Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Mittelalterliches Bauernleben

ungebrochne Kraft eines reichen Gemütes ist es, aus der auf der einen Seite
zarte und innige Liebe hervorblüht, während auf der andern wilde Sinnenlust,
toller Übermut und keine Selbstbeschränkung kennender Strafzorn oder uner¬
sättliche Rache hervorbrechen. Die Volkserziehung muß darauf gerichtet sein,
zwischen den entgegengesetzten Regungen Harmonie zu stiften und die gefähr¬
lichen zu zügeln, ohne ihnen jede Äußerung unmöglich zu machen; werden sie
durch die Verfeinerung der Sitten äußerlich ganz unterdrückt, so wuchern sie
heimlich fort, und was geschwächt oder vernichtet wird, ist nicht das Böse,
sondern die Kraft, sodaß es dann auch die edeln Leidenschaften nur noch zu
matten Regungen bringen. Was für ein glückliches Geschlecht sind doch unsre
Vorfahren gewesen! ruft der Freiherr von Laßberg in der Vorrede zu seinem
Liedersaal mit Beziehung auf die tollen schwanke, die er mitteilt; und jeden¬
falls sind diese ausgelassene Lustigkeit und dieser von keinem Schatten von
Pessimismus angekränkelte Humor überzeugende Beweise kerniger Gesundheit.

Die Eigentümlichkeiten der altdeutschen Rechtspflege sind ja auch den
Nichtjuristcn unter den wissenschaftlich Gebildeten im allgemeinen bekannt,
aber da das Genauere darüber meist nur in umfangreichen und schwer zu
lesenden Werken zu finden ist, so hat sich der Verfasser ein Verdienst dadurch
erworben, daß er in seinem nur 268 Seiten starken Buch auch diese Seite des
Volkslebens kurz, übersichtlich und doch der Hauptsache nach ziemlich vollständig
darstellt. Daran ist ja nicht zu denken, daß wir bei unsern verwickelten Zu¬
ständen, die eine Unzahl von Gesetzen und gelehrte Richter notwendig machen,
noch einmal zum einfachen Volksgericht zurückgelangen könnten, aber das
Ideal einer vernünftigen Rechtspflege bleibt dieses trotzdem, und die Verfasser
des bürgerlichen Gesetzbuches haben ja auch bekanntlich das Ziel vor Augen
gehabt, das Recht wenigstens wieder mehr volkstümlich zu machen, wenn auch
kein Volksrecht im alten Sinne daraus werden kann. Öffentlichkeit und Münd¬
lichkeit, schreibt der Verfasser, waren die beiden Haupteigenschaften des mittel¬
alterlichen Gerichtsverfahrens. "Öffentlich wurden die Klagen vorgebracht,
die Beweise geführt und die Abstimmungen vollzogen. Durch diese Verhandlung
vor dem ganzen Gerichtsumstand und mit demselben lernte das Volk seinen
Richter und der Richter das Volk genauer kennen; das Band der Eintracht
zwischen Richter, Urteilsindern und Volk wurde so eng geknüpft. Ein weiterer
wesentlicher Vorzug dieses Verfahrens lag darin, daß es eine wirksame Garantie
für die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und überhaupt für die Gewissenhaftig¬
keit der Gerichte gewährte. Denn in der Öffentlichkeit der Verhandlung er¬
wächst der Gerechtigkeit eine Stütze, gegen die, wenn überhaupt ein öffentlicher
Geist im Lande ist, kein ungesetzlicher Einfluß auf die Dauer etwas vermag.
Vor allem war die Öffentlichkeit jedoch auch deshalb von unschätzbarem Werte,
weil sie das Rechtsgefühl des Volkes belebte und ihm Vertrauen zur Justiz
gab. Diese blieb nicht mehr die unheimliche Macht, welche wie ein Fatum


Grenzboten III 1898 8
Mittelalterliches Bauernleben

ungebrochne Kraft eines reichen Gemütes ist es, aus der auf der einen Seite
zarte und innige Liebe hervorblüht, während auf der andern wilde Sinnenlust,
toller Übermut und keine Selbstbeschränkung kennender Strafzorn oder uner¬
sättliche Rache hervorbrechen. Die Volkserziehung muß darauf gerichtet sein,
zwischen den entgegengesetzten Regungen Harmonie zu stiften und die gefähr¬
lichen zu zügeln, ohne ihnen jede Äußerung unmöglich zu machen; werden sie
durch die Verfeinerung der Sitten äußerlich ganz unterdrückt, so wuchern sie
heimlich fort, und was geschwächt oder vernichtet wird, ist nicht das Böse,
sondern die Kraft, sodaß es dann auch die edeln Leidenschaften nur noch zu
matten Regungen bringen. Was für ein glückliches Geschlecht sind doch unsre
Vorfahren gewesen! ruft der Freiherr von Laßberg in der Vorrede zu seinem
Liedersaal mit Beziehung auf die tollen schwanke, die er mitteilt; und jeden¬
falls sind diese ausgelassene Lustigkeit und dieser von keinem Schatten von
Pessimismus angekränkelte Humor überzeugende Beweise kerniger Gesundheit.

Die Eigentümlichkeiten der altdeutschen Rechtspflege sind ja auch den
Nichtjuristcn unter den wissenschaftlich Gebildeten im allgemeinen bekannt,
aber da das Genauere darüber meist nur in umfangreichen und schwer zu
lesenden Werken zu finden ist, so hat sich der Verfasser ein Verdienst dadurch
erworben, daß er in seinem nur 268 Seiten starken Buch auch diese Seite des
Volkslebens kurz, übersichtlich und doch der Hauptsache nach ziemlich vollständig
darstellt. Daran ist ja nicht zu denken, daß wir bei unsern verwickelten Zu¬
ständen, die eine Unzahl von Gesetzen und gelehrte Richter notwendig machen,
noch einmal zum einfachen Volksgericht zurückgelangen könnten, aber das
Ideal einer vernünftigen Rechtspflege bleibt dieses trotzdem, und die Verfasser
des bürgerlichen Gesetzbuches haben ja auch bekanntlich das Ziel vor Augen
gehabt, das Recht wenigstens wieder mehr volkstümlich zu machen, wenn auch
kein Volksrecht im alten Sinne daraus werden kann. Öffentlichkeit und Münd¬
lichkeit, schreibt der Verfasser, waren die beiden Haupteigenschaften des mittel¬
alterlichen Gerichtsverfahrens. „Öffentlich wurden die Klagen vorgebracht,
die Beweise geführt und die Abstimmungen vollzogen. Durch diese Verhandlung
vor dem ganzen Gerichtsumstand und mit demselben lernte das Volk seinen
Richter und der Richter das Volk genauer kennen; das Band der Eintracht
zwischen Richter, Urteilsindern und Volk wurde so eng geknüpft. Ein weiterer
wesentlicher Vorzug dieses Verfahrens lag darin, daß es eine wirksame Garantie
für die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und überhaupt für die Gewissenhaftig¬
keit der Gerichte gewährte. Denn in der Öffentlichkeit der Verhandlung er¬
wächst der Gerechtigkeit eine Stütze, gegen die, wenn überhaupt ein öffentlicher
Geist im Lande ist, kein ungesetzlicher Einfluß auf die Dauer etwas vermag.
Vor allem war die Öffentlichkeit jedoch auch deshalb von unschätzbarem Werte,
weil sie das Rechtsgefühl des Volkes belebte und ihm Vertrauen zur Justiz
gab. Diese blieb nicht mehr die unheimliche Macht, welche wie ein Fatum


Grenzboten III 1898 8
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0065" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228367"/>
          <fw type="header" place="top"> Mittelalterliches Bauernleben</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_162" prev="#ID_161"> ungebrochne Kraft eines reichen Gemütes ist es, aus der auf der einen Seite<lb/>
zarte und innige Liebe hervorblüht, während auf der andern wilde Sinnenlust,<lb/>
toller Übermut und keine Selbstbeschränkung kennender Strafzorn oder uner¬<lb/>
sättliche Rache hervorbrechen. Die Volkserziehung muß darauf gerichtet sein,<lb/>
zwischen den entgegengesetzten Regungen Harmonie zu stiften und die gefähr¬<lb/>
lichen zu zügeln, ohne ihnen jede Äußerung unmöglich zu machen; werden sie<lb/>
durch die Verfeinerung der Sitten äußerlich ganz unterdrückt, so wuchern sie<lb/>
heimlich fort, und was geschwächt oder vernichtet wird, ist nicht das Böse,<lb/>
sondern die Kraft, sodaß es dann auch die edeln Leidenschaften nur noch zu<lb/>
matten Regungen bringen. Was für ein glückliches Geschlecht sind doch unsre<lb/>
Vorfahren gewesen! ruft der Freiherr von Laßberg in der Vorrede zu seinem<lb/>
Liedersaal mit Beziehung auf die tollen schwanke, die er mitteilt; und jeden¬<lb/>
falls sind diese ausgelassene Lustigkeit und dieser von keinem Schatten von<lb/>
Pessimismus angekränkelte Humor überzeugende Beweise kerniger Gesundheit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_163" next="#ID_164"> Die Eigentümlichkeiten der altdeutschen Rechtspflege sind ja auch den<lb/>
Nichtjuristcn unter den wissenschaftlich Gebildeten im allgemeinen bekannt,<lb/>
aber da das Genauere darüber meist nur in umfangreichen und schwer zu<lb/>
lesenden Werken zu finden ist, so hat sich der Verfasser ein Verdienst dadurch<lb/>
erworben, daß er in seinem nur 268 Seiten starken Buch auch diese Seite des<lb/>
Volkslebens kurz, übersichtlich und doch der Hauptsache nach ziemlich vollständig<lb/>
darstellt. Daran ist ja nicht zu denken, daß wir bei unsern verwickelten Zu¬<lb/>
ständen, die eine Unzahl von Gesetzen und gelehrte Richter notwendig machen,<lb/>
noch einmal zum einfachen Volksgericht zurückgelangen könnten, aber das<lb/>
Ideal einer vernünftigen Rechtspflege bleibt dieses trotzdem, und die Verfasser<lb/>
des bürgerlichen Gesetzbuches haben ja auch bekanntlich das Ziel vor Augen<lb/>
gehabt, das Recht wenigstens wieder mehr volkstümlich zu machen, wenn auch<lb/>
kein Volksrecht im alten Sinne daraus werden kann. Öffentlichkeit und Münd¬<lb/>
lichkeit, schreibt der Verfasser, waren die beiden Haupteigenschaften des mittel¬<lb/>
alterlichen Gerichtsverfahrens. &#x201E;Öffentlich wurden die Klagen vorgebracht,<lb/>
die Beweise geführt und die Abstimmungen vollzogen. Durch diese Verhandlung<lb/>
vor dem ganzen Gerichtsumstand und mit demselben lernte das Volk seinen<lb/>
Richter und der Richter das Volk genauer kennen; das Band der Eintracht<lb/>
zwischen Richter, Urteilsindern und Volk wurde so eng geknüpft. Ein weiterer<lb/>
wesentlicher Vorzug dieses Verfahrens lag darin, daß es eine wirksame Garantie<lb/>
für die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und überhaupt für die Gewissenhaftig¬<lb/>
keit der Gerichte gewährte. Denn in der Öffentlichkeit der Verhandlung er¬<lb/>
wächst der Gerechtigkeit eine Stütze, gegen die, wenn überhaupt ein öffentlicher<lb/>
Geist im Lande ist, kein ungesetzlicher Einfluß auf die Dauer etwas vermag.<lb/>
Vor allem war die Öffentlichkeit jedoch auch deshalb von unschätzbarem Werte,<lb/>
weil sie das Rechtsgefühl des Volkes belebte und ihm Vertrauen zur Justiz<lb/>
gab. Diese blieb nicht mehr die unheimliche Macht, welche wie ein Fatum</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1898 8</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0065] Mittelalterliches Bauernleben ungebrochne Kraft eines reichen Gemütes ist es, aus der auf der einen Seite zarte und innige Liebe hervorblüht, während auf der andern wilde Sinnenlust, toller Übermut und keine Selbstbeschränkung kennender Strafzorn oder uner¬ sättliche Rache hervorbrechen. Die Volkserziehung muß darauf gerichtet sein, zwischen den entgegengesetzten Regungen Harmonie zu stiften und die gefähr¬ lichen zu zügeln, ohne ihnen jede Äußerung unmöglich zu machen; werden sie durch die Verfeinerung der Sitten äußerlich ganz unterdrückt, so wuchern sie heimlich fort, und was geschwächt oder vernichtet wird, ist nicht das Böse, sondern die Kraft, sodaß es dann auch die edeln Leidenschaften nur noch zu matten Regungen bringen. Was für ein glückliches Geschlecht sind doch unsre Vorfahren gewesen! ruft der Freiherr von Laßberg in der Vorrede zu seinem Liedersaal mit Beziehung auf die tollen schwanke, die er mitteilt; und jeden¬ falls sind diese ausgelassene Lustigkeit und dieser von keinem Schatten von Pessimismus angekränkelte Humor überzeugende Beweise kerniger Gesundheit. Die Eigentümlichkeiten der altdeutschen Rechtspflege sind ja auch den Nichtjuristcn unter den wissenschaftlich Gebildeten im allgemeinen bekannt, aber da das Genauere darüber meist nur in umfangreichen und schwer zu lesenden Werken zu finden ist, so hat sich der Verfasser ein Verdienst dadurch erworben, daß er in seinem nur 268 Seiten starken Buch auch diese Seite des Volkslebens kurz, übersichtlich und doch der Hauptsache nach ziemlich vollständig darstellt. Daran ist ja nicht zu denken, daß wir bei unsern verwickelten Zu¬ ständen, die eine Unzahl von Gesetzen und gelehrte Richter notwendig machen, noch einmal zum einfachen Volksgericht zurückgelangen könnten, aber das Ideal einer vernünftigen Rechtspflege bleibt dieses trotzdem, und die Verfasser des bürgerlichen Gesetzbuches haben ja auch bekanntlich das Ziel vor Augen gehabt, das Recht wenigstens wieder mehr volkstümlich zu machen, wenn auch kein Volksrecht im alten Sinne daraus werden kann. Öffentlichkeit und Münd¬ lichkeit, schreibt der Verfasser, waren die beiden Haupteigenschaften des mittel¬ alterlichen Gerichtsverfahrens. „Öffentlich wurden die Klagen vorgebracht, die Beweise geführt und die Abstimmungen vollzogen. Durch diese Verhandlung vor dem ganzen Gerichtsumstand und mit demselben lernte das Volk seinen Richter und der Richter das Volk genauer kennen; das Band der Eintracht zwischen Richter, Urteilsindern und Volk wurde so eng geknüpft. Ein weiterer wesentlicher Vorzug dieses Verfahrens lag darin, daß es eine wirksame Garantie für die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und überhaupt für die Gewissenhaftig¬ keit der Gerichte gewährte. Denn in der Öffentlichkeit der Verhandlung er¬ wächst der Gerechtigkeit eine Stütze, gegen die, wenn überhaupt ein öffentlicher Geist im Lande ist, kein ungesetzlicher Einfluß auf die Dauer etwas vermag. Vor allem war die Öffentlichkeit jedoch auch deshalb von unschätzbarem Werte, weil sie das Rechtsgefühl des Volkes belebte und ihm Vertrauen zur Justiz gab. Diese blieb nicht mehr die unheimliche Macht, welche wie ein Fatum Grenzboten III 1898 8

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/65
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/65>, abgerufen am 27.07.2024.