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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

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Gin Neulutheraner

für die Kinder Vermögen aufzuhäufen, ihnen eine Stellung im Leben zu sichern!
Und hat nicht bei allen Völkern allezeit der Patriotismus jedes Verbrechen
erlaubt gemacht? Und wie gar erst mit der christlichen Religion? Vielleicht
giebt es keine verwerfliche Leidenschaft, die so viel Greuel verschuldet hätte,
wie der -- meistens ganz aufrichtige -- Eifer für Gottes Ehre, für das
Seelenheil des Nächsten und für den wahren Glauben. Das tMtuin rslligio
xowit srmäsrs rualoruro. des edeln Epikureers Lukrez hat ja nur Sinn, wenn
es als Prophezeiung der christlichen Kirchengeschichte gefaßt wird; war doch
das Opfer der Iphigenie, worauf es der Dichter bezieht, nur eine nicht der
Rede werte Kleinigkeit im Vergleich mit den christlichen Ketzerverfolgungen,
Glaubenskriegen, Hexenbränden, Folterkammern und dem Gift, das heute, wo
ihnen das Blutvergießen verwehrt ist, die Konfessionen, Sekten und theolo¬
gischen Schulen gegen einander verspritzen. So dürfte Erfahrung den Wieder-
gebornen, der einen sehr klaren Blick hat, mit der Zeit überzeugen, daß der
Sünde und dem natürlichen Menschen entsagen so viel heißen würde, als dem
Dasein überhaupt entsagen, daß das, was dem Wiedergebornen als Sünde er¬
scheint, ein unablöslicher Bestandteil der Menschennatur, eine Lebensbedingung
des irdischen Daseins ist, und daß es Selbsttäuschung ist, wenn er davon frei
zu sein glaubt oder auf Erden davon frei zu werden hofft. Gewiß, alles
Wissen ist eitel, wie er oft hervorhebt -- und doch! wie schätzt und liebt er
das Wissen, ebenso die Schönheit! --, und nichtig ist nicht bloß das Wissen,
sondern überhaupt alles Irdische, wie die Weisen aller Religionen: Christen,
Juden, Heiden und Atheisten, jederzeit anerkannt haben. Aber wenn die Seele
einen unvergänglichen Inhalt gewinnen soll, den sie ins Jenseits mit hinüber
nehmen kann, so muß er aus diesen Nichtigkeiten gewonnen werden; ohne sie
wäre auch die Seele der Allerfrömmsten inhaltlos, d. h. sie wäre, wenigstens
aktuell, gar nicht vorhanden, es gäbe Fromme so wenig wie Unfromme. Wo
bliebe denn ohne die "Sünde" dieses Tagebuch des Einsamen, das aus nichts
anderm als lauter Kampf gegen die Sünde besteht? Und was wäre seine
Seele, wenn sie dergleichen Betrachtungen und Untersuchungen nicht anstellte?
Ein Nichts, oder eine bloße animalische Lebenskraft ohne geistigen Inhalt.

Darum irrt er auch, wenn er glaubt, die Masse der Menschen könne
immerhin ewig zu Grunde gehn; werde nur "der auserwählte, feuerbeständige,
edelste Teil" der Menschheit gerettet, so sei sie selbst gerettet. (I, 340.) Auch
dieser auserwühlte Teil birgt all das in sich, wegen dessen die Mehrzahl zu
Grunde gehn soll, und hätte er es verloren, wäre es ihm durch ein Wunder
ausgetrieben worden, so wäre er nicht die Menschheit, die Verwirklichung der
Idee der Menschheit, sondern irgend etwas andres, uns völlig unbekanntes;
man könnte daher nicht behaupten, daß die Erlösung gelungen sei. Aber auch
schon darum müßte man sie, die Richtigkeit des orthodoxen Glaubens vor¬
ausgesetzt, als mißlungen bezeichnen, weil die ungeheure Masse der Meuschen


Gin Neulutheraner

für die Kinder Vermögen aufzuhäufen, ihnen eine Stellung im Leben zu sichern!
Und hat nicht bei allen Völkern allezeit der Patriotismus jedes Verbrechen
erlaubt gemacht? Und wie gar erst mit der christlichen Religion? Vielleicht
giebt es keine verwerfliche Leidenschaft, die so viel Greuel verschuldet hätte,
wie der — meistens ganz aufrichtige — Eifer für Gottes Ehre, für das
Seelenheil des Nächsten und für den wahren Glauben. Das tMtuin rslligio
xowit srmäsrs rualoruro. des edeln Epikureers Lukrez hat ja nur Sinn, wenn
es als Prophezeiung der christlichen Kirchengeschichte gefaßt wird; war doch
das Opfer der Iphigenie, worauf es der Dichter bezieht, nur eine nicht der
Rede werte Kleinigkeit im Vergleich mit den christlichen Ketzerverfolgungen,
Glaubenskriegen, Hexenbränden, Folterkammern und dem Gift, das heute, wo
ihnen das Blutvergießen verwehrt ist, die Konfessionen, Sekten und theolo¬
gischen Schulen gegen einander verspritzen. So dürfte Erfahrung den Wieder-
gebornen, der einen sehr klaren Blick hat, mit der Zeit überzeugen, daß der
Sünde und dem natürlichen Menschen entsagen so viel heißen würde, als dem
Dasein überhaupt entsagen, daß das, was dem Wiedergebornen als Sünde er¬
scheint, ein unablöslicher Bestandteil der Menschennatur, eine Lebensbedingung
des irdischen Daseins ist, und daß es Selbsttäuschung ist, wenn er davon frei
zu sein glaubt oder auf Erden davon frei zu werden hofft. Gewiß, alles
Wissen ist eitel, wie er oft hervorhebt — und doch! wie schätzt und liebt er
das Wissen, ebenso die Schönheit! —, und nichtig ist nicht bloß das Wissen,
sondern überhaupt alles Irdische, wie die Weisen aller Religionen: Christen,
Juden, Heiden und Atheisten, jederzeit anerkannt haben. Aber wenn die Seele
einen unvergänglichen Inhalt gewinnen soll, den sie ins Jenseits mit hinüber
nehmen kann, so muß er aus diesen Nichtigkeiten gewonnen werden; ohne sie
wäre auch die Seele der Allerfrömmsten inhaltlos, d. h. sie wäre, wenigstens
aktuell, gar nicht vorhanden, es gäbe Fromme so wenig wie Unfromme. Wo
bliebe denn ohne die „Sünde" dieses Tagebuch des Einsamen, das aus nichts
anderm als lauter Kampf gegen die Sünde besteht? Und was wäre seine
Seele, wenn sie dergleichen Betrachtungen und Untersuchungen nicht anstellte?
Ein Nichts, oder eine bloße animalische Lebenskraft ohne geistigen Inhalt.

Darum irrt er auch, wenn er glaubt, die Masse der Menschen könne
immerhin ewig zu Grunde gehn; werde nur „der auserwählte, feuerbeständige,
edelste Teil" der Menschheit gerettet, so sei sie selbst gerettet. (I, 340.) Auch
dieser auserwühlte Teil birgt all das in sich, wegen dessen die Mehrzahl zu
Grunde gehn soll, und hätte er es verloren, wäre es ihm durch ein Wunder
ausgetrieben worden, so wäre er nicht die Menschheit, die Verwirklichung der
Idee der Menschheit, sondern irgend etwas andres, uns völlig unbekanntes;
man könnte daher nicht behaupten, daß die Erlösung gelungen sei. Aber auch
schon darum müßte man sie, die Richtigkeit des orthodoxen Glaubens vor¬
ausgesetzt, als mißlungen bezeichnen, weil die ungeheure Masse der Meuschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/106>, abgerufen am 24.07.2024.