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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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schickten. Übrigens kommt es in diesem Falle wie in manchem andern nur
darauf an, wie einer die Besinnung und Sammlung nutzt, die ihm unfreiwillig
verschafft wird. Edgar Steiger wollte "keine Geschichte des neuern Dramas
geben," wollte vielmehr "die neuen Inhalte und die neuen Formen der drama¬
tischen Dichtung von heute in ihrem geschichtlichen Werden näher betrachten
und mit dem, was früher war, vergleichen." Der Verfasser dieser Zwickauer
Dramaturgie gehört zu den Ästhetikern der freien Bühnen und litterarischen
Gesellschaften, die nicht den leisesten Zweifel hegen, daß die jüngste Entwick¬
lung der dramatischen Litteratur den Beginn eines neuen großen Zeitalters
bedeute, und daß es das schöne Vorrecht wie die heilige Pflicht der Zeit¬
genossen einer großen Kunstbewegung sei, das Werdende zu schauen, zu ge¬
nießen, zu verstehen. Er sucht eine tiefere Begründung für die Zuversicht, die
ihm die Erscheinungen des Tages (wir sagen absichtlich nicht der Gegenwart,
weil in Leben und Dichtung unter der Gegenwart denn doch etwas mehr ver¬
standen werden muß, als das laufende Jahrzehnt oder Jahrfünft) in so Hellem
Licht erscheinen läßt. Er gesteht zu, daß der bloße Ausblick auf ein mächtig
bewegtes Jahrhundert keine Bürgschaft für die Erfüllung der Sehnsucht nach
einem großen Tragiker oder überhaupt nur einem großen Dichter gewähre.
"Allein es ist nicht etwa das dramatische Volksleben um mich her, das in mir
den schönen Glauben nährt, daß wir in einem dramatischen Zeitalter leben.
Nein, es ist die poetische Wirklichkeit, die mich umgiebt, das stille, geheime
Schaffen landauf landab, das ich rings um mich erblicke, es ist die rührende
selbstlose Arbeit kunstfroher Geister, die alle wissen, daß sie nur von wenigen
verstanden werden, es ist der Mut und der Trotz und die Geduld dieser Leute,
was mich mit der stillfrohen Zuversicht erfüllt, daß wir einer großen Zeit
der europäischen Dichtung entgegengehen. Wie kommt es, daß alle diese
Schaffenden dasselbe dumpfe Ahnen haben, wie ich, daß man überall, wohin
man lauschen mag, von dem kommenden Dichter spricht? Woher denn auf
einmal die wunderliche Bescheidenheit all jener stillen Schaffenden, von denen
ich hier rede? Weshalb begnügt man sich auf einmal mit der Rolle des
Täufers? Warum nennt man sich mit Vorliebe (und ich rede hier von
Dichtern, nicht von Malern) Prärafaelit? Sollten all diese Träumer eitle
Narren sein?"

Man dürfte auf diese Fragen ohne Ungerechtigkeit antworten: Ente Narren
sind die, die sich im Geheimen dennoch die Aufgabe des poetischen Messias
zuerteilen; sind die, die sich nach ihrer programmhaften Ästhetik und Litteratur¬
geschichte in der Johannesrolle gefallen, während sie weder mit Wasser noch mit
Feuer zu taufen haben; Narren sind die, die auf wahrhaftige Talente, in denen
der Odem echten Lebens weht, und denen daher nicht gegönnt ist, mit fratzenhafter
Willkür die Wahrheit des Lebens zu verzerren, mit überlegnem Bewußtsein hinab¬
sehen und sie aus der Reihe der Schaffenden einfach hinauszudrängen suchen.


Line Zwickauer Dramaturgie

schickten. Übrigens kommt es in diesem Falle wie in manchem andern nur
darauf an, wie einer die Besinnung und Sammlung nutzt, die ihm unfreiwillig
verschafft wird. Edgar Steiger wollte „keine Geschichte des neuern Dramas
geben," wollte vielmehr „die neuen Inhalte und die neuen Formen der drama¬
tischen Dichtung von heute in ihrem geschichtlichen Werden näher betrachten
und mit dem, was früher war, vergleichen." Der Verfasser dieser Zwickauer
Dramaturgie gehört zu den Ästhetikern der freien Bühnen und litterarischen
Gesellschaften, die nicht den leisesten Zweifel hegen, daß die jüngste Entwick¬
lung der dramatischen Litteratur den Beginn eines neuen großen Zeitalters
bedeute, und daß es das schöne Vorrecht wie die heilige Pflicht der Zeit¬
genossen einer großen Kunstbewegung sei, das Werdende zu schauen, zu ge¬
nießen, zu verstehen. Er sucht eine tiefere Begründung für die Zuversicht, die
ihm die Erscheinungen des Tages (wir sagen absichtlich nicht der Gegenwart,
weil in Leben und Dichtung unter der Gegenwart denn doch etwas mehr ver¬
standen werden muß, als das laufende Jahrzehnt oder Jahrfünft) in so Hellem
Licht erscheinen läßt. Er gesteht zu, daß der bloße Ausblick auf ein mächtig
bewegtes Jahrhundert keine Bürgschaft für die Erfüllung der Sehnsucht nach
einem großen Tragiker oder überhaupt nur einem großen Dichter gewähre.
„Allein es ist nicht etwa das dramatische Volksleben um mich her, das in mir
den schönen Glauben nährt, daß wir in einem dramatischen Zeitalter leben.
Nein, es ist die poetische Wirklichkeit, die mich umgiebt, das stille, geheime
Schaffen landauf landab, das ich rings um mich erblicke, es ist die rührende
selbstlose Arbeit kunstfroher Geister, die alle wissen, daß sie nur von wenigen
verstanden werden, es ist der Mut und der Trotz und die Geduld dieser Leute,
was mich mit der stillfrohen Zuversicht erfüllt, daß wir einer großen Zeit
der europäischen Dichtung entgegengehen. Wie kommt es, daß alle diese
Schaffenden dasselbe dumpfe Ahnen haben, wie ich, daß man überall, wohin
man lauschen mag, von dem kommenden Dichter spricht? Woher denn auf
einmal die wunderliche Bescheidenheit all jener stillen Schaffenden, von denen
ich hier rede? Weshalb begnügt man sich auf einmal mit der Rolle des
Täufers? Warum nennt man sich mit Vorliebe (und ich rede hier von
Dichtern, nicht von Malern) Prärafaelit? Sollten all diese Träumer eitle
Narren sein?"

Man dürfte auf diese Fragen ohne Ungerechtigkeit antworten: Ente Narren
sind die, die sich im Geheimen dennoch die Aufgabe des poetischen Messias
zuerteilen; sind die, die sich nach ihrer programmhaften Ästhetik und Litteratur¬
geschichte in der Johannesrolle gefallen, während sie weder mit Wasser noch mit
Feuer zu taufen haben; Narren sind die, die auf wahrhaftige Talente, in denen
der Odem echten Lebens weht, und denen daher nicht gegönnt ist, mit fratzenhafter
Willkür die Wahrheit des Lebens zu verzerren, mit überlegnem Bewußtsein hinab¬
sehen und sie aus der Reihe der Schaffenden einfach hinauszudrängen suchen.


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[0616] Line Zwickauer Dramaturgie schickten. Übrigens kommt es in diesem Falle wie in manchem andern nur darauf an, wie einer die Besinnung und Sammlung nutzt, die ihm unfreiwillig verschafft wird. Edgar Steiger wollte „keine Geschichte des neuern Dramas geben," wollte vielmehr „die neuen Inhalte und die neuen Formen der drama¬ tischen Dichtung von heute in ihrem geschichtlichen Werden näher betrachten und mit dem, was früher war, vergleichen." Der Verfasser dieser Zwickauer Dramaturgie gehört zu den Ästhetikern der freien Bühnen und litterarischen Gesellschaften, die nicht den leisesten Zweifel hegen, daß die jüngste Entwick¬ lung der dramatischen Litteratur den Beginn eines neuen großen Zeitalters bedeute, und daß es das schöne Vorrecht wie die heilige Pflicht der Zeit¬ genossen einer großen Kunstbewegung sei, das Werdende zu schauen, zu ge¬ nießen, zu verstehen. Er sucht eine tiefere Begründung für die Zuversicht, die ihm die Erscheinungen des Tages (wir sagen absichtlich nicht der Gegenwart, weil in Leben und Dichtung unter der Gegenwart denn doch etwas mehr ver¬ standen werden muß, als das laufende Jahrzehnt oder Jahrfünft) in so Hellem Licht erscheinen läßt. Er gesteht zu, daß der bloße Ausblick auf ein mächtig bewegtes Jahrhundert keine Bürgschaft für die Erfüllung der Sehnsucht nach einem großen Tragiker oder überhaupt nur einem großen Dichter gewähre. „Allein es ist nicht etwa das dramatische Volksleben um mich her, das in mir den schönen Glauben nährt, daß wir in einem dramatischen Zeitalter leben. Nein, es ist die poetische Wirklichkeit, die mich umgiebt, das stille, geheime Schaffen landauf landab, das ich rings um mich erblicke, es ist die rührende selbstlose Arbeit kunstfroher Geister, die alle wissen, daß sie nur von wenigen verstanden werden, es ist der Mut und der Trotz und die Geduld dieser Leute, was mich mit der stillfrohen Zuversicht erfüllt, daß wir einer großen Zeit der europäischen Dichtung entgegengehen. Wie kommt es, daß alle diese Schaffenden dasselbe dumpfe Ahnen haben, wie ich, daß man überall, wohin man lauschen mag, von dem kommenden Dichter spricht? Woher denn auf einmal die wunderliche Bescheidenheit all jener stillen Schaffenden, von denen ich hier rede? Weshalb begnügt man sich auf einmal mit der Rolle des Täufers? Warum nennt man sich mit Vorliebe (und ich rede hier von Dichtern, nicht von Malern) Prärafaelit? Sollten all diese Träumer eitle Narren sein?" Man dürfte auf diese Fragen ohne Ungerechtigkeit antworten: Ente Narren sind die, die sich im Geheimen dennoch die Aufgabe des poetischen Messias zuerteilen; sind die, die sich nach ihrer programmhaften Ästhetik und Litteratur¬ geschichte in der Johannesrolle gefallen, während sie weder mit Wasser noch mit Feuer zu taufen haben; Narren sind die, die auf wahrhaftige Talente, in denen der Odem echten Lebens weht, und denen daher nicht gegönnt ist, mit fratzenhafter Willkür die Wahrheit des Lebens zu verzerren, mit überlegnem Bewußtsein hinab¬ sehen und sie aus der Reihe der Schaffenden einfach hinauszudrängen suchen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/616>, abgerufen am 27.07.2024.