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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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und seine Kunst ist eine neue Periode allgemein menschlicher Kunst." Steiger
muß annehmen, daß dieser historische Prozeß sich in reißender Schnelligkeit
vollziehen werde. Er vermißt einerseits in seiner Einleitung unter den großen
Geistern der Renaissance und Reformation den Dramatiker, der erst ein halbes
Jahrhundert später in England geboren wurde, betrachtet also ein halbes Jahr¬
hundert schon als großen Zeitraum, andrerseits aber läßt er seiner Darstellung
des modernen Stimmungspoeten und einer Entwicklung, die von Ibsen über
Gerhart Hauptmann bis Maeterlinck führt, das Geständnis folgen, daß es
mit dem seelenmalenden Pessimismus, mit der Poesie des Katzenjammers nicht
gethan sei, daß es Zeit wird, "das greise Kind unsers Jahrhunderts" zu
begraben, daß der moderne Stimmungsmensch einen fröhlichen Erben, den
Helden der Zukunft, den Starken, den Überwinder haben müsse, den "That¬
menschen des neuen Jahrhunderts, der von seinem Vorgänger die neuen Augen
und die seinen Nerven und den nach innen gewendeten Blick geerbt, aus der
Tiefe der gärenden Volkskraft aber die Lebensfreude und die Hoffnung und
den Mut und die Kraft und die Selbstherrlichkeit geschöpft hat." Deshalb
kann er nicht glauben, daß noch Menschenalter und Jahrhunderte vergehen
müssen, bis der bewußte poetisch dramatische Messias erscheint. Da sich Steiger
ausdrücklich gegen die plumpen Allgemeinheiten robuster Vorwärtsstürmer ver¬
wahrt, die feine Secleumalerei des modernen Stimmungsmenschen aber doch
nur als Vorstufe zu dem Aufschwung des künftigen Thatmenschen betrachtet,
und da ihm als unerläßliche Voraussetzung sür dessen Erscheinen der Sieg
des sozialdemokratischen Evangeliums gilt, so muß ihm dieser Sieg als nahe
bevorstehend gelten. Einstweilen aber nimmt er das Wort für die Männer
der Vorstufe, die nach seiner Auffassung an der bestehenden Gesellschaft Kritik
üben, die den "sterbenden Verbrecher Kapitalismus" der Nemesis überliefern,
die Kinder der "dem Untergang geweihten Kulturwelt" mit all ihrer Müdigkeit
und all ihren Zweifeln seelisch getreu darstelle", ja die zuletzt, wie Maeterlinck,
mit "kindisch greisenhaftem Gelall" Seelenfetzen zum besten geben, in denen
die Müdigkeit einer nervös überreizten Zeit ihre letzte und wahrste Sprache
entdeckt hat, weil die sterbende Welt, "wie alle Sterbenden, keine Gedanken
mehr, sondern nur noch Ahnungen und Träume hat."

Wie man sieht, fordert diese Zwickauer Dramaturgie, die alles, was an
positiven Überzeugungen, Empfindungen und Bethätigungen innerhalb des
Lebens der Gegenwart und außerhalb des Proletariats vorhanden und wirksam
ist, entweder als Lüge oder als Zuckungen und Delirien einer sterbenden Welt
ansieht, eine ganz andre als eine ästhetische Widerlegung. Die Voraussetzung
des Verfassers giebt sich freilich als künstlerisch, aber zu den "Stimmungen,"
denen der moderne Dichter Ausdruck geben darf, scheint die Freude an der
Welt und dem Ungemeinen in ihr nicht mehr zu gehören. Da nach seiner
Lehre die ganze Fülle und Breite der bestehenden Kulturwelt dem Unter-


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und seine Kunst ist eine neue Periode allgemein menschlicher Kunst." Steiger
muß annehmen, daß dieser historische Prozeß sich in reißender Schnelligkeit
vollziehen werde. Er vermißt einerseits in seiner Einleitung unter den großen
Geistern der Renaissance und Reformation den Dramatiker, der erst ein halbes
Jahrhundert später in England geboren wurde, betrachtet also ein halbes Jahr¬
hundert schon als großen Zeitraum, andrerseits aber läßt er seiner Darstellung
des modernen Stimmungspoeten und einer Entwicklung, die von Ibsen über
Gerhart Hauptmann bis Maeterlinck führt, das Geständnis folgen, daß es
mit dem seelenmalenden Pessimismus, mit der Poesie des Katzenjammers nicht
gethan sei, daß es Zeit wird, „das greise Kind unsers Jahrhunderts" zu
begraben, daß der moderne Stimmungsmensch einen fröhlichen Erben, den
Helden der Zukunft, den Starken, den Überwinder haben müsse, den „That¬
menschen des neuen Jahrhunderts, der von seinem Vorgänger die neuen Augen
und die seinen Nerven und den nach innen gewendeten Blick geerbt, aus der
Tiefe der gärenden Volkskraft aber die Lebensfreude und die Hoffnung und
den Mut und die Kraft und die Selbstherrlichkeit geschöpft hat." Deshalb
kann er nicht glauben, daß noch Menschenalter und Jahrhunderte vergehen
müssen, bis der bewußte poetisch dramatische Messias erscheint. Da sich Steiger
ausdrücklich gegen die plumpen Allgemeinheiten robuster Vorwärtsstürmer ver¬
wahrt, die feine Secleumalerei des modernen Stimmungsmenschen aber doch
nur als Vorstufe zu dem Aufschwung des künftigen Thatmenschen betrachtet,
und da ihm als unerläßliche Voraussetzung sür dessen Erscheinen der Sieg
des sozialdemokratischen Evangeliums gilt, so muß ihm dieser Sieg als nahe
bevorstehend gelten. Einstweilen aber nimmt er das Wort für die Männer
der Vorstufe, die nach seiner Auffassung an der bestehenden Gesellschaft Kritik
üben, die den „sterbenden Verbrecher Kapitalismus" der Nemesis überliefern,
die Kinder der „dem Untergang geweihten Kulturwelt" mit all ihrer Müdigkeit
und all ihren Zweifeln seelisch getreu darstelle», ja die zuletzt, wie Maeterlinck,
mit „kindisch greisenhaftem Gelall" Seelenfetzen zum besten geben, in denen
die Müdigkeit einer nervös überreizten Zeit ihre letzte und wahrste Sprache
entdeckt hat, weil die sterbende Welt, „wie alle Sterbenden, keine Gedanken
mehr, sondern nur noch Ahnungen und Träume hat."

Wie man sieht, fordert diese Zwickauer Dramaturgie, die alles, was an
positiven Überzeugungen, Empfindungen und Bethätigungen innerhalb des
Lebens der Gegenwart und außerhalb des Proletariats vorhanden und wirksam
ist, entweder als Lüge oder als Zuckungen und Delirien einer sterbenden Welt
ansieht, eine ganz andre als eine ästhetische Widerlegung. Die Voraussetzung
des Verfassers giebt sich freilich als künstlerisch, aber zu den „Stimmungen,"
denen der moderne Dichter Ausdruck geben darf, scheint die Freude an der
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[0618] Line Zwickcmer Dramaturgie und seine Kunst ist eine neue Periode allgemein menschlicher Kunst." Steiger muß annehmen, daß dieser historische Prozeß sich in reißender Schnelligkeit vollziehen werde. Er vermißt einerseits in seiner Einleitung unter den großen Geistern der Renaissance und Reformation den Dramatiker, der erst ein halbes Jahrhundert später in England geboren wurde, betrachtet also ein halbes Jahr¬ hundert schon als großen Zeitraum, andrerseits aber läßt er seiner Darstellung des modernen Stimmungspoeten und einer Entwicklung, die von Ibsen über Gerhart Hauptmann bis Maeterlinck führt, das Geständnis folgen, daß es mit dem seelenmalenden Pessimismus, mit der Poesie des Katzenjammers nicht gethan sei, daß es Zeit wird, „das greise Kind unsers Jahrhunderts" zu begraben, daß der moderne Stimmungsmensch einen fröhlichen Erben, den Helden der Zukunft, den Starken, den Überwinder haben müsse, den „That¬ menschen des neuen Jahrhunderts, der von seinem Vorgänger die neuen Augen und die seinen Nerven und den nach innen gewendeten Blick geerbt, aus der Tiefe der gärenden Volkskraft aber die Lebensfreude und die Hoffnung und den Mut und die Kraft und die Selbstherrlichkeit geschöpft hat." Deshalb kann er nicht glauben, daß noch Menschenalter und Jahrhunderte vergehen müssen, bis der bewußte poetisch dramatische Messias erscheint. Da sich Steiger ausdrücklich gegen die plumpen Allgemeinheiten robuster Vorwärtsstürmer ver¬ wahrt, die feine Secleumalerei des modernen Stimmungsmenschen aber doch nur als Vorstufe zu dem Aufschwung des künftigen Thatmenschen betrachtet, und da ihm als unerläßliche Voraussetzung sür dessen Erscheinen der Sieg des sozialdemokratischen Evangeliums gilt, so muß ihm dieser Sieg als nahe bevorstehend gelten. Einstweilen aber nimmt er das Wort für die Männer der Vorstufe, die nach seiner Auffassung an der bestehenden Gesellschaft Kritik üben, die den „sterbenden Verbrecher Kapitalismus" der Nemesis überliefern, die Kinder der „dem Untergang geweihten Kulturwelt" mit all ihrer Müdigkeit und all ihren Zweifeln seelisch getreu darstelle», ja die zuletzt, wie Maeterlinck, mit „kindisch greisenhaftem Gelall" Seelenfetzen zum besten geben, in denen die Müdigkeit einer nervös überreizten Zeit ihre letzte und wahrste Sprache entdeckt hat, weil die sterbende Welt, „wie alle Sterbenden, keine Gedanken mehr, sondern nur noch Ahnungen und Träume hat." Wie man sieht, fordert diese Zwickauer Dramaturgie, die alles, was an positiven Überzeugungen, Empfindungen und Bethätigungen innerhalb des Lebens der Gegenwart und außerhalb des Proletariats vorhanden und wirksam ist, entweder als Lüge oder als Zuckungen und Delirien einer sterbenden Welt ansieht, eine ganz andre als eine ästhetische Widerlegung. Die Voraussetzung des Verfassers giebt sich freilich als künstlerisch, aber zu den „Stimmungen," denen der moderne Dichter Ausdruck geben darf, scheint die Freude an der Welt und dem Ungemeinen in ihr nicht mehr zu gehören. Da nach seiner Lehre die ganze Fülle und Breite der bestehenden Kulturwelt dem Unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/618>, abgerufen am 28.07.2024.