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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Theodor von Bernhard! als Nationalökonom

In der That, es ist durchaus kein kathedersozialistisches, sondern ein
kritisch historisches Werk ersten Ranges, das sich mit den Grundlagen aller
Nationalökonomie überhaupt beschäftigt. Vielleicht trägt der Titel die Schuld
daran, daß die Bedeutung des Buches unterschätzt worden ist, vielleicht lag
aber die Ursache auch darin, daß es seiner Zeit weit vorauseilte und einen
Standpunkt vertrat, der jahrzehntelang völlig unmodern war und erst ein
halbes Jahrhundert später eine größere Zahl von Anhängern gewinnen konnte.
Bezeichnend ist es jedenfalls, daß das Buch, wie es bei seinem Erscheinen einen
Mißerfolg für den Verfasser bedeutete, im Meyerschen Konversationslexikon
unter deu Werken Bernhardis noch heute nicht genannt ist.

Nach dem Titel sollte mau eine Broschüre von müßigem Umfange erwarten
und erhält statt dessen einen stattlichen Band von 660 Seiten, von dem mehr
als die Hälfte lediglich der Kritik der Reinertragslehre der Manchesterschule
gewidmet ist; beim Durchlesen wird man mehr als einmal an das Goethische
Wort über Justus Mösers patriotische Phantasien erinnert, wie er sich immer
wieder erfreue an den Schätzen des reichen Mannes, der "jemand auf ein
Butterbrot einlädt und ihm dazu einen Tisch auserlesener Gerichte vorsetzt."

Theoretisch und in der praktischen Politik hat die Manchesterlehre ja bei
uns nun endlich abgewirtschaftet, aber sie liegt uns in der Praxis des Lebens,^
des Privatvcrkehrs noch überall wie Blei in den Gliedern, wie das die Grenz¬
boten schon oft hervorgehoben haben, und wenn wir ehrlich sein wollen, so
müssen wir zugeben, daß wir auch noch nicht recht wissen, welche Theorie wir
an ihrer Stelle auf den erledigten Thron setzen wollen. So leben wir in
einem Interregnum weiter, worin die verschiedensten Interessenten ihre Ansprüche
auf die Herrschaft mit Eifer vertreten, ohne sie überzeugend begründen zu
können. Daß ein solcher Zustand dem Wohle des Ganzen nicht förderlich ist,
das ist mit der Zeit allgemeine Überzeugung geworden, aber von einem Aus¬
weg aus diesen Wirren ist nur wenig zu sehen. Und doch giebt es kaum eine
wichtigere Aufgabe als die, wieder zu einer wirklichen Überzeugung zu gelangen,
denn "die vorwärtsschreitende Zeit gestattet keinem Volke zu vegetiren ohne zu
handeln"*) -- die Geschichte des alten Deutschen Reichs ist der sprechendste
Beweis für diese Wahrheit.

Ist die freisinnige Manchesterdoktrin im vollen Niedergang, und ist die
sozialistische auf Abwege geraten, so hat die neuere sogenannte positivistisch-
historische Schule z. Z. eine ganze Zahl bedeutender Vertreter aufzuweisen.
Gewiß, die historische Methode wird stets den hervorragendsten Platz behaupten,
wo es gilt, die Zustünde der Gegenwart richtig zu beurteilen und das Rechte
für die Zukunft anzustreben, d, h. praktische Politik zu treiben. Aber es will
uns scheinen, als seien viele Vertreter dieser historischen Schule der Volkes



") Bernhardt in seinem Ingcndwerk über Polen und Rußland, 1884.
Theodor von Bernhard! als Nationalökonom

In der That, es ist durchaus kein kathedersozialistisches, sondern ein
kritisch historisches Werk ersten Ranges, das sich mit den Grundlagen aller
Nationalökonomie überhaupt beschäftigt. Vielleicht trägt der Titel die Schuld
daran, daß die Bedeutung des Buches unterschätzt worden ist, vielleicht lag
aber die Ursache auch darin, daß es seiner Zeit weit vorauseilte und einen
Standpunkt vertrat, der jahrzehntelang völlig unmodern war und erst ein
halbes Jahrhundert später eine größere Zahl von Anhängern gewinnen konnte.
Bezeichnend ist es jedenfalls, daß das Buch, wie es bei seinem Erscheinen einen
Mißerfolg für den Verfasser bedeutete, im Meyerschen Konversationslexikon
unter deu Werken Bernhardis noch heute nicht genannt ist.

Nach dem Titel sollte mau eine Broschüre von müßigem Umfange erwarten
und erhält statt dessen einen stattlichen Band von 660 Seiten, von dem mehr
als die Hälfte lediglich der Kritik der Reinertragslehre der Manchesterschule
gewidmet ist; beim Durchlesen wird man mehr als einmal an das Goethische
Wort über Justus Mösers patriotische Phantasien erinnert, wie er sich immer
wieder erfreue an den Schätzen des reichen Mannes, der „jemand auf ein
Butterbrot einlädt und ihm dazu einen Tisch auserlesener Gerichte vorsetzt."

Theoretisch und in der praktischen Politik hat die Manchesterlehre ja bei
uns nun endlich abgewirtschaftet, aber sie liegt uns in der Praxis des Lebens,^
des Privatvcrkehrs noch überall wie Blei in den Gliedern, wie das die Grenz¬
boten schon oft hervorgehoben haben, und wenn wir ehrlich sein wollen, so
müssen wir zugeben, daß wir auch noch nicht recht wissen, welche Theorie wir
an ihrer Stelle auf den erledigten Thron setzen wollen. So leben wir in
einem Interregnum weiter, worin die verschiedensten Interessenten ihre Ansprüche
auf die Herrschaft mit Eifer vertreten, ohne sie überzeugend begründen zu
können. Daß ein solcher Zustand dem Wohle des Ganzen nicht förderlich ist,
das ist mit der Zeit allgemeine Überzeugung geworden, aber von einem Aus¬
weg aus diesen Wirren ist nur wenig zu sehen. Und doch giebt es kaum eine
wichtigere Aufgabe als die, wieder zu einer wirklichen Überzeugung zu gelangen,
denn „die vorwärtsschreitende Zeit gestattet keinem Volke zu vegetiren ohne zu
handeln"*) — die Geschichte des alten Deutschen Reichs ist der sprechendste
Beweis für diese Wahrheit.

Ist die freisinnige Manchesterdoktrin im vollen Niedergang, und ist die
sozialistische auf Abwege geraten, so hat die neuere sogenannte positivistisch-
historische Schule z. Z. eine ganze Zahl bedeutender Vertreter aufzuweisen.
Gewiß, die historische Methode wird stets den hervorragendsten Platz behaupten,
wo es gilt, die Zustünde der Gegenwart richtig zu beurteilen und das Rechte
für die Zukunft anzustreben, d, h. praktische Politik zu treiben. Aber es will
uns scheinen, als seien viele Vertreter dieser historischen Schule der Volkes



") Bernhardt in seinem Ingcndwerk über Polen und Rußland, 1884.
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[0126] Theodor von Bernhard! als Nationalökonom In der That, es ist durchaus kein kathedersozialistisches, sondern ein kritisch historisches Werk ersten Ranges, das sich mit den Grundlagen aller Nationalökonomie überhaupt beschäftigt. Vielleicht trägt der Titel die Schuld daran, daß die Bedeutung des Buches unterschätzt worden ist, vielleicht lag aber die Ursache auch darin, daß es seiner Zeit weit vorauseilte und einen Standpunkt vertrat, der jahrzehntelang völlig unmodern war und erst ein halbes Jahrhundert später eine größere Zahl von Anhängern gewinnen konnte. Bezeichnend ist es jedenfalls, daß das Buch, wie es bei seinem Erscheinen einen Mißerfolg für den Verfasser bedeutete, im Meyerschen Konversationslexikon unter deu Werken Bernhardis noch heute nicht genannt ist. Nach dem Titel sollte mau eine Broschüre von müßigem Umfange erwarten und erhält statt dessen einen stattlichen Band von 660 Seiten, von dem mehr als die Hälfte lediglich der Kritik der Reinertragslehre der Manchesterschule gewidmet ist; beim Durchlesen wird man mehr als einmal an das Goethische Wort über Justus Mösers patriotische Phantasien erinnert, wie er sich immer wieder erfreue an den Schätzen des reichen Mannes, der „jemand auf ein Butterbrot einlädt und ihm dazu einen Tisch auserlesener Gerichte vorsetzt." Theoretisch und in der praktischen Politik hat die Manchesterlehre ja bei uns nun endlich abgewirtschaftet, aber sie liegt uns in der Praxis des Lebens,^ des Privatvcrkehrs noch überall wie Blei in den Gliedern, wie das die Grenz¬ boten schon oft hervorgehoben haben, und wenn wir ehrlich sein wollen, so müssen wir zugeben, daß wir auch noch nicht recht wissen, welche Theorie wir an ihrer Stelle auf den erledigten Thron setzen wollen. So leben wir in einem Interregnum weiter, worin die verschiedensten Interessenten ihre Ansprüche auf die Herrschaft mit Eifer vertreten, ohne sie überzeugend begründen zu können. Daß ein solcher Zustand dem Wohle des Ganzen nicht förderlich ist, das ist mit der Zeit allgemeine Überzeugung geworden, aber von einem Aus¬ weg aus diesen Wirren ist nur wenig zu sehen. Und doch giebt es kaum eine wichtigere Aufgabe als die, wieder zu einer wirklichen Überzeugung zu gelangen, denn „die vorwärtsschreitende Zeit gestattet keinem Volke zu vegetiren ohne zu handeln"*) — die Geschichte des alten Deutschen Reichs ist der sprechendste Beweis für diese Wahrheit. Ist die freisinnige Manchesterdoktrin im vollen Niedergang, und ist die sozialistische auf Abwege geraten, so hat die neuere sogenannte positivistisch- historische Schule z. Z. eine ganze Zahl bedeutender Vertreter aufzuweisen. Gewiß, die historische Methode wird stets den hervorragendsten Platz behaupten, wo es gilt, die Zustünde der Gegenwart richtig zu beurteilen und das Rechte für die Zukunft anzustreben, d, h. praktische Politik zu treiben. Aber es will uns scheinen, als seien viele Vertreter dieser historischen Schule der Volkes ") Bernhardt in seinem Ingcndwerk über Polen und Rußland, 1884.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/126>, abgerufen am 24.07.2024.