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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte

Gebieten wie im alten Griechenland und zuletzt eine Blüte der Künste und
Wissenschaften hervorgehen werde, die vollen Ersatz zu bieten vermöchte für die
politische Schwäche und Nückstündigkeit. Diese Lehre haben uns besonders
die besten Freunde Deutschlands in Frankreich und England vorgetragen, die
ein eignes System der Verteilung der Leistungen und Würden für Europa er¬
sannen, worin Deutschland das philosophische Denken für die ganze übrige Welt
unter dem Verzicht auf die Vorteile und Ehren der politischen Größe zuge¬
dacht war. Auch darin spielte ihre Rolle die Gliederung des deutschen Bodens,
die der Entwicklung einer großen zusammengefaßten Macht nicht günstig sei.
Alle Mittel- und kleinstaatlichen Philosophen beeilten sich, diese Ansicht zu ver¬
treten, die die politische Zerrissenheit mit dem tröstenden Schein einer großen
Bestimmung zum Heil der Menschheit umgab. Es waren dieselben Philo¬
sophen, die eine unausfüllbare Kluft zwischen Nord und Süd aus Gründen
von ebenso zweifelhafter Güte konstruirten. Wer sie in der geistvollsten Dar¬
stellung kennen lernen will, lese die Einleitung "Südwest und Nordost" zu
Viktor Hehns Gedanken über Goethe, wo die Gegensätze zwischen Nord- und
Süddeutschland kühl mit einer Gelehrsamkeit zugespitzt werden, die sich mit der in
dem berühmten Pamphlet von Qucitrefciges t^vo xrusÄsrms entwickelten
messen kann. Hehn war mit seinem Ballast von Bücherwissen, dem keine naive
Beobachtung das Gleichgewicht hielt, und mit seiner Sicherheit willkürlichen
Behauptens so recht der Mann, der der deutschen gelehrten Halbbildung impo-
niren konnte, die sich vor jedem sicher ausgesprochen Gedanken beugt, besonders
wenn er mit Zitaten belegt ist. Kommt sie doch nie ganz aus der Schule
heraus, ist ihr doch unschulmüßig freies Denken immer etwas unbehaglich,
freut sie sich doch zumeist am Nachdenken des von Vielen Vorgedachten, an
Auffrischungs- und Flickarbeit.

Wenn eine irrtümliche Annahme, wie die des zersplitternden Einflusses
des deutschen Bodens auf die Staatenbildung, ein dürres Blatt wäre, das
ruhig zwischen andern lüge, wäre es nicht der Mühe wert, darauf zurückzu¬
kommen. Aber sie ist in Wirklichkeit ein Unkraut, das dem gesunden Wachs¬
tum nützlicher Pflanzen Luft und Boden raubt. Nun haben wir aber nicht
bloß ein wissenschaftliches Interesse daran, daß die Wahrheit über die Be¬
ziehungen zwischen dem Boden und der Geschichte in diesem seit zweitausend,
Jahren germanischen Herzen Europas erkannt werde. Es gehört vielmehr diese
Erkenntnis zu der Vollendung der Vaterlandskunde. Wir werden diesen unsern
Boden noch höher schätzen, wenn wir seine Bedeutung für die deutsche Ge¬
schichte besser verstehen gelernt haben; und es scheint uns die Hoffnung auf
einen klarern Blick in die Grundzüge und auf das Ziel der deutschen Ent¬
wicklung durch die Betrachtung dieser Entwicklung auf ihrem Boden nicht allzu
verwegen zu sein. Darin bestärkt uns die Erfahrung, daß in neuern Werken
über deutsche Geschichte der Boden gleichsam immer mehr durchscheint, je größer


Der deutsche Boden und die deutsche Geschichte

Gebieten wie im alten Griechenland und zuletzt eine Blüte der Künste und
Wissenschaften hervorgehen werde, die vollen Ersatz zu bieten vermöchte für die
politische Schwäche und Nückstündigkeit. Diese Lehre haben uns besonders
die besten Freunde Deutschlands in Frankreich und England vorgetragen, die
ein eignes System der Verteilung der Leistungen und Würden für Europa er¬
sannen, worin Deutschland das philosophische Denken für die ganze übrige Welt
unter dem Verzicht auf die Vorteile und Ehren der politischen Größe zuge¬
dacht war. Auch darin spielte ihre Rolle die Gliederung des deutschen Bodens,
die der Entwicklung einer großen zusammengefaßten Macht nicht günstig sei.
Alle Mittel- und kleinstaatlichen Philosophen beeilten sich, diese Ansicht zu ver¬
treten, die die politische Zerrissenheit mit dem tröstenden Schein einer großen
Bestimmung zum Heil der Menschheit umgab. Es waren dieselben Philo¬
sophen, die eine unausfüllbare Kluft zwischen Nord und Süd aus Gründen
von ebenso zweifelhafter Güte konstruirten. Wer sie in der geistvollsten Dar¬
stellung kennen lernen will, lese die Einleitung „Südwest und Nordost" zu
Viktor Hehns Gedanken über Goethe, wo die Gegensätze zwischen Nord- und
Süddeutschland kühl mit einer Gelehrsamkeit zugespitzt werden, die sich mit der in
dem berühmten Pamphlet von Qucitrefciges t^vo xrusÄsrms entwickelten
messen kann. Hehn war mit seinem Ballast von Bücherwissen, dem keine naive
Beobachtung das Gleichgewicht hielt, und mit seiner Sicherheit willkürlichen
Behauptens so recht der Mann, der der deutschen gelehrten Halbbildung impo-
niren konnte, die sich vor jedem sicher ausgesprochen Gedanken beugt, besonders
wenn er mit Zitaten belegt ist. Kommt sie doch nie ganz aus der Schule
heraus, ist ihr doch unschulmüßig freies Denken immer etwas unbehaglich,
freut sie sich doch zumeist am Nachdenken des von Vielen Vorgedachten, an
Auffrischungs- und Flickarbeit.

Wenn eine irrtümliche Annahme, wie die des zersplitternden Einflusses
des deutschen Bodens auf die Staatenbildung, ein dürres Blatt wäre, das
ruhig zwischen andern lüge, wäre es nicht der Mühe wert, darauf zurückzu¬
kommen. Aber sie ist in Wirklichkeit ein Unkraut, das dem gesunden Wachs¬
tum nützlicher Pflanzen Luft und Boden raubt. Nun haben wir aber nicht
bloß ein wissenschaftliches Interesse daran, daß die Wahrheit über die Be¬
ziehungen zwischen dem Boden und der Geschichte in diesem seit zweitausend,
Jahren germanischen Herzen Europas erkannt werde. Es gehört vielmehr diese
Erkenntnis zu der Vollendung der Vaterlandskunde. Wir werden diesen unsern
Boden noch höher schätzen, wenn wir seine Bedeutung für die deutsche Ge¬
schichte besser verstehen gelernt haben; und es scheint uns die Hoffnung auf
einen klarern Blick in die Grundzüge und auf das Ziel der deutschen Ent¬
wicklung durch die Betrachtung dieser Entwicklung auf ihrem Boden nicht allzu
verwegen zu sein. Darin bestärkt uns die Erfahrung, daß in neuern Werken
über deutsche Geschichte der Boden gleichsam immer mehr durchscheint, je größer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/600>, abgerufen am 27.07.2024.