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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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diese Parzellirung schon ein Symptom nationalen Sinkens sei. Aber das
frühere, erste Symptom dieses Sinkens äußert sich schon in dem Verlangen
nach einer Gesetzgebung, die Rechte ohne Pflichten verheißt. Einer Gesetz¬
gebung, die den Besitz von allen Verpflichtungen gegen die Gesamtheit und
gegen die Zukunft freispricht, die ohne Rücksicht für die höhern und bleibenden,
ewigen Interessen der Gesellschaft das angeerbte Stammvermögen der Gesamt¬
heit zu beliebigem Gebrauch oder Mißbrauch preisgiebt, von niemand Opfer
zu verlangen wagt und es der Wissenschaft überläßt, uns mit der Ausein¬
andersetzung zu trösten, daß es eines Gemeingeistes und einer That im Sinne
des Gemeingeistes nicht bedürfe, daß die vereinzelte Selbstsucht der Einzelnen,
indem sie nur dem Augenblicke dient, am besten für die Zukunft sorge.

Daß eine solche Theorie bestimmten Interessen dient, ist an sich klar.
Bezeichnenderweise wird sie in den preußischen Negiernngskreisen nach der
großen Katastrophe zuerst von den aus dem Bürgertum hervorgegangnen Mit¬
gliedern vertreten. Ancillon hat zuerst geäußert, man müsse der Erfahrung
vertrauen, daß jederzeit die ewigen Gesetze den gesellschaftlichen Mechanismus
machen, daß selbst dort, wo augenblickliche Verhältnisse Übelstände erzeugt
haben, diese sich von selbst ausgleichen und am Ende wieder alles wagerecht
zu liegen kommt. Wenn auch etwas Wahres in diesem Ausspruch liegt, so
dürfe man sich doch, führt Bernhardt mit Recht aus, solche Ausgleichungen,
die der Gang der Weltgeschichte bewirkt, gewiß nicht wie das leichte Spiel
eines wohlgeölten Mechanismus vorstellen. Der Preis des Übergangs aus
entarteten Zuständen zu gesunden, die ein neues Lebensprinzip in sich tragen,
sei meist sehr hoch, wie die römische Geschichte zur Genüge erweist. Lehren
wie die, daß sich alle Elemente des Lebens am besten regelten, wenn sich der
Gesamtwille der bewußten Einwirkung auf sie begäbe, verraten eine nichts
weniger als lobenswerte Schlaffheit der Gesinnung, die dem Menschen gar zu
gern Entschluß und That und unbequeme Opfer ersparen möchte. Thatsächlich
sehen auch wir in diesen manchesterlichen Anschauungen einen entnervenden,
eigennützigen und blasirten Grundzug, der die übelsten Folgen auf den Charakter
des Volkes je länger je mehr äußern muß.

Mit der unbeschränkten Freiheit ist, wie nun die Erfahrung für jeden
Sehenden sattsam gezeigt hat. die unbeschränkte Macht des Kapitals, des Geldes
unausbleiblich verbunden. Aber das wirtschaftliche Leben steht weder als ein
vereinzelter Kreis der Thätigkeit außer aller Berührung mit jeder andern ge¬
sondert da, noch kann es je, in sich nur durch ein inneres Gesetz geregelt, das
gesamte Dasein der Menschheit als ein uuterworfnes Gebiet unbedingt be¬
herrschen. Die Thaten der Menschen würden doch das wirtschaftliche Leben
immer gestalten, und von eigner Schwerkraft kann keine Rede sein; schon die
bestehenden Gesetze beeinflussen notwendigerweise das wirtschaftliche Dasein und
die wirtschaftliche Zukunft des Einzelnen.


diese Parzellirung schon ein Symptom nationalen Sinkens sei. Aber das
frühere, erste Symptom dieses Sinkens äußert sich schon in dem Verlangen
nach einer Gesetzgebung, die Rechte ohne Pflichten verheißt. Einer Gesetz¬
gebung, die den Besitz von allen Verpflichtungen gegen die Gesamtheit und
gegen die Zukunft freispricht, die ohne Rücksicht für die höhern und bleibenden,
ewigen Interessen der Gesellschaft das angeerbte Stammvermögen der Gesamt¬
heit zu beliebigem Gebrauch oder Mißbrauch preisgiebt, von niemand Opfer
zu verlangen wagt und es der Wissenschaft überläßt, uns mit der Ausein¬
andersetzung zu trösten, daß es eines Gemeingeistes und einer That im Sinne
des Gemeingeistes nicht bedürfe, daß die vereinzelte Selbstsucht der Einzelnen,
indem sie nur dem Augenblicke dient, am besten für die Zukunft sorge.

Daß eine solche Theorie bestimmten Interessen dient, ist an sich klar.
Bezeichnenderweise wird sie in den preußischen Negiernngskreisen nach der
großen Katastrophe zuerst von den aus dem Bürgertum hervorgegangnen Mit¬
gliedern vertreten. Ancillon hat zuerst geäußert, man müsse der Erfahrung
vertrauen, daß jederzeit die ewigen Gesetze den gesellschaftlichen Mechanismus
machen, daß selbst dort, wo augenblickliche Verhältnisse Übelstände erzeugt
haben, diese sich von selbst ausgleichen und am Ende wieder alles wagerecht
zu liegen kommt. Wenn auch etwas Wahres in diesem Ausspruch liegt, so
dürfe man sich doch, führt Bernhardt mit Recht aus, solche Ausgleichungen,
die der Gang der Weltgeschichte bewirkt, gewiß nicht wie das leichte Spiel
eines wohlgeölten Mechanismus vorstellen. Der Preis des Übergangs aus
entarteten Zuständen zu gesunden, die ein neues Lebensprinzip in sich tragen,
sei meist sehr hoch, wie die römische Geschichte zur Genüge erweist. Lehren
wie die, daß sich alle Elemente des Lebens am besten regelten, wenn sich der
Gesamtwille der bewußten Einwirkung auf sie begäbe, verraten eine nichts
weniger als lobenswerte Schlaffheit der Gesinnung, die dem Menschen gar zu
gern Entschluß und That und unbequeme Opfer ersparen möchte. Thatsächlich
sehen auch wir in diesen manchesterlichen Anschauungen einen entnervenden,
eigennützigen und blasirten Grundzug, der die übelsten Folgen auf den Charakter
des Volkes je länger je mehr äußern muß.

Mit der unbeschränkten Freiheit ist, wie nun die Erfahrung für jeden
Sehenden sattsam gezeigt hat. die unbeschränkte Macht des Kapitals, des Geldes
unausbleiblich verbunden. Aber das wirtschaftliche Leben steht weder als ein
vereinzelter Kreis der Thätigkeit außer aller Berührung mit jeder andern ge¬
sondert da, noch kann es je, in sich nur durch ein inneres Gesetz geregelt, das
gesamte Dasein der Menschheit als ein uuterworfnes Gebiet unbedingt be¬
herrschen. Die Thaten der Menschen würden doch das wirtschaftliche Leben
immer gestalten, und von eigner Schwerkraft kann keine Rede sein; schon die
bestehenden Gesetze beeinflussen notwendigerweise das wirtschaftliche Dasein und
die wirtschaftliche Zukunft des Einzelnen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/132>, abgerufen am 04.07.2024.