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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

düstern Weltlaufs, teils hellt sie ihn auf durch den Strahl der Gerechtigkeit
und Vernunft, der durch alle Stürme seinen Weg findet. Sie erregt in uns
Zustimmung dazu, daß es schön sei, stark im Thun und standhaft im Leiden zu
sein. Sie belehrt uns über die Illusionen, mit denen wir so gern die Güter
vergolden, die uns vorenthalten sind. Sie berichtigt unser Urteil über die
Leidenschaften. Sie stärkt unsern Stolz und unsre Bescheidung. In ihren
höchsten Erscheinungen ist sie eine Kompensation des Weltlaufs, ein Idealbild,
wie wir es sonst nicht sehen, mit sonnigen Höhen und düstern Abgründen.
Es heißt nicht, die Tragödie herabsetzen, wenn man meint, daß sie den Geist
in eine Art Rausch versetzt, nur daß auf diesen keine Ernüchterung folgt, wie
auf die populären Arten des Rausches.

Nach einigen Bemerkungen über den modernen Begriff des Tragischen
und das Drama, das sich vorzugsweise mit dem Schicksal der niedrigstehenden
beschäftigt, der bürgerlichen Personen, denen es an der für die Tragödie
nötigen "Fallhöhe" fehlt (Schopenhauer), bekommen wir eine abschließende Be¬
trachtung, die, um Brnchmanns ganze Weise zu veranschaulichen, vollständig
wiedergegeben sein mag. "Sahen wir die Tragödie auch als eine Kompensa¬
tion an, welche sich die Menschen sür die Betrachtung des Weltlaufs geschaffen
haben, so werden wir zugestehen müssen, daß die Tragödie sür den Haushalt
des geistigen Lebens entbehrlicher wäre als das Lustspiel. Denn sür alle
traurigen Komplikationen des Lebens hat die Religion eine Antwort, auch
ohne daß sie in Kunstwerken zu uns spricht. Daß man sich damit nicht
begnügt, wird daher kommen, daß ihre Aussprüche doch verhältnismäßig zu
allgemein sind. Sie sind ja unzweifelhaft dauerhafter als die Tragödie, in
ihrer Einfachheit ergreifender und verstündlicher, von einer unendlichen, wunder¬
baren Anwendbarkeit, sodaß diese Edelsteine strahlen, wie man sie auch wenden
mag. Aber sie sind nicht so individuell anschaulich, wie handelnde Menschen,
die, ins Leben hineingeführt, oft schuldig werden und der Pein verfallen. Sei
nicht allzufromm und erzeige dich nicht übermäßig weise, warum willst du dich
zu Grunde richten, heißes beim Prediger und hat einen tiefen Sinn, voll von
mannigfacher Anwendbarkeit. Wie anders wirkt er aber als abstrakte Formel
und als konkrete Wahrheit, die sich in dem Schicksal der vor uns handelnden
Menschen anschaulich darstellt."

Steigers "Werden des neuen Dramas" wird jeder höchst unterhaltend
finden, Sittenbergers Dramaturgie ist außerdem noch belehrend, Brnchmanns
Poetik aber ist ein wirklich tiefes Buch.

Jenes bürgerliche Schauspiel, in dem die Personen nicht die nötige
"Fallhöhe" haben, hat zum Gegenstand einer kurzen geschichtlichen Darstellung
gemacht Arthur Eloesser: Das bürgerliche Drama, seine Geschichte im
achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert (Berlin, Hertz). Er behandelt in
einzelnen Kapiteln Lillos Kaufmann von London in Verbindung mit Lessings


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

düstern Weltlaufs, teils hellt sie ihn auf durch den Strahl der Gerechtigkeit
und Vernunft, der durch alle Stürme seinen Weg findet. Sie erregt in uns
Zustimmung dazu, daß es schön sei, stark im Thun und standhaft im Leiden zu
sein. Sie belehrt uns über die Illusionen, mit denen wir so gern die Güter
vergolden, die uns vorenthalten sind. Sie berichtigt unser Urteil über die
Leidenschaften. Sie stärkt unsern Stolz und unsre Bescheidung. In ihren
höchsten Erscheinungen ist sie eine Kompensation des Weltlaufs, ein Idealbild,
wie wir es sonst nicht sehen, mit sonnigen Höhen und düstern Abgründen.
Es heißt nicht, die Tragödie herabsetzen, wenn man meint, daß sie den Geist
in eine Art Rausch versetzt, nur daß auf diesen keine Ernüchterung folgt, wie
auf die populären Arten des Rausches.

Nach einigen Bemerkungen über den modernen Begriff des Tragischen
und das Drama, das sich vorzugsweise mit dem Schicksal der niedrigstehenden
beschäftigt, der bürgerlichen Personen, denen es an der für die Tragödie
nötigen „Fallhöhe" fehlt (Schopenhauer), bekommen wir eine abschließende Be¬
trachtung, die, um Brnchmanns ganze Weise zu veranschaulichen, vollständig
wiedergegeben sein mag. „Sahen wir die Tragödie auch als eine Kompensa¬
tion an, welche sich die Menschen sür die Betrachtung des Weltlaufs geschaffen
haben, so werden wir zugestehen müssen, daß die Tragödie sür den Haushalt
des geistigen Lebens entbehrlicher wäre als das Lustspiel. Denn sür alle
traurigen Komplikationen des Lebens hat die Religion eine Antwort, auch
ohne daß sie in Kunstwerken zu uns spricht. Daß man sich damit nicht
begnügt, wird daher kommen, daß ihre Aussprüche doch verhältnismäßig zu
allgemein sind. Sie sind ja unzweifelhaft dauerhafter als die Tragödie, in
ihrer Einfachheit ergreifender und verstündlicher, von einer unendlichen, wunder¬
baren Anwendbarkeit, sodaß diese Edelsteine strahlen, wie man sie auch wenden
mag. Aber sie sind nicht so individuell anschaulich, wie handelnde Menschen,
die, ins Leben hineingeführt, oft schuldig werden und der Pein verfallen. Sei
nicht allzufromm und erzeige dich nicht übermäßig weise, warum willst du dich
zu Grunde richten, heißes beim Prediger und hat einen tiefen Sinn, voll von
mannigfacher Anwendbarkeit. Wie anders wirkt er aber als abstrakte Formel
und als konkrete Wahrheit, die sich in dem Schicksal der vor uns handelnden
Menschen anschaulich darstellt."

Steigers „Werden des neuen Dramas" wird jeder höchst unterhaltend
finden, Sittenbergers Dramaturgie ist außerdem noch belehrend, Brnchmanns
Poetik aber ist ein wirklich tiefes Buch.

Jenes bürgerliche Schauspiel, in dem die Personen nicht die nötige
„Fallhöhe" haben, hat zum Gegenstand einer kurzen geschichtlichen Darstellung
gemacht Arthur Eloesser: Das bürgerliche Drama, seine Geschichte im
achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert (Berlin, Hertz). Er behandelt in
einzelnen Kapiteln Lillos Kaufmann von London in Verbindung mit Lessings


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[0155] Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche düstern Weltlaufs, teils hellt sie ihn auf durch den Strahl der Gerechtigkeit und Vernunft, der durch alle Stürme seinen Weg findet. Sie erregt in uns Zustimmung dazu, daß es schön sei, stark im Thun und standhaft im Leiden zu sein. Sie belehrt uns über die Illusionen, mit denen wir so gern die Güter vergolden, die uns vorenthalten sind. Sie berichtigt unser Urteil über die Leidenschaften. Sie stärkt unsern Stolz und unsre Bescheidung. In ihren höchsten Erscheinungen ist sie eine Kompensation des Weltlaufs, ein Idealbild, wie wir es sonst nicht sehen, mit sonnigen Höhen und düstern Abgründen. Es heißt nicht, die Tragödie herabsetzen, wenn man meint, daß sie den Geist in eine Art Rausch versetzt, nur daß auf diesen keine Ernüchterung folgt, wie auf die populären Arten des Rausches. Nach einigen Bemerkungen über den modernen Begriff des Tragischen und das Drama, das sich vorzugsweise mit dem Schicksal der niedrigstehenden beschäftigt, der bürgerlichen Personen, denen es an der für die Tragödie nötigen „Fallhöhe" fehlt (Schopenhauer), bekommen wir eine abschließende Be¬ trachtung, die, um Brnchmanns ganze Weise zu veranschaulichen, vollständig wiedergegeben sein mag. „Sahen wir die Tragödie auch als eine Kompensa¬ tion an, welche sich die Menschen sür die Betrachtung des Weltlaufs geschaffen haben, so werden wir zugestehen müssen, daß die Tragödie sür den Haushalt des geistigen Lebens entbehrlicher wäre als das Lustspiel. Denn sür alle traurigen Komplikationen des Lebens hat die Religion eine Antwort, auch ohne daß sie in Kunstwerken zu uns spricht. Daß man sich damit nicht begnügt, wird daher kommen, daß ihre Aussprüche doch verhältnismäßig zu allgemein sind. Sie sind ja unzweifelhaft dauerhafter als die Tragödie, in ihrer Einfachheit ergreifender und verstündlicher, von einer unendlichen, wunder¬ baren Anwendbarkeit, sodaß diese Edelsteine strahlen, wie man sie auch wenden mag. Aber sie sind nicht so individuell anschaulich, wie handelnde Menschen, die, ins Leben hineingeführt, oft schuldig werden und der Pein verfallen. Sei nicht allzufromm und erzeige dich nicht übermäßig weise, warum willst du dich zu Grunde richten, heißes beim Prediger und hat einen tiefen Sinn, voll von mannigfacher Anwendbarkeit. Wie anders wirkt er aber als abstrakte Formel und als konkrete Wahrheit, die sich in dem Schicksal der vor uns handelnden Menschen anschaulich darstellt." Steigers „Werden des neuen Dramas" wird jeder höchst unterhaltend finden, Sittenbergers Dramaturgie ist außerdem noch belehrend, Brnchmanns Poetik aber ist ein wirklich tiefes Buch. Jenes bürgerliche Schauspiel, in dem die Personen nicht die nötige „Fallhöhe" haben, hat zum Gegenstand einer kurzen geschichtlichen Darstellung gemacht Arthur Eloesser: Das bürgerliche Drama, seine Geschichte im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert (Berlin, Hertz). Er behandelt in einzelnen Kapiteln Lillos Kaufmann von London in Verbindung mit Lessings

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/155>, abgerufen am 12.12.2024.