Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche Allerdings haben sich die Philister, die Anbeter des Ewiggestrigen, da Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche Allerdings haben sich die Philister, die Anbeter des Ewiggestrigen, da <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0150" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229099"/> <fw type="header" place="top"> Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche</fw><lb/> <p xml:id="ID_372" next="#ID_373"> Allerdings haben sich die Philister, die Anbeter des Ewiggestrigen, da<lb/> der Boden ihnen unter den Füßen schwankte, von der neuen Bewegung abge¬<lb/> wandt, sie betrachten schmunzelnd die Goldschnittbände der Klassiker und ver¬<lb/> sichern zur Beruhigung ihres lesemüden Kopfes, daß es nun bis aus weiteres<lb/> mit der ganzen Dichterei zu Ende sei. Sie wollen warten, bis die Woller<lb/> durch die Körner abgelöst werden (was wir übrigens gar nicht so unverständig<lb/> finden). Man darf aber, meint der Verfasser, nicht ohne weiteres einen großen<lb/> Tragiker erwarten, solange die Menschheit noch selbst Tragödie spielt, die Kunst<lb/> ist jederzeit eine späte Kultnrerscheinung. Weder der Sieg der Christen über<lb/> das alte Rom und ihre Kämpfe und Leiden, noch der Eroberungszug der<lb/> Reformation hat einen großen Dichter hervorgebracht, erst fünfzig Jahre später<lb/> stellte sich dazu der Tragöde des modernen Europas ein, Shakespeare. So<lb/> erfüllt den Verfasser auch jetzt die poetische Wirklichkeit, die ihn umgiebt, mit<lb/> der stillfrohen Zuversicht, daß wir einer großen Zeit der europäischen Dichtung<lb/> entgegengehen. „Wie kommt es, daß alle die schaffenden dasselbe dumpfe<lb/> Ahnen haben wie ich, daß man überall, wohin man lauschen mag, von dem<lb/> kommenden Dichter spricht?" Unter der „poetischen Wirklichkeit" versteht er<lb/> aber „das stille, geheime Schaffen landauf landab, die rührende, selbstlose<lb/> Arbeit kunstfroher Geister, die alle wissen, daß sie nur von wenigen verstanden<lb/> werden, es ist der Mut und der Trotz und die Geduld dieser Leute." — Aber<lb/> das Drama? fragt der Philister ungeduldig. Ja, gemach, darüber soll ja<lb/> gerade dieser Traum vou den vier Zeitaltern die Aufklärung geben. Wie<lb/> nämlich das vorige das musikalische war, sodaß auch die Dichter von diesem<lb/> Stempel ihr Gepräge erhielten, Goethe mit seiner „lyrisch überhauchten Antike"<lb/> oder Schiller, der, „sofern wir ihm, dem als Künstler so viel überschätzten<lb/> Moralprediger, überhaupt eine mehr als zeitgeschichtliche Bedeutung einräumen<lb/> wollen (sehr gütig!), nichts weiter ist als der unkünstlerische Niederschlag der<lb/> lyrisch-musikalischen Grundstimmung seines Zeitalters": so reichen sich in<lb/> Richard Wagners Musikdrama, der letzten Offenbarung des musikalischen Zeit¬<lb/> alters, die führende Kunst der Vergangenheit und die der Zukunft die Hände.<lb/> Mit Wagner hat die Musik ihre Grenzen überschritten. Sie brauchte zu ihrer<lb/> bis dahin unerhörten Wirkung das Wort, nun muß sie wieder ganz Musik<lb/> werden, und ein weiterer Fortschritt der Kunst ist nur denkbar, wenn sich das<lb/> Wort ebenfalls wieder von der Musik trennt und ganz Wirklichkeit wird. So<lb/> folgt auf Wagners ideales Musikdrama Hauptmanns naturalistische Bühnen¬<lb/> dichtung. Nur darf man nicht verlangen, daß gleich alle Dichter Dramen<lb/> dichten, die Worte poetisch und dramatisch wollen bildlich verstanden sein und<lb/> die „bewegte Innerlichkeit alles Kunstschaffens der Gegenwart andeuten,"<lb/> z. B. Böcklin „träumt farbige Märchen und malt tiefsinnige Gedanken,"<lb/> Klingers Salome und Kassandra sind „marmorne Tragödien," Also schon<lb/> hier, wo wirs eigentlich noch gar nicht beanspruchen können, lebt der „poetisch-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0150]
Betrachtungen über das Drama, insbesondre das deutsche
Allerdings haben sich die Philister, die Anbeter des Ewiggestrigen, da
der Boden ihnen unter den Füßen schwankte, von der neuen Bewegung abge¬
wandt, sie betrachten schmunzelnd die Goldschnittbände der Klassiker und ver¬
sichern zur Beruhigung ihres lesemüden Kopfes, daß es nun bis aus weiteres
mit der ganzen Dichterei zu Ende sei. Sie wollen warten, bis die Woller
durch die Körner abgelöst werden (was wir übrigens gar nicht so unverständig
finden). Man darf aber, meint der Verfasser, nicht ohne weiteres einen großen
Tragiker erwarten, solange die Menschheit noch selbst Tragödie spielt, die Kunst
ist jederzeit eine späte Kultnrerscheinung. Weder der Sieg der Christen über
das alte Rom und ihre Kämpfe und Leiden, noch der Eroberungszug der
Reformation hat einen großen Dichter hervorgebracht, erst fünfzig Jahre später
stellte sich dazu der Tragöde des modernen Europas ein, Shakespeare. So
erfüllt den Verfasser auch jetzt die poetische Wirklichkeit, die ihn umgiebt, mit
der stillfrohen Zuversicht, daß wir einer großen Zeit der europäischen Dichtung
entgegengehen. „Wie kommt es, daß alle die schaffenden dasselbe dumpfe
Ahnen haben wie ich, daß man überall, wohin man lauschen mag, von dem
kommenden Dichter spricht?" Unter der „poetischen Wirklichkeit" versteht er
aber „das stille, geheime Schaffen landauf landab, die rührende, selbstlose
Arbeit kunstfroher Geister, die alle wissen, daß sie nur von wenigen verstanden
werden, es ist der Mut und der Trotz und die Geduld dieser Leute." — Aber
das Drama? fragt der Philister ungeduldig. Ja, gemach, darüber soll ja
gerade dieser Traum vou den vier Zeitaltern die Aufklärung geben. Wie
nämlich das vorige das musikalische war, sodaß auch die Dichter von diesem
Stempel ihr Gepräge erhielten, Goethe mit seiner „lyrisch überhauchten Antike"
oder Schiller, der, „sofern wir ihm, dem als Künstler so viel überschätzten
Moralprediger, überhaupt eine mehr als zeitgeschichtliche Bedeutung einräumen
wollen (sehr gütig!), nichts weiter ist als der unkünstlerische Niederschlag der
lyrisch-musikalischen Grundstimmung seines Zeitalters": so reichen sich in
Richard Wagners Musikdrama, der letzten Offenbarung des musikalischen Zeit¬
alters, die führende Kunst der Vergangenheit und die der Zukunft die Hände.
Mit Wagner hat die Musik ihre Grenzen überschritten. Sie brauchte zu ihrer
bis dahin unerhörten Wirkung das Wort, nun muß sie wieder ganz Musik
werden, und ein weiterer Fortschritt der Kunst ist nur denkbar, wenn sich das
Wort ebenfalls wieder von der Musik trennt und ganz Wirklichkeit wird. So
folgt auf Wagners ideales Musikdrama Hauptmanns naturalistische Bühnen¬
dichtung. Nur darf man nicht verlangen, daß gleich alle Dichter Dramen
dichten, die Worte poetisch und dramatisch wollen bildlich verstanden sein und
die „bewegte Innerlichkeit alles Kunstschaffens der Gegenwart andeuten,"
z. B. Böcklin „träumt farbige Märchen und malt tiefsinnige Gedanken,"
Klingers Salome und Kassandra sind „marmorne Tragödien," Also schon
hier, wo wirs eigentlich noch gar nicht beanspruchen können, lebt der „poetisch-
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