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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

müsse es streng naturalistisch sein. Der Dramatiker giebt nur Worte, alles
andre überläßt er dem Schauspieler. Der Dichter macht sichs also leicht,
werden wir denken, aber nein, er sieht geistig den ganzen Menschen, der
Schauspieler macht ihn körperlich leben: "Jedes Räuspern, jede Pause, jede
Stockung der Rede, jedes Anakoluth wird zu einer Offenbarung menschlicher
Gedanken und Gefühle." Dem Schauspieler erwachsen aus diesem neuen Drama
ganz neue Aufgaben. "Die Kunst zu stottern triumphirt." Dieser "Augen¬
blickszauber" tritt an die Stelle der frühern höher gehaltnen Dialoge und
Monologe. Ob er "wirklicher" sei als jene, wenn man das Leben anstündig
erzogner Menschen zum Ausgangspunkt nimmt, ob er sich nicht mindestens
ebensoweit von dieser Wirklichkeit entferne durch eine umgekehrte Stilisirung,
eine Übertreibung nach der Seite des Häßlichen hin, nur damit die
Schönheit und die Jdealisirung vermieden werde, wäre wohl der Überlegung
wert. Gewiß ist jedenfalls, daß er keine Kunst mehr ist. Denn sie kann ohne
eine Jdealisirung nicht bestehen, wenigstens nach unsrer Auffassung. Für den
Verfasser und seine modernen Freunde freilich ist "die ganze Entwicklung der
Kunst nichts andres, als eine beständige Erweiterung des Reiches der Schön¬
heit dnrch fortgesetzte Einverleibung neuer Provinzen, die früher dem Reiche
des Häßlichen gehörten." Das wird so ziemlich seine Richtigkeit haben, aber
nicht jeder wird Lust verspüren, sich an diesen Eroberungszügen zu beteiligen.

So oft von dem ernsten Schauspiel gehandelt wird, wird man auch aus
Auseinandersetzungen über die "tragische Wirkung" treffen. Der Verfasser
giebt sie in einem schwungvoll geschriebnen Kapitel: Darwinismus und
Schicksal. Er spricht gut über die attische Tragödie und den Geschlechtsfluch,
oberflächlich über die Katharsis des Aristoteles mit dem üblichen Seitenhieb
auf Lessing und kommt dann über Shakespeare, Goethe und Schiller zuletzt
bei Zola und Ibsen an. Er sieht in der "tragischen Schadenfreude" eine
Erinnerung an unser einstiges "Kannibalentum" und handelt weitläufig über
einen Ersatz des antiken Schicksals durch Erblichkeit und Einflüsse der äußern
Umgebung (Milieu) bei Zola und Ibsen, eine berechtigte moderne Umgestaltung
auf der wissenschaftlichen Grundlage des Darwinismus. Wer sich dafür inter-
essirt, mag es bei ihm nachlesen. Nur bleibt eins zu bemerken. Exakte Be¬
obachter und Kenner des wirklichen Lebens haben längst gesehen und aus¬
gesprochen, daß Zolas naturalistische Schilderung zum größten Teile gar nicht
auf einer Analyse des wirklichen Lebens beruht, sondern ein erträumtes Spiel
ist, das den Leser durch den Schein einer wissenschaftlichen Methode, durch
eine den Naturwissenschaften entlehnte Terminologie blendet und täuscht. Und
daß Ibsens Seelenanalyse falsch und unwirklich ist, hat der Verfasser selbst
hinlänglich mit Beispielen belegt.

Wir können es uns nicht versagen, hier auf die einfachen und ansprechenden
Darlegungen hinzuweisen, die Bruchmann über die tragische Wirkung und die


Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche

müsse es streng naturalistisch sein. Der Dramatiker giebt nur Worte, alles
andre überläßt er dem Schauspieler. Der Dichter macht sichs also leicht,
werden wir denken, aber nein, er sieht geistig den ganzen Menschen, der
Schauspieler macht ihn körperlich leben: „Jedes Räuspern, jede Pause, jede
Stockung der Rede, jedes Anakoluth wird zu einer Offenbarung menschlicher
Gedanken und Gefühle." Dem Schauspieler erwachsen aus diesem neuen Drama
ganz neue Aufgaben. „Die Kunst zu stottern triumphirt." Dieser „Augen¬
blickszauber" tritt an die Stelle der frühern höher gehaltnen Dialoge und
Monologe. Ob er „wirklicher" sei als jene, wenn man das Leben anstündig
erzogner Menschen zum Ausgangspunkt nimmt, ob er sich nicht mindestens
ebensoweit von dieser Wirklichkeit entferne durch eine umgekehrte Stilisirung,
eine Übertreibung nach der Seite des Häßlichen hin, nur damit die
Schönheit und die Jdealisirung vermieden werde, wäre wohl der Überlegung
wert. Gewiß ist jedenfalls, daß er keine Kunst mehr ist. Denn sie kann ohne
eine Jdealisirung nicht bestehen, wenigstens nach unsrer Auffassung. Für den
Verfasser und seine modernen Freunde freilich ist „die ganze Entwicklung der
Kunst nichts andres, als eine beständige Erweiterung des Reiches der Schön¬
heit dnrch fortgesetzte Einverleibung neuer Provinzen, die früher dem Reiche
des Häßlichen gehörten." Das wird so ziemlich seine Richtigkeit haben, aber
nicht jeder wird Lust verspüren, sich an diesen Eroberungszügen zu beteiligen.

So oft von dem ernsten Schauspiel gehandelt wird, wird man auch aus
Auseinandersetzungen über die „tragische Wirkung" treffen. Der Verfasser
giebt sie in einem schwungvoll geschriebnen Kapitel: Darwinismus und
Schicksal. Er spricht gut über die attische Tragödie und den Geschlechtsfluch,
oberflächlich über die Katharsis des Aristoteles mit dem üblichen Seitenhieb
auf Lessing und kommt dann über Shakespeare, Goethe und Schiller zuletzt
bei Zola und Ibsen an. Er sieht in der „tragischen Schadenfreude" eine
Erinnerung an unser einstiges „Kannibalentum" und handelt weitläufig über
einen Ersatz des antiken Schicksals durch Erblichkeit und Einflüsse der äußern
Umgebung (Milieu) bei Zola und Ibsen, eine berechtigte moderne Umgestaltung
auf der wissenschaftlichen Grundlage des Darwinismus. Wer sich dafür inter-
essirt, mag es bei ihm nachlesen. Nur bleibt eins zu bemerken. Exakte Be¬
obachter und Kenner des wirklichen Lebens haben längst gesehen und aus¬
gesprochen, daß Zolas naturalistische Schilderung zum größten Teile gar nicht
auf einer Analyse des wirklichen Lebens beruht, sondern ein erträumtes Spiel
ist, das den Leser durch den Schein einer wissenschaftlichen Methode, durch
eine den Naturwissenschaften entlehnte Terminologie blendet und täuscht. Und
daß Ibsens Seelenanalyse falsch und unwirklich ist, hat der Verfasser selbst
hinlänglich mit Beispielen belegt.

Wir können es uns nicht versagen, hier auf die einfachen und ansprechenden
Darlegungen hinzuweisen, die Bruchmann über die tragische Wirkung und die


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[0152] Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche müsse es streng naturalistisch sein. Der Dramatiker giebt nur Worte, alles andre überläßt er dem Schauspieler. Der Dichter macht sichs also leicht, werden wir denken, aber nein, er sieht geistig den ganzen Menschen, der Schauspieler macht ihn körperlich leben: „Jedes Räuspern, jede Pause, jede Stockung der Rede, jedes Anakoluth wird zu einer Offenbarung menschlicher Gedanken und Gefühle." Dem Schauspieler erwachsen aus diesem neuen Drama ganz neue Aufgaben. „Die Kunst zu stottern triumphirt." Dieser „Augen¬ blickszauber" tritt an die Stelle der frühern höher gehaltnen Dialoge und Monologe. Ob er „wirklicher" sei als jene, wenn man das Leben anstündig erzogner Menschen zum Ausgangspunkt nimmt, ob er sich nicht mindestens ebensoweit von dieser Wirklichkeit entferne durch eine umgekehrte Stilisirung, eine Übertreibung nach der Seite des Häßlichen hin, nur damit die Schönheit und die Jdealisirung vermieden werde, wäre wohl der Überlegung wert. Gewiß ist jedenfalls, daß er keine Kunst mehr ist. Denn sie kann ohne eine Jdealisirung nicht bestehen, wenigstens nach unsrer Auffassung. Für den Verfasser und seine modernen Freunde freilich ist „die ganze Entwicklung der Kunst nichts andres, als eine beständige Erweiterung des Reiches der Schön¬ heit dnrch fortgesetzte Einverleibung neuer Provinzen, die früher dem Reiche des Häßlichen gehörten." Das wird so ziemlich seine Richtigkeit haben, aber nicht jeder wird Lust verspüren, sich an diesen Eroberungszügen zu beteiligen. So oft von dem ernsten Schauspiel gehandelt wird, wird man auch aus Auseinandersetzungen über die „tragische Wirkung" treffen. Der Verfasser giebt sie in einem schwungvoll geschriebnen Kapitel: Darwinismus und Schicksal. Er spricht gut über die attische Tragödie und den Geschlechtsfluch, oberflächlich über die Katharsis des Aristoteles mit dem üblichen Seitenhieb auf Lessing und kommt dann über Shakespeare, Goethe und Schiller zuletzt bei Zola und Ibsen an. Er sieht in der „tragischen Schadenfreude" eine Erinnerung an unser einstiges „Kannibalentum" und handelt weitläufig über einen Ersatz des antiken Schicksals durch Erblichkeit und Einflüsse der äußern Umgebung (Milieu) bei Zola und Ibsen, eine berechtigte moderne Umgestaltung auf der wissenschaftlichen Grundlage des Darwinismus. Wer sich dafür inter- essirt, mag es bei ihm nachlesen. Nur bleibt eins zu bemerken. Exakte Be¬ obachter und Kenner des wirklichen Lebens haben längst gesehen und aus¬ gesprochen, daß Zolas naturalistische Schilderung zum größten Teile gar nicht auf einer Analyse des wirklichen Lebens beruht, sondern ein erträumtes Spiel ist, das den Leser durch den Schein einer wissenschaftlichen Methode, durch eine den Naturwissenschaften entlehnte Terminologie blendet und täuscht. Und daß Ibsens Seelenanalyse falsch und unwirklich ist, hat der Verfasser selbst hinlänglich mit Beispielen belegt. Wir können es uns nicht versagen, hier auf die einfachen und ansprechenden Darlegungen hinzuweisen, die Bruchmann über die tragische Wirkung und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/152>, abgerufen am 12.12.2024.