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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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jedem wirtschaftlichen Druck und Zuge folgt, der ist er in der That. Der
Leser mag selbst überlegen, ob nicht die Weltwirtschaft, die Konkurrenzjagd
und sonst noch so manches zusammenwirken, auch die Angehörigen andrer
Stände der Wassertropfennatur nahe zu bringen. Und noch in einer andern
Beziehung wird die zweite Abstraktion von Zeit zu Zeit Wirklichkeit, während
die erste immer Abstraktion bleibt. Wenn der wirtschaftliche Druck, den eine
ganze Bevölkerungsschicht oder gar ein ganzes Volk zu erleiden hat, einen
gewissen Grad erreicht, dann ist er stark genug, diese Schicht, dieses Volk in
seiner Gesamtheit vom Boden loszureißen und auf einen andern Boden zu
schwemmen. Von dieser Seite gesehen, bilden Völkerwanderungen den Haupt¬
inhalt der Weltgeschichte. Heute erleben wir die beiden sich kreuzenden Strö¬
mungen, die Arbeiter von Osten nach Westen und von Süden nach Norden
führen, und den über sie hinweggehenden Zug des Kapitals, das sich, vorerst
nur einzelne Menschen mit sich führend, von Norden nach Süden und von
Westen nach Osten ergießt, das aber, falls es Erfolg haben sollte, dann
größere Menschenmassen sowohl in der Heimat als in den okkupirten Ländern
in Bewegung setzen würde. Der Druck, der Völkerwanderungen erzeugt, der
also ganze Völker vom Heimatboden losreißt, ist natürlich auch stark genug,
alle andern Bande zu sprengen; freilich werden diese desto mehr geschont, je
zahlreicher die AuSwandrermasse ist; denn wenn z. V. eine ganze Bauernschaft
auswandert, fo bleiben nicht allein die Familien unzerrissen und die Freunde
beisammen, sondern die Auswandrer nehmen ihre ganze geistige Heimat mit.
soweit diese nicht, wie die Liebe zu den Bergen, an den Boden gebunden ist:
ihre Wirtschaftsweise, ihre Lebensgewohnheiten, ihre Sprache, ihr Kirchen¬
wesen (ihre Götter, wie es in alten Zeiten bei der Neugründung von Ko¬
lonien hieß).

Der dritte Irrtum besteht darin, daß in der gedachten Tauschgesellschaft
weder Ausbeutung möglich sein noch Eigentum an Grund und Boden soll
entstehen können. Selbst in dem undenkbaren Falle, daß eine zivilisirte Gesell¬
schaft eine Zeit lang ohne Rechtsinstitutionen sollte leben können, würden sich
Ausbeutung, Grundeigentum und die ihnen entsprechenden Einrichtungen bald
einstellen. Denn die Einfältigern, Trägern, Schwächern und Fnrchtsamern
würden beim Tausch von den Klügern, Stärkern, Emsigern und Kühnern
übervorteilt werden, es würden so Vermögensunterschiedc entstehen, und die
Reichern würden zum Schutze ihres Erwerbs Gesetze erlassen. Daß aber bei
reichlich vorhandnen freien Land der Boden an sich keinen Tauschwert haben
könne, ist eine ganz wunderliche Einbildung. Land urbar machen und neue
Hütten bauen ist eine sehr mühsame Arbeit, und auf die Vorteile der Kultur
verzichten, um sich in der Wildnis eine neue, unabhängige Existenz zu gründen,
das erfordert einen heldenmütigen Entschluß. Daran ist daher gar nicht zu
denken, daß jeder Bauer oder Handwerker, sobald er Druck zu spüren anfängt,


verbesserter Smithianismns

jedem wirtschaftlichen Druck und Zuge folgt, der ist er in der That. Der
Leser mag selbst überlegen, ob nicht die Weltwirtschaft, die Konkurrenzjagd
und sonst noch so manches zusammenwirken, auch die Angehörigen andrer
Stände der Wassertropfennatur nahe zu bringen. Und noch in einer andern
Beziehung wird die zweite Abstraktion von Zeit zu Zeit Wirklichkeit, während
die erste immer Abstraktion bleibt. Wenn der wirtschaftliche Druck, den eine
ganze Bevölkerungsschicht oder gar ein ganzes Volk zu erleiden hat, einen
gewissen Grad erreicht, dann ist er stark genug, diese Schicht, dieses Volk in
seiner Gesamtheit vom Boden loszureißen und auf einen andern Boden zu
schwemmen. Von dieser Seite gesehen, bilden Völkerwanderungen den Haupt¬
inhalt der Weltgeschichte. Heute erleben wir die beiden sich kreuzenden Strö¬
mungen, die Arbeiter von Osten nach Westen und von Süden nach Norden
führen, und den über sie hinweggehenden Zug des Kapitals, das sich, vorerst
nur einzelne Menschen mit sich führend, von Norden nach Süden und von
Westen nach Osten ergießt, das aber, falls es Erfolg haben sollte, dann
größere Menschenmassen sowohl in der Heimat als in den okkupirten Ländern
in Bewegung setzen würde. Der Druck, der Völkerwanderungen erzeugt, der
also ganze Völker vom Heimatboden losreißt, ist natürlich auch stark genug,
alle andern Bande zu sprengen; freilich werden diese desto mehr geschont, je
zahlreicher die AuSwandrermasse ist; denn wenn z. V. eine ganze Bauernschaft
auswandert, fo bleiben nicht allein die Familien unzerrissen und die Freunde
beisammen, sondern die Auswandrer nehmen ihre ganze geistige Heimat mit.
soweit diese nicht, wie die Liebe zu den Bergen, an den Boden gebunden ist:
ihre Wirtschaftsweise, ihre Lebensgewohnheiten, ihre Sprache, ihr Kirchen¬
wesen (ihre Götter, wie es in alten Zeiten bei der Neugründung von Ko¬
lonien hieß).

Der dritte Irrtum besteht darin, daß in der gedachten Tauschgesellschaft
weder Ausbeutung möglich sein noch Eigentum an Grund und Boden soll
entstehen können. Selbst in dem undenkbaren Falle, daß eine zivilisirte Gesell¬
schaft eine Zeit lang ohne Rechtsinstitutionen sollte leben können, würden sich
Ausbeutung, Grundeigentum und die ihnen entsprechenden Einrichtungen bald
einstellen. Denn die Einfältigern, Trägern, Schwächern und Fnrchtsamern
würden beim Tausch von den Klügern, Stärkern, Emsigern und Kühnern
übervorteilt werden, es würden so Vermögensunterschiedc entstehen, und die
Reichern würden zum Schutze ihres Erwerbs Gesetze erlassen. Daß aber bei
reichlich vorhandnen freien Land der Boden an sich keinen Tauschwert haben
könne, ist eine ganz wunderliche Einbildung. Land urbar machen und neue
Hütten bauen ist eine sehr mühsame Arbeit, und auf die Vorteile der Kultur
verzichten, um sich in der Wildnis eine neue, unabhängige Existenz zu gründen,
das erfordert einen heldenmütigen Entschluß. Daran ist daher gar nicht zu
denken, daß jeder Bauer oder Handwerker, sobald er Druck zu spüren anfängt,


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[0302] verbesserter Smithianismns jedem wirtschaftlichen Druck und Zuge folgt, der ist er in der That. Der Leser mag selbst überlegen, ob nicht die Weltwirtschaft, die Konkurrenzjagd und sonst noch so manches zusammenwirken, auch die Angehörigen andrer Stände der Wassertropfennatur nahe zu bringen. Und noch in einer andern Beziehung wird die zweite Abstraktion von Zeit zu Zeit Wirklichkeit, während die erste immer Abstraktion bleibt. Wenn der wirtschaftliche Druck, den eine ganze Bevölkerungsschicht oder gar ein ganzes Volk zu erleiden hat, einen gewissen Grad erreicht, dann ist er stark genug, diese Schicht, dieses Volk in seiner Gesamtheit vom Boden loszureißen und auf einen andern Boden zu schwemmen. Von dieser Seite gesehen, bilden Völkerwanderungen den Haupt¬ inhalt der Weltgeschichte. Heute erleben wir die beiden sich kreuzenden Strö¬ mungen, die Arbeiter von Osten nach Westen und von Süden nach Norden führen, und den über sie hinweggehenden Zug des Kapitals, das sich, vorerst nur einzelne Menschen mit sich führend, von Norden nach Süden und von Westen nach Osten ergießt, das aber, falls es Erfolg haben sollte, dann größere Menschenmassen sowohl in der Heimat als in den okkupirten Ländern in Bewegung setzen würde. Der Druck, der Völkerwanderungen erzeugt, der also ganze Völker vom Heimatboden losreißt, ist natürlich auch stark genug, alle andern Bande zu sprengen; freilich werden diese desto mehr geschont, je zahlreicher die AuSwandrermasse ist; denn wenn z. V. eine ganze Bauernschaft auswandert, fo bleiben nicht allein die Familien unzerrissen und die Freunde beisammen, sondern die Auswandrer nehmen ihre ganze geistige Heimat mit. soweit diese nicht, wie die Liebe zu den Bergen, an den Boden gebunden ist: ihre Wirtschaftsweise, ihre Lebensgewohnheiten, ihre Sprache, ihr Kirchen¬ wesen (ihre Götter, wie es in alten Zeiten bei der Neugründung von Ko¬ lonien hieß). Der dritte Irrtum besteht darin, daß in der gedachten Tauschgesellschaft weder Ausbeutung möglich sein noch Eigentum an Grund und Boden soll entstehen können. Selbst in dem undenkbaren Falle, daß eine zivilisirte Gesell¬ schaft eine Zeit lang ohne Rechtsinstitutionen sollte leben können, würden sich Ausbeutung, Grundeigentum und die ihnen entsprechenden Einrichtungen bald einstellen. Denn die Einfältigern, Trägern, Schwächern und Fnrchtsamern würden beim Tausch von den Klügern, Stärkern, Emsigern und Kühnern übervorteilt werden, es würden so Vermögensunterschiedc entstehen, und die Reichern würden zum Schutze ihres Erwerbs Gesetze erlassen. Daß aber bei reichlich vorhandnen freien Land der Boden an sich keinen Tauschwert haben könne, ist eine ganz wunderliche Einbildung. Land urbar machen und neue Hütten bauen ist eine sehr mühsame Arbeit, und auf die Vorteile der Kultur verzichten, um sich in der Wildnis eine neue, unabhängige Existenz zu gründen, das erfordert einen heldenmütigen Entschluß. Daran ist daher gar nicht zu denken, daß jeder Bauer oder Handwerker, sobald er Druck zu spüren anfängt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/302>, abgerufen am 24.07.2024.