Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.Aus Württemberg und wenn so jede Partei ihr besondres Interesse in den Vordergrund schiebt, Die Wahlen haben übrigens dargethan, daß die beherrschende Stellung Aus Württemberg und wenn so jede Partei ihr besondres Interesse in den Vordergrund schiebt, Die Wahlen haben übrigens dargethan, daß die beherrschende Stellung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0079" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228381"/> <fw type="header" place="top"> Aus Württemberg</fw><lb/> <p xml:id="ID_201" prev="#ID_200"> und wenn so jede Partei ihr besondres Interesse in den Vordergrund schiebt,<lb/> kann unmöglich etwas zu stände kommen. Hätte das Zentrum — wie das<lb/> sein Programm allerdings mit sich brachte — zwar irgend einmal seine Forde¬<lb/> rungen gestellt, aber in einem selbständigen parlamentarischen Feldzug, so hätte<lb/> es den gehässigen Anschein einer beabsichtigten Erpressung vermieden und eine<lb/> viel günstigere Stimmung vorgefunden; jedenfalls hätte es den Gegnern die<lb/> Ablehnung seiner Wünsche sehr erschwert. So bleibt nur die Wahl zwischen<lb/> zwei Möglichkeiten. Entweder: das Zentrum will das Verfassungswerk wirklich<lb/> verhindern, weil es die katholische Zweidrittelmehrheit in der ersten Kammer<lb/> nicht preisgeben will, und es sucht dafür einen möglichst wirksamen Anlaß, wie<lb/> er in der Ablehnung der „Bürgschaften für die katholische Kirche" durch Mini¬<lb/> sterium und Kammer liegt. Oder: es stimmt schließlich doch für die Reform,<lb/> weil sie ihm ermöglichen wird, im württembergischen Landtag über kurz oder<lb/> lang dieselbe Rolle zu spielen wie im Reichstag; es wollte aber angesichts der<lb/> Angriffe auf seine Flottenpolitik im Reichstag und auf andre Punkte seines<lb/> Verhaltens einen Alarmruf ausstoßen, der alle „guten Katholiken" sofort wieder<lb/> unter seiner Fahne vereinigen mußte. Ein solcher Alarmruf war der Aufruf<lb/> zum Schutze der bedrohten Rechte der katholischen Kirche; daß der Schachzug<lb/> gut ausgedacht war, haben die Reichstagswahlen vom 16. Juni gezeigt. Diese<lb/> erhöhten die Zahl der Zentrumsstimmen von den 67000 des Jahres 1893<lb/> auf 73000, und zum erstenmal kam das Zentrum in die Lage, außer seinen vier<lb/> sichern Wahlkreise» um einen fünften, den von Rottweil, auch in der Stich¬<lb/> wahl zu ringen.</p><lb/> <p xml:id="ID_202" next="#ID_203"> Die Wahlen haben übrigens dargethan, daß die beherrschende Stellung<lb/> der Demokratie sehr erschüttert ist. Während die nationalen Parteien seit<lb/> 1893 von 92000 Stimmen ans 95000, das Zentrum von 67000 auf 73000,<lb/> die Sozialdemokraten von 43000 auf 62000 wuchsen, sank die Ziffer der<lb/> „Deutschen (sit vsing, vsrdo) Volkspartei" von 105000 auf 75000 herab.<lb/> Die Partei ging von elf Abgeordneten auf sieben zurück, während die natio¬<lb/> nalen Parteien statt zweier Vertreter im neuen Reichstag doch wieder fünf<lb/> zählen, zwei Konservative und drei Nationalliberale. Das Zentrum hat wie<lb/> immer vier Kreise inne. Leider hat allerdings die Gleichgiltigkeit von fast<lb/> 10000 Wählern, die den Gang zur Urne nicht thun mochten, es verschuldet,<lb/> daß die Sozialdemokratie die so oft vergeblich von ihr bestürmte Residenz<lb/> Stuttgart nur mit 743 Stimmen (17 951 gegen 17208) Mehrheit den<lb/> Nationalliberalen entreißen konnte; ein Ergebnis, das man leichter hinnehmen<lb/> würde, wenn man sich sagen müßte, daß es unabwendbar gewesen sei, während<lb/> man so den Spießbürgern zürnen muß, die beim Glase Wein über die Revo¬<lb/> lutionspartei losziehen, am Wahltag aber ihr den Weg frei geben. Da haben<lb/> sich die Bezirke Ludwigsburg, Heilbronn und Göppingen weit tapfrer gehalten,<lb/> indem sie sich in der Stichwahl teilweise mit Mehrheiten von 4000 Stimmen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0079]
Aus Württemberg
und wenn so jede Partei ihr besondres Interesse in den Vordergrund schiebt,
kann unmöglich etwas zu stände kommen. Hätte das Zentrum — wie das
sein Programm allerdings mit sich brachte — zwar irgend einmal seine Forde¬
rungen gestellt, aber in einem selbständigen parlamentarischen Feldzug, so hätte
es den gehässigen Anschein einer beabsichtigten Erpressung vermieden und eine
viel günstigere Stimmung vorgefunden; jedenfalls hätte es den Gegnern die
Ablehnung seiner Wünsche sehr erschwert. So bleibt nur die Wahl zwischen
zwei Möglichkeiten. Entweder: das Zentrum will das Verfassungswerk wirklich
verhindern, weil es die katholische Zweidrittelmehrheit in der ersten Kammer
nicht preisgeben will, und es sucht dafür einen möglichst wirksamen Anlaß, wie
er in der Ablehnung der „Bürgschaften für die katholische Kirche" durch Mini¬
sterium und Kammer liegt. Oder: es stimmt schließlich doch für die Reform,
weil sie ihm ermöglichen wird, im württembergischen Landtag über kurz oder
lang dieselbe Rolle zu spielen wie im Reichstag; es wollte aber angesichts der
Angriffe auf seine Flottenpolitik im Reichstag und auf andre Punkte seines
Verhaltens einen Alarmruf ausstoßen, der alle „guten Katholiken" sofort wieder
unter seiner Fahne vereinigen mußte. Ein solcher Alarmruf war der Aufruf
zum Schutze der bedrohten Rechte der katholischen Kirche; daß der Schachzug
gut ausgedacht war, haben die Reichstagswahlen vom 16. Juni gezeigt. Diese
erhöhten die Zahl der Zentrumsstimmen von den 67000 des Jahres 1893
auf 73000, und zum erstenmal kam das Zentrum in die Lage, außer seinen vier
sichern Wahlkreise» um einen fünften, den von Rottweil, auch in der Stich¬
wahl zu ringen.
Die Wahlen haben übrigens dargethan, daß die beherrschende Stellung
der Demokratie sehr erschüttert ist. Während die nationalen Parteien seit
1893 von 92000 Stimmen ans 95000, das Zentrum von 67000 auf 73000,
die Sozialdemokraten von 43000 auf 62000 wuchsen, sank die Ziffer der
„Deutschen (sit vsing, vsrdo) Volkspartei" von 105000 auf 75000 herab.
Die Partei ging von elf Abgeordneten auf sieben zurück, während die natio¬
nalen Parteien statt zweier Vertreter im neuen Reichstag doch wieder fünf
zählen, zwei Konservative und drei Nationalliberale. Das Zentrum hat wie
immer vier Kreise inne. Leider hat allerdings die Gleichgiltigkeit von fast
10000 Wählern, die den Gang zur Urne nicht thun mochten, es verschuldet,
daß die Sozialdemokratie die so oft vergeblich von ihr bestürmte Residenz
Stuttgart nur mit 743 Stimmen (17 951 gegen 17208) Mehrheit den
Nationalliberalen entreißen konnte; ein Ergebnis, das man leichter hinnehmen
würde, wenn man sich sagen müßte, daß es unabwendbar gewesen sei, während
man so den Spießbürgern zürnen muß, die beim Glase Wein über die Revo¬
lutionspartei losziehen, am Wahltag aber ihr den Weg frei geben. Da haben
sich die Bezirke Ludwigsburg, Heilbronn und Göppingen weit tapfrer gehalten,
indem sie sich in der Stichwahl teilweise mit Mehrheiten von 4000 Stimmen
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