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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Was ist uns Anatolien?

Gold, das ja im Lande nicht gewonnen wird, kommt herein gegen den vor¬
nehmsten Ausfuhrartikel dieser Gegend, die berühmte Angorawolle, und gegen
die steigenden Mengen von Getreide, die neuerdings ausgeführt werden, und
es kommt vielleicht gerade darum im Überfluß, weil der Bauer noch nicht
gelernt hat, ausländische Waren statt dessen zu bestellen, wie es ein Ansiedler
in Amerika thun würde.

So ist es denn kein Wunder, daß selbst die bequemen Türken langsam
von der auri Sö-ers, lÄiriös ergriffen werden und Korn bauen lernen für den
Export. Der Getreidebau breitet sich von Jahr zu Jahr etwas aus. Wo
mit Hilfe der Negierung die sogenannten Muhadschirs, muhammedanische Ein¬
wohner aus dem Balkan und vom Kaukasus, Dörfer gegründet haben, da kann
man sogar sagen, daß hier und da eine Thalbreite vollständig angebaut sei,
das heißt, wenn man die weitgehendste Bräche und Weidewirtschaft als un¬
umgänglich zugiebt.

Diese Oasen liegen am dichtesten zwischen Juvnn, Eskischehir und Kutaja.
Der Anbau wird sich auch weiterhin vermehren, aber langsam, sehr langsam.
Voriges Jahr gab es ausnahmsweise eine gute Ernte. Die Bauern hatten
bis spät in den Herbst hinein zu thun, um mit ihren unvollkommnen Werk¬
zeugen den Erntesegcn einzubringen und zu dreschen. Zum Teil lag das Ge¬
treide im Monat Mai noch ungedroschen in Diemen auf dem Felde. Es
hatten ihnen auch die Arbeitskräfte gefehlt, weil viele Männer hatten in den
Krieg ziehen müssen. Infolge dessen fiel die Winterbestelluug unvollkommen
aus. Das Frühjahr war trocken. Da konnten sie mit ihrem armseligen
Pfluge und ihrem verhungerten Zugvieh den harten Boden wieder nicht be¬
arbeiten und warteten bis Ende April auf Regen, um ihre Sommerbestellung
zu machen, oder verzichteten auch ganz darauf, um das Saatgut nicht zu ver¬
lieren. So scheint dieses Jahr der Anbau keine bedeutende" Fortschritte gemacht
zu haben. Man taxirt in manchen Gegenden die Ernte auf die Hälfte der
vorjährigen. In einigen Provinzen haben sogar die Gouverneure aus Angst
vor einer Mißernte vorübergehend die Ausfuhr verboten.

Und doch müßten diese weiten Thäler Getreideländer ersten Ranges sein.
Darin stimmen alle Sachverständigen überein, die bisher über das Land be¬
richtet haben. Der Boden ist meistens von der besten Art, vier Meter tiefer,
steinfreier Lehmboden, darunter Grundwasser, das dank der Nähe der Berge
den ganzen Sommer über einen gleich hohen Stand behält, das eher an manchen


gehult bestimmt wird. Von einer Währung mit Goldagio scheinen mir diese Verhältnisse dadurch
in etwas unterschieden, das; sich das Gold in beträchtlichen Mengen im Verkehr erhält. Ver¬
wickele werden die Verhältnisse nun noch dadurch, das, die Regierung mit Absicht das Kleingeld
unter dem Bedarf hält, sodaß es wieder je nach der Größe des Tausches oder.Kaufes und auch
von einer Provinz zur andern verschieden ist, wieviel Silberpiaster auf einen Mcdschidieh gehen,
ob neunzehn oder zwanzig.
Was ist uns Anatolien?

Gold, das ja im Lande nicht gewonnen wird, kommt herein gegen den vor¬
nehmsten Ausfuhrartikel dieser Gegend, die berühmte Angorawolle, und gegen
die steigenden Mengen von Getreide, die neuerdings ausgeführt werden, und
es kommt vielleicht gerade darum im Überfluß, weil der Bauer noch nicht
gelernt hat, ausländische Waren statt dessen zu bestellen, wie es ein Ansiedler
in Amerika thun würde.

So ist es denn kein Wunder, daß selbst die bequemen Türken langsam
von der auri Sö-ers, lÄiriös ergriffen werden und Korn bauen lernen für den
Export. Der Getreidebau breitet sich von Jahr zu Jahr etwas aus. Wo
mit Hilfe der Negierung die sogenannten Muhadschirs, muhammedanische Ein¬
wohner aus dem Balkan und vom Kaukasus, Dörfer gegründet haben, da kann
man sogar sagen, daß hier und da eine Thalbreite vollständig angebaut sei,
das heißt, wenn man die weitgehendste Bräche und Weidewirtschaft als un¬
umgänglich zugiebt.

Diese Oasen liegen am dichtesten zwischen Juvnn, Eskischehir und Kutaja.
Der Anbau wird sich auch weiterhin vermehren, aber langsam, sehr langsam.
Voriges Jahr gab es ausnahmsweise eine gute Ernte. Die Bauern hatten
bis spät in den Herbst hinein zu thun, um mit ihren unvollkommnen Werk¬
zeugen den Erntesegcn einzubringen und zu dreschen. Zum Teil lag das Ge¬
treide im Monat Mai noch ungedroschen in Diemen auf dem Felde. Es
hatten ihnen auch die Arbeitskräfte gefehlt, weil viele Männer hatten in den
Krieg ziehen müssen. Infolge dessen fiel die Winterbestelluug unvollkommen
aus. Das Frühjahr war trocken. Da konnten sie mit ihrem armseligen
Pfluge und ihrem verhungerten Zugvieh den harten Boden wieder nicht be¬
arbeiten und warteten bis Ende April auf Regen, um ihre Sommerbestellung
zu machen, oder verzichteten auch ganz darauf, um das Saatgut nicht zu ver¬
lieren. So scheint dieses Jahr der Anbau keine bedeutende» Fortschritte gemacht
zu haben. Man taxirt in manchen Gegenden die Ernte auf die Hälfte der
vorjährigen. In einigen Provinzen haben sogar die Gouverneure aus Angst
vor einer Mißernte vorübergehend die Ausfuhr verboten.

Und doch müßten diese weiten Thäler Getreideländer ersten Ranges sein.
Darin stimmen alle Sachverständigen überein, die bisher über das Land be¬
richtet haben. Der Boden ist meistens von der besten Art, vier Meter tiefer,
steinfreier Lehmboden, darunter Grundwasser, das dank der Nähe der Berge
den ganzen Sommer über einen gleich hohen Stand behält, das eher an manchen


gehult bestimmt wird. Von einer Währung mit Goldagio scheinen mir diese Verhältnisse dadurch
in etwas unterschieden, das; sich das Gold in beträchtlichen Mengen im Verkehr erhält. Ver¬
wickele werden die Verhältnisse nun noch dadurch, das, die Regierung mit Absicht das Kleingeld
unter dem Bedarf hält, sodaß es wieder je nach der Größe des Tausches oder.Kaufes und auch
von einer Provinz zur andern verschieden ist, wieviel Silberpiaster auf einen Mcdschidieh gehen,
ob neunzehn oder zwanzig.
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[0591] Was ist uns Anatolien? Gold, das ja im Lande nicht gewonnen wird, kommt herein gegen den vor¬ nehmsten Ausfuhrartikel dieser Gegend, die berühmte Angorawolle, und gegen die steigenden Mengen von Getreide, die neuerdings ausgeführt werden, und es kommt vielleicht gerade darum im Überfluß, weil der Bauer noch nicht gelernt hat, ausländische Waren statt dessen zu bestellen, wie es ein Ansiedler in Amerika thun würde. So ist es denn kein Wunder, daß selbst die bequemen Türken langsam von der auri Sö-ers, lÄiriös ergriffen werden und Korn bauen lernen für den Export. Der Getreidebau breitet sich von Jahr zu Jahr etwas aus. Wo mit Hilfe der Negierung die sogenannten Muhadschirs, muhammedanische Ein¬ wohner aus dem Balkan und vom Kaukasus, Dörfer gegründet haben, da kann man sogar sagen, daß hier und da eine Thalbreite vollständig angebaut sei, das heißt, wenn man die weitgehendste Bräche und Weidewirtschaft als un¬ umgänglich zugiebt. Diese Oasen liegen am dichtesten zwischen Juvnn, Eskischehir und Kutaja. Der Anbau wird sich auch weiterhin vermehren, aber langsam, sehr langsam. Voriges Jahr gab es ausnahmsweise eine gute Ernte. Die Bauern hatten bis spät in den Herbst hinein zu thun, um mit ihren unvollkommnen Werk¬ zeugen den Erntesegcn einzubringen und zu dreschen. Zum Teil lag das Ge¬ treide im Monat Mai noch ungedroschen in Diemen auf dem Felde. Es hatten ihnen auch die Arbeitskräfte gefehlt, weil viele Männer hatten in den Krieg ziehen müssen. Infolge dessen fiel die Winterbestelluug unvollkommen aus. Das Frühjahr war trocken. Da konnten sie mit ihrem armseligen Pfluge und ihrem verhungerten Zugvieh den harten Boden wieder nicht be¬ arbeiten und warteten bis Ende April auf Regen, um ihre Sommerbestellung zu machen, oder verzichteten auch ganz darauf, um das Saatgut nicht zu ver¬ lieren. So scheint dieses Jahr der Anbau keine bedeutende» Fortschritte gemacht zu haben. Man taxirt in manchen Gegenden die Ernte auf die Hälfte der vorjährigen. In einigen Provinzen haben sogar die Gouverneure aus Angst vor einer Mißernte vorübergehend die Ausfuhr verboten. Und doch müßten diese weiten Thäler Getreideländer ersten Ranges sein. Darin stimmen alle Sachverständigen überein, die bisher über das Land be¬ richtet haben. Der Boden ist meistens von der besten Art, vier Meter tiefer, steinfreier Lehmboden, darunter Grundwasser, das dank der Nähe der Berge den ganzen Sommer über einen gleich hohen Stand behält, das eher an manchen gehult bestimmt wird. Von einer Währung mit Goldagio scheinen mir diese Verhältnisse dadurch in etwas unterschieden, das; sich das Gold in beträchtlichen Mengen im Verkehr erhält. Ver¬ wickele werden die Verhältnisse nun noch dadurch, das, die Regierung mit Absicht das Kleingeld unter dem Bedarf hält, sodaß es wieder je nach der Größe des Tausches oder.Kaufes und auch von einer Provinz zur andern verschieden ist, wieviel Silberpiaster auf einen Mcdschidieh gehen, ob neunzehn oder zwanzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/591>, abgerufen am 28.07.2024.