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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Mittelalterliches Bauernleben

Nährboden für unsre Wehrkraft nur noch die Schmutzgüßchen unsrer Gruben-
und Fabrikstädte übrig bleiben." Die Kraft unsers deutschen Bauernstandes
ist ja Gott sei Dank noch ungebrochen; aber nicht allein wird er alljährlich
ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung, sondern er unterliegt auch infolge
verschiedner auf ihn eindringender Einflüsse einem Umwandlungsprozesse, der
von seinem Wesen bald nichts mehr übrig gelassen haben wird. Die Klein¬
bauern gewerbthätiger Gegenden verwandeln sich in Fabrik- und Grubenarbeiter
und nehmen deren Sitten und Anschauungen an; die Großbauern werden
städtisch gebildete Herren, die nicht mehr selbst die Hand an den Pflug legen,
sondern ihre Wirtschaft -- ihren Wirtschaftsbetrieb heißt es heute -- nur
leiten, und zwar selbstverständlich nach den Grundsätzen der modernsten Kultur¬
technik, Ackerbauchemie und kaufmännischen Geschäftsführung, die außerdem
durch die Beschäftigung mit der Politik, durch vielseitige Vereinsthätigkeit und
die mit beidem verbundne Geselligkeit vollkommen im städtischen Sinne zivilisirt
sind; die Landleute im allgemeinen endlich nehmen durch die vielseitige und
fast tägliche Berührung mit den Städtern alle Äußerlichkeiten des Stadtlebens
so vollständig an, daß zwischen Städtern und Landleuten bald kein Unter¬
schied mehr zu bemerken sein wird. Unter solchen Umständen liest man gern
Bücher, die einem unverfälschtes Landleben vor Augen führen, wie ein jüngst
bei Duncker und Humblot erschienenes: süddeutsches Bauernleben im
Mittelalter von Dr. Alfred Hagelstange.

Der Verfasser behandelt die soziale Lage, das Familienleben, das Wirt¬
schaftsleben, das Gerichts- und Beamtenwesen und die Feste und Vergnügungen
der süddeutschen Bauern. Auf die süddeutschen hat er sich beschränkt, weil
bei der Fülle des Stoffs irgend welche Beschränkung geraten erschien, und
weil die süddeutschen Quellen am reichlichsten fließen. Aber er dürfte mit der
Ansicht recht haben, daß die von ihm entworfnen Schilderungen der Hauptsache
nach auch für Norddeutschland gelten, ausgenommen etwa einige Besonderheiten
des westfälischen Gerichtswesens. Die Darstellung der sozialen Lage der Bauern
beginnt nun mit einem kurzen Überblick über den bekannten Prozeß, der die
ehedem freien Bauern in den Zustand der Hörigkeit hinabdrückte und sie dann
vom zwölften Jahrhundert ab langsam zur Freiheit aufsteigen ließ, bis sie das
sechzehnte wieder aufs neue knechtete. Der Prozeß ist selbstverständlich in den
verschiednen Gegenden verschieden verlaufen und in mancherlei Wechselfällen,
die den Stand bald emportrugen, bald wieder niederdrückten. Das ganz genaue
wird man wohl niemals erfahren; so z. B. ist es fraglich, wie weit die von
Wittich (siehe die vorjährigen Grenzboten S. 155 des zweiten Bandes) für
das nordwestliche Deutschland aufgestellte Ansicht auch für das übrige Deutsch¬
land gilt, daß es seit Tacitus stets Grundherren und Hörige gegeben habe,
daß die freien Deutschen alle Grundherren gewesen seien und niemals selbst
gearbeitet hätten, daß also die Hörigen späterer Zeiten dem Sklavenstande


Mittelalterliches Bauernleben

Nährboden für unsre Wehrkraft nur noch die Schmutzgüßchen unsrer Gruben-
und Fabrikstädte übrig bleiben." Die Kraft unsers deutschen Bauernstandes
ist ja Gott sei Dank noch ungebrochen; aber nicht allein wird er alljährlich
ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung, sondern er unterliegt auch infolge
verschiedner auf ihn eindringender Einflüsse einem Umwandlungsprozesse, der
von seinem Wesen bald nichts mehr übrig gelassen haben wird. Die Klein¬
bauern gewerbthätiger Gegenden verwandeln sich in Fabrik- und Grubenarbeiter
und nehmen deren Sitten und Anschauungen an; die Großbauern werden
städtisch gebildete Herren, die nicht mehr selbst die Hand an den Pflug legen,
sondern ihre Wirtschaft — ihren Wirtschaftsbetrieb heißt es heute — nur
leiten, und zwar selbstverständlich nach den Grundsätzen der modernsten Kultur¬
technik, Ackerbauchemie und kaufmännischen Geschäftsführung, die außerdem
durch die Beschäftigung mit der Politik, durch vielseitige Vereinsthätigkeit und
die mit beidem verbundne Geselligkeit vollkommen im städtischen Sinne zivilisirt
sind; die Landleute im allgemeinen endlich nehmen durch die vielseitige und
fast tägliche Berührung mit den Städtern alle Äußerlichkeiten des Stadtlebens
so vollständig an, daß zwischen Städtern und Landleuten bald kein Unter¬
schied mehr zu bemerken sein wird. Unter solchen Umständen liest man gern
Bücher, die einem unverfälschtes Landleben vor Augen führen, wie ein jüngst
bei Duncker und Humblot erschienenes: süddeutsches Bauernleben im
Mittelalter von Dr. Alfred Hagelstange.

Der Verfasser behandelt die soziale Lage, das Familienleben, das Wirt¬
schaftsleben, das Gerichts- und Beamtenwesen und die Feste und Vergnügungen
der süddeutschen Bauern. Auf die süddeutschen hat er sich beschränkt, weil
bei der Fülle des Stoffs irgend welche Beschränkung geraten erschien, und
weil die süddeutschen Quellen am reichlichsten fließen. Aber er dürfte mit der
Ansicht recht haben, daß die von ihm entworfnen Schilderungen der Hauptsache
nach auch für Norddeutschland gelten, ausgenommen etwa einige Besonderheiten
des westfälischen Gerichtswesens. Die Darstellung der sozialen Lage der Bauern
beginnt nun mit einem kurzen Überblick über den bekannten Prozeß, der die
ehedem freien Bauern in den Zustand der Hörigkeit hinabdrückte und sie dann
vom zwölften Jahrhundert ab langsam zur Freiheit aufsteigen ließ, bis sie das
sechzehnte wieder aufs neue knechtete. Der Prozeß ist selbstverständlich in den
verschiednen Gegenden verschieden verlaufen und in mancherlei Wechselfällen,
die den Stand bald emportrugen, bald wieder niederdrückten. Das ganz genaue
wird man wohl niemals erfahren; so z. B. ist es fraglich, wie weit die von
Wittich (siehe die vorjährigen Grenzboten S. 155 des zweiten Bandes) für
das nordwestliche Deutschland aufgestellte Ansicht auch für das übrige Deutsch¬
land gilt, daß es seit Tacitus stets Grundherren und Hörige gegeben habe,
daß die freien Deutschen alle Grundherren gewesen seien und niemals selbst
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[0058] Mittelalterliches Bauernleben Nährboden für unsre Wehrkraft nur noch die Schmutzgüßchen unsrer Gruben- und Fabrikstädte übrig bleiben." Die Kraft unsers deutschen Bauernstandes ist ja Gott sei Dank noch ungebrochen; aber nicht allein wird er alljährlich ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung, sondern er unterliegt auch infolge verschiedner auf ihn eindringender Einflüsse einem Umwandlungsprozesse, der von seinem Wesen bald nichts mehr übrig gelassen haben wird. Die Klein¬ bauern gewerbthätiger Gegenden verwandeln sich in Fabrik- und Grubenarbeiter und nehmen deren Sitten und Anschauungen an; die Großbauern werden städtisch gebildete Herren, die nicht mehr selbst die Hand an den Pflug legen, sondern ihre Wirtschaft — ihren Wirtschaftsbetrieb heißt es heute — nur leiten, und zwar selbstverständlich nach den Grundsätzen der modernsten Kultur¬ technik, Ackerbauchemie und kaufmännischen Geschäftsführung, die außerdem durch die Beschäftigung mit der Politik, durch vielseitige Vereinsthätigkeit und die mit beidem verbundne Geselligkeit vollkommen im städtischen Sinne zivilisirt sind; die Landleute im allgemeinen endlich nehmen durch die vielseitige und fast tägliche Berührung mit den Städtern alle Äußerlichkeiten des Stadtlebens so vollständig an, daß zwischen Städtern und Landleuten bald kein Unter¬ schied mehr zu bemerken sein wird. Unter solchen Umständen liest man gern Bücher, die einem unverfälschtes Landleben vor Augen führen, wie ein jüngst bei Duncker und Humblot erschienenes: süddeutsches Bauernleben im Mittelalter von Dr. Alfred Hagelstange. Der Verfasser behandelt die soziale Lage, das Familienleben, das Wirt¬ schaftsleben, das Gerichts- und Beamtenwesen und die Feste und Vergnügungen der süddeutschen Bauern. Auf die süddeutschen hat er sich beschränkt, weil bei der Fülle des Stoffs irgend welche Beschränkung geraten erschien, und weil die süddeutschen Quellen am reichlichsten fließen. Aber er dürfte mit der Ansicht recht haben, daß die von ihm entworfnen Schilderungen der Hauptsache nach auch für Norddeutschland gelten, ausgenommen etwa einige Besonderheiten des westfälischen Gerichtswesens. Die Darstellung der sozialen Lage der Bauern beginnt nun mit einem kurzen Überblick über den bekannten Prozeß, der die ehedem freien Bauern in den Zustand der Hörigkeit hinabdrückte und sie dann vom zwölften Jahrhundert ab langsam zur Freiheit aufsteigen ließ, bis sie das sechzehnte wieder aufs neue knechtete. Der Prozeß ist selbstverständlich in den verschiednen Gegenden verschieden verlaufen und in mancherlei Wechselfällen, die den Stand bald emportrugen, bald wieder niederdrückten. Das ganz genaue wird man wohl niemals erfahren; so z. B. ist es fraglich, wie weit die von Wittich (siehe die vorjährigen Grenzboten S. 155 des zweiten Bandes) für das nordwestliche Deutschland aufgestellte Ansicht auch für das übrige Deutsch¬ land gilt, daß es seit Tacitus stets Grundherren und Hörige gegeben habe, daß die freien Deutschen alle Grundherren gewesen seien und niemals selbst gearbeitet hätten, daß also die Hörigen späterer Zeiten dem Sklavenstande

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/58>, abgerufen am 27.07.2024.