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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Mittelalterliches Bauernleben

die denkbar elendeste Wirtschaft sei;*) das Großgut wurde deshalb geteilt und
parzellenweise an Sklaven ausgegeben, die nun allmählich zum Range von
persönlich freien Erbpächtern aufstiegen. Dann kam der Steuerdruck des
Staates, die Bauern liefen aufs neue fort, und das Land verödete wieder.
Dieser Prozeß hat sich seitdem in Europa noch ein halbes oder vielleicht auch
ein ganzes Dutzend mal wiederholt, und heute sehen wir ihn sich aufs neue
abspielen. So lange der Mensch Lebenskraft und Lebensmut hat, bleibt er
nicht an einer Stelle, wo ihm das Leben unerträglich dünkt; nur eine körper¬
liche Fessel kann ihn halten. Das Lumpenproletariat großer Städte, dessen
Leben zwischen der Wohnungsspelunke und der Schnapskueipe im stinkenden
Elend verläuft, sodaß es jedem wirklichen Menschen unerträglich erscheinen
müßte, das bleibt freilich hocken und liegen, wo es der Strom des modernen
Wirtschaftslebens einmal hingeschwemmt hat, denn es hat nicht die Kraft zu
wandern und zu kämpfen, und sein Gesichtskreis reicht auch meist nicht einmal
über seinen Sumpf hinaus, dem es sich darwiuisch angepaßt hat. Aber diese
Wesen sind auch keine Menschen mehr, und eine aus lauter solchen Wesen be¬
stehende Bevölkerung würde den Namen eines Volkes nicht verdienen. Und
mit dem Gesetz, das in der Flucht aus unleidlichen Verhältnissen zur Er¬
scheinung kommt, steht das andre in Wechselwirkung, daß sich die Behandlung
der Arbeiter, mögen es Fronbauern oder Sklaven oder Lohnarbeiter sein,
darnach richtet, wie weit ihre Zahl die Nachfrage deckt.

Wir haben bei einer frühern Gelegenheit gesehen, wie es der schwarze
Tod gewesen ist, der in England den ländlichen Tagelöhnern goldne Zeiten
gebracht hat, und wie dann bei stetiger Volksvermehrung die Verminderung
des Lohnes, die weder Gesetze noch Strafen zu erzwingen vermocht hatten,
von selbst eingetreten ist. In neuern Zeiten hat die Welt gesehen, wie gut
und zum Teil glänzend sich die Lage der Arbeiter in den amerikanischen, dann
in den australischen Kolonien gestaltet hat, und wie es damit bei steigender
Volksdichtigkeit allmählich abwärts gegangen ist. Heute endlich erleben wir
es zur Bestätigung beider Gesetze zugleich, daß in Italien und in Ungarn
die Feldarbeiter von Soldaten mit geladnem Gewehr aufs Feld hinaus trans-
portirt werden -- da haben wir die Kette und das 6rg'Ä8w1v.in des römischen
Latifundiums aus dem Antiken ins Moderne und aus dem Zivilrechtlichen ins
staatsrechtliche übertragen! Einen bedeutenden Fortschritt freilich hat die
moderne Kultur über die antike hinaus gemacht: die Arbeiter, die in Italien
von Soldaten auf die Reisfelder transportirt werden, wo sie um sechzig
Centesimi von morgens bis abends im Sumpfwasser stehend unter glühendem
Sonnenbrand arbeiten müssen, sind meistens -- Frauen.



Die Latifundienwirtschaft richtete Italien zu Grunde, wie Plinius schreibt. Friedländer
weist freilich nach, daß Plinius übertreibt, daß diese abscheuliche Latifundicnwirtschaft in Italien
niemals ^allgemein gewesen, und der Stand der Kleinbauern und Kleinpächter zu keiner Zeit
ganz verschwunden ist.
Mittelalterliches Bauernleben

die denkbar elendeste Wirtschaft sei;*) das Großgut wurde deshalb geteilt und
parzellenweise an Sklaven ausgegeben, die nun allmählich zum Range von
persönlich freien Erbpächtern aufstiegen. Dann kam der Steuerdruck des
Staates, die Bauern liefen aufs neue fort, und das Land verödete wieder.
Dieser Prozeß hat sich seitdem in Europa noch ein halbes oder vielleicht auch
ein ganzes Dutzend mal wiederholt, und heute sehen wir ihn sich aufs neue
abspielen. So lange der Mensch Lebenskraft und Lebensmut hat, bleibt er
nicht an einer Stelle, wo ihm das Leben unerträglich dünkt; nur eine körper¬
liche Fessel kann ihn halten. Das Lumpenproletariat großer Städte, dessen
Leben zwischen der Wohnungsspelunke und der Schnapskueipe im stinkenden
Elend verläuft, sodaß es jedem wirklichen Menschen unerträglich erscheinen
müßte, das bleibt freilich hocken und liegen, wo es der Strom des modernen
Wirtschaftslebens einmal hingeschwemmt hat, denn es hat nicht die Kraft zu
wandern und zu kämpfen, und sein Gesichtskreis reicht auch meist nicht einmal
über seinen Sumpf hinaus, dem es sich darwiuisch angepaßt hat. Aber diese
Wesen sind auch keine Menschen mehr, und eine aus lauter solchen Wesen be¬
stehende Bevölkerung würde den Namen eines Volkes nicht verdienen. Und
mit dem Gesetz, das in der Flucht aus unleidlichen Verhältnissen zur Er¬
scheinung kommt, steht das andre in Wechselwirkung, daß sich die Behandlung
der Arbeiter, mögen es Fronbauern oder Sklaven oder Lohnarbeiter sein,
darnach richtet, wie weit ihre Zahl die Nachfrage deckt.

Wir haben bei einer frühern Gelegenheit gesehen, wie es der schwarze
Tod gewesen ist, der in England den ländlichen Tagelöhnern goldne Zeiten
gebracht hat, und wie dann bei stetiger Volksvermehrung die Verminderung
des Lohnes, die weder Gesetze noch Strafen zu erzwingen vermocht hatten,
von selbst eingetreten ist. In neuern Zeiten hat die Welt gesehen, wie gut
und zum Teil glänzend sich die Lage der Arbeiter in den amerikanischen, dann
in den australischen Kolonien gestaltet hat, und wie es damit bei steigender
Volksdichtigkeit allmählich abwärts gegangen ist. Heute endlich erleben wir
es zur Bestätigung beider Gesetze zugleich, daß in Italien und in Ungarn
die Feldarbeiter von Soldaten mit geladnem Gewehr aufs Feld hinaus trans-
portirt werden — da haben wir die Kette und das 6rg'Ä8w1v.in des römischen
Latifundiums aus dem Antiken ins Moderne und aus dem Zivilrechtlichen ins
staatsrechtliche übertragen! Einen bedeutenden Fortschritt freilich hat die
moderne Kultur über die antike hinaus gemacht: die Arbeiter, die in Italien
von Soldaten auf die Reisfelder transportirt werden, wo sie um sechzig
Centesimi von morgens bis abends im Sumpfwasser stehend unter glühendem
Sonnenbrand arbeiten müssen, sind meistens — Frauen.



Die Latifundienwirtschaft richtete Italien zu Grunde, wie Plinius schreibt. Friedländer
weist freilich nach, daß Plinius übertreibt, daß diese abscheuliche Latifundicnwirtschaft in Italien
niemals ^allgemein gewesen, und der Stand der Kleinbauern und Kleinpächter zu keiner Zeit
ganz verschwunden ist.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/60>, abgerufen am 28.07.2024.