indem unsre Empfindungen mit den verschiednen dargestellten Projektionen be¬
ständig wechseln." In Bezug auf Orcciguas Altarbild in S. Maria Novella
heißt es: "wie bei Giotto haben wir Taktilwerte, materielle Signifikanz; die
Figuren haben künstlerisches Dasein." Und dieses "Gefühl für das Signifi¬
kante" scheint der Verfasser an einer dritten Stelle, da wo er Giottos allego-


Tastbare Malerei

Wir bei Michelangelo den Eindruck der vollen Körperlichkeit. Man sollte
meinen, das wäre ziemlich selbstverständlich, und wir haben mit dem eben ge¬
sagten auch das Neue, was uns Berenson lehrt, noch gar nicht berührt. Es
besteht, soweit wir zu urteilen vermögen, auch nicht in einer von der bis¬
herigen abweichenden Erkenntnis der Sache, sondern in einer etwas ungewöhn¬
lichen Terminologie. Gut geprägte Ausdrücke machen Eindruck, namentlich
wenn sie oft wiederholt werden; sie wirken dann wie mathematische Formeln
auf solche, denen die Mathematik nicht tägliche Beschäftigung ist, sie isoliren
die jedesmalige Sachvorstellnng und schürfen die Aufmerksamkeit, sie haben
etwas von der Wirkung einer Zauberformel in sich, und irren wir nicht, so
beruhen der Wert des Berensonschen Buches und der Beifall, den es gefunden
hat, auf der wohlangewandten Kunst einer solchen mit ungewohnten Formu¬
lirungen arbeitenden Darstellung. Übertragen wir also nun jene oben gegebnen
einfachen Sätze über die florentinischen Figurenmaler in die weit interessantere
Sprache Berensons!

Die Malerei mit nur zwei Dimensionen konstruirt sich eine dritte. Die
Empfindung von der dritten giebt uns als Kindern nicht das Auge, sondern
der Tastsinn; später vergessen wir diesen Ursprung und sehen auch mit den
Augen dreidimensional. Diese großen florentinischen Figurenmaler regen also
unsre Tastvorstellung an, sie veranlassen uns, unsern Netzhautempfindungen
„Taktilwerte" zu geben, wir erkennen Greifbares, also Wirklichkeit. Je voll-
kommnere Taktilwerte sie darstellen, desto bessere Künstler sind sie. Diese
taktile Wirklichkeit erfreut uns im Bilde noch mehr als an dem Naturobjekt.
Auf der Empfindung dieses im Bilde wiedergegebnen Taktiken beruht in erster
Linie der ästhetische Genuß, erst in zweiter Linie kommen die andern Genüsse
der Komposition, der Bewegung, der Gedankenassoziation und der Farbe (die
ja in der That bei den Florentinern weniger bedeutet als die Zeichnung und
die Form). Die Charakteristik der einzelnen Künstler durch Berenson und die
geschichtliche Entwicklung der florentinischen Malerei erfolgt nun hauptsächlich
durch die jedesmalige Vorführung der Taktilitüt, aber so, daß, wie es bei der
Anwendung von Formeln zu geschehen pflegt, die Mannigfaltigkeit der Er¬
scheinungen nicht immer zu ihrem Rechte kommt.

Das zeigt sich gleich bei der Behandlung Mottos. Unsre Tastvorstellung,
meint der Verfasser, fühle sich durch eine thronende Madonna von ihm, die
in der Akademie hängt, sofort zu spielen angeregt. „Unsre Handflächen und
Finger begleiten unsre Augen viel rascher als bei wirklichen Gegenständen,
indem unsre Empfindungen mit den verschiednen dargestellten Projektionen be¬
ständig wechseln." In Bezug auf Orcciguas Altarbild in S. Maria Novella
heißt es: „wie bei Giotto haben wir Taktilwerte, materielle Signifikanz; die
Figuren haben künstlerisches Dasein." Und dieses „Gefühl für das Signifi¬
kante" scheint der Verfasser an einer dritten Stelle, da wo er Giottos allego-


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[0314] Tastbare Malerei Wir bei Michelangelo den Eindruck der vollen Körperlichkeit. Man sollte meinen, das wäre ziemlich selbstverständlich, und wir haben mit dem eben ge¬ sagten auch das Neue, was uns Berenson lehrt, noch gar nicht berührt. Es besteht, soweit wir zu urteilen vermögen, auch nicht in einer von der bis¬ herigen abweichenden Erkenntnis der Sache, sondern in einer etwas ungewöhn¬ lichen Terminologie. Gut geprägte Ausdrücke machen Eindruck, namentlich wenn sie oft wiederholt werden; sie wirken dann wie mathematische Formeln auf solche, denen die Mathematik nicht tägliche Beschäftigung ist, sie isoliren die jedesmalige Sachvorstellnng und schürfen die Aufmerksamkeit, sie haben etwas von der Wirkung einer Zauberformel in sich, und irren wir nicht, so beruhen der Wert des Berensonschen Buches und der Beifall, den es gefunden hat, auf der wohlangewandten Kunst einer solchen mit ungewohnten Formu¬ lirungen arbeitenden Darstellung. Übertragen wir also nun jene oben gegebnen einfachen Sätze über die florentinischen Figurenmaler in die weit interessantere Sprache Berensons! Die Malerei mit nur zwei Dimensionen konstruirt sich eine dritte. Die Empfindung von der dritten giebt uns als Kindern nicht das Auge, sondern der Tastsinn; später vergessen wir diesen Ursprung und sehen auch mit den Augen dreidimensional. Diese großen florentinischen Figurenmaler regen also unsre Tastvorstellung an, sie veranlassen uns, unsern Netzhautempfindungen „Taktilwerte" zu geben, wir erkennen Greifbares, also Wirklichkeit. Je voll- kommnere Taktilwerte sie darstellen, desto bessere Künstler sind sie. Diese taktile Wirklichkeit erfreut uns im Bilde noch mehr als an dem Naturobjekt. Auf der Empfindung dieses im Bilde wiedergegebnen Taktiken beruht in erster Linie der ästhetische Genuß, erst in zweiter Linie kommen die andern Genüsse der Komposition, der Bewegung, der Gedankenassoziation und der Farbe (die ja in der That bei den Florentinern weniger bedeutet als die Zeichnung und die Form). Die Charakteristik der einzelnen Künstler durch Berenson und die geschichtliche Entwicklung der florentinischen Malerei erfolgt nun hauptsächlich durch die jedesmalige Vorführung der Taktilitüt, aber so, daß, wie es bei der Anwendung von Formeln zu geschehen pflegt, die Mannigfaltigkeit der Er¬ scheinungen nicht immer zu ihrem Rechte kommt. Das zeigt sich gleich bei der Behandlung Mottos. Unsre Tastvorstellung, meint der Verfasser, fühle sich durch eine thronende Madonna von ihm, die in der Akademie hängt, sofort zu spielen angeregt. „Unsre Handflächen und Finger begleiten unsre Augen viel rascher als bei wirklichen Gegenständen, indem unsre Empfindungen mit den verschiednen dargestellten Projektionen be¬ ständig wechseln." In Bezug auf Orcciguas Altarbild in S. Maria Novella heißt es: „wie bei Giotto haben wir Taktilwerte, materielle Signifikanz; die Figuren haben künstlerisches Dasein." Und dieses „Gefühl für das Signifi¬ kante" scheint der Verfasser an einer dritten Stelle, da wo er Giottos allego-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/314>, abgerufen am 12.12.2024.