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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Upanischads

Wesensvereint dein Einsamen,
Hat er Gier, Verblendung, Furcht, Hochmut,
Zorn, Liebe, Sünde abgethan,
Nebst Kalte, Wärme, Durst, Hunger,
Und Porsätze, die wandelbar usw.

In einer besondern Anweisung wird gezeigt, wie der Asket jedes einzelne
Glied seines Leibes geistig gleichsam abschneiden soll, sodaß es fortan für ihn nicht
mehr vorhanden ist. Wie denn aber überall die erhabenste Mystik, sobald sie
sich über den engen Kreis ihrer genialen Erfinder ausbreitet, in lächerliches
Zeremonienwesen umschlägt, so findet sich auch unter den Upanischads ein
Gedicht, von dem gesagt wird, wer zu schwach sei zur Askese, der brauche es
nur dreimal täglich zu lesen, dann erreiche er ebenfalls das höchste Ziel. Der
Verfasser der Bhagavad Gita verwirft die übertriebne Askese und will, daß auch
der Weise noch die gewöhnlichen bürgerlichen Pflichten erfülle. Das steht im
Widerspruch zu den Upanischads und bestärkt uns in der von Lorinser ver-
tretnen Ansicht, daß das berühmte Gedicht neuern Ursprungs und von einem
Kenner des Christentums verfaßt sei. Überhaupt steht dieses Gedicht in jeder
Beziehung, sowohl dem Inhalt als der Form nach (soweit sich das aus
Übersetzungen beurteilen läßt) hoch über den Upanischadgedichten.

Gewiß, die Energie der indischen Büßer und Asketen ist bewunderungs¬
würdig, aber es ist doch -- so seltsam das klingt -- eine aus einem Über¬
maß von Schlaffheit geborne Energie, Tapferkeit aus Verzweiflung; mau über¬
windet die Übel der Welt, indem man aus der Welt, ja aus sich selber heraus
in das Nichts flieht, so weit das möglich ist, und das Endergebnis dieser
Weisheit für das ganze Volt ist Verzichtleistung auf den Kampf gegen die
Übel und stumpfsinnige Ergebung darein, wodurch natürlich die Übel ins
Maßlose gesteigert werden und zur unumschränkten Herrschaft gelangen. Bei
einem gewisse" Übermaß physischen oder geistigen Drucks kommt ja auch der
Europäer manchmal ohne alle Metaphysik so weit. In einer Beschreibung
des Rückzugs aus Rußland im Jahre 1812 wird erzählt, Geschütze, deren
Gespanne gefallen oder aus irgend einem andern Grnnde abgeschnitten waren,
seien eine Anhöhe hinabgerollt, und die am Wege liegenden Soldaten hätten
von ihnen ihre Beine zermalmen lassen, weil sie nicht mehr Energie genug
gehabt hätten, sie zurückzuziehen. Aber in der Natur des Abendländers liegt
solche Energielosigkeit nicht, und wir wüßten kein anschaulicheres Beispiel zur
Charakterisirung seiner Eigentümlichkeit anzuführen, als den von Tenophon be-
schriebnen und auch größtenteils geleiteten Rückzug der Zehntausend, die sich in
einer ganz ähnlichen Lage befunden haben wie das Heer Napoleons, aber die
furchtbaren Beschwerden und Gefahren mit einem ganz andern Erfolg überstanden
haben: zeigte es sich doch bei der Zühluug zu Kerasus am Schwarzen Meere,
daß nur 1400 Kameraden den Feinden, den Krankheiten, dem Schnee und der


Die Upanischads

Wesensvereint dein Einsamen,
Hat er Gier, Verblendung, Furcht, Hochmut,
Zorn, Liebe, Sünde abgethan,
Nebst Kalte, Wärme, Durst, Hunger,
Und Porsätze, die wandelbar usw.

In einer besondern Anweisung wird gezeigt, wie der Asket jedes einzelne
Glied seines Leibes geistig gleichsam abschneiden soll, sodaß es fortan für ihn nicht
mehr vorhanden ist. Wie denn aber überall die erhabenste Mystik, sobald sie
sich über den engen Kreis ihrer genialen Erfinder ausbreitet, in lächerliches
Zeremonienwesen umschlägt, so findet sich auch unter den Upanischads ein
Gedicht, von dem gesagt wird, wer zu schwach sei zur Askese, der brauche es
nur dreimal täglich zu lesen, dann erreiche er ebenfalls das höchste Ziel. Der
Verfasser der Bhagavad Gita verwirft die übertriebne Askese und will, daß auch
der Weise noch die gewöhnlichen bürgerlichen Pflichten erfülle. Das steht im
Widerspruch zu den Upanischads und bestärkt uns in der von Lorinser ver-
tretnen Ansicht, daß das berühmte Gedicht neuern Ursprungs und von einem
Kenner des Christentums verfaßt sei. Überhaupt steht dieses Gedicht in jeder
Beziehung, sowohl dem Inhalt als der Form nach (soweit sich das aus
Übersetzungen beurteilen läßt) hoch über den Upanischadgedichten.

Gewiß, die Energie der indischen Büßer und Asketen ist bewunderungs¬
würdig, aber es ist doch — so seltsam das klingt — eine aus einem Über¬
maß von Schlaffheit geborne Energie, Tapferkeit aus Verzweiflung; mau über¬
windet die Übel der Welt, indem man aus der Welt, ja aus sich selber heraus
in das Nichts flieht, so weit das möglich ist, und das Endergebnis dieser
Weisheit für das ganze Volt ist Verzichtleistung auf den Kampf gegen die
Übel und stumpfsinnige Ergebung darein, wodurch natürlich die Übel ins
Maßlose gesteigert werden und zur unumschränkten Herrschaft gelangen. Bei
einem gewisse» Übermaß physischen oder geistigen Drucks kommt ja auch der
Europäer manchmal ohne alle Metaphysik so weit. In einer Beschreibung
des Rückzugs aus Rußland im Jahre 1812 wird erzählt, Geschütze, deren
Gespanne gefallen oder aus irgend einem andern Grnnde abgeschnitten waren,
seien eine Anhöhe hinabgerollt, und die am Wege liegenden Soldaten hätten
von ihnen ihre Beine zermalmen lassen, weil sie nicht mehr Energie genug
gehabt hätten, sie zurückzuziehen. Aber in der Natur des Abendländers liegt
solche Energielosigkeit nicht, und wir wüßten kein anschaulicheres Beispiel zur
Charakterisirung seiner Eigentümlichkeit anzuführen, als den von Tenophon be-
schriebnen und auch größtenteils geleiteten Rückzug der Zehntausend, die sich in
einer ganz ähnlichen Lage befunden haben wie das Heer Napoleons, aber die
furchtbaren Beschwerden und Gefahren mit einem ganz andern Erfolg überstanden
haben: zeigte es sich doch bei der Zühluug zu Kerasus am Schwarzen Meere,
daß nur 1400 Kameraden den Feinden, den Krankheiten, dem Schnee und der


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[0564] Die Upanischads Wesensvereint dein Einsamen, Hat er Gier, Verblendung, Furcht, Hochmut, Zorn, Liebe, Sünde abgethan, Nebst Kalte, Wärme, Durst, Hunger, Und Porsätze, die wandelbar usw. In einer besondern Anweisung wird gezeigt, wie der Asket jedes einzelne Glied seines Leibes geistig gleichsam abschneiden soll, sodaß es fortan für ihn nicht mehr vorhanden ist. Wie denn aber überall die erhabenste Mystik, sobald sie sich über den engen Kreis ihrer genialen Erfinder ausbreitet, in lächerliches Zeremonienwesen umschlägt, so findet sich auch unter den Upanischads ein Gedicht, von dem gesagt wird, wer zu schwach sei zur Askese, der brauche es nur dreimal täglich zu lesen, dann erreiche er ebenfalls das höchste Ziel. Der Verfasser der Bhagavad Gita verwirft die übertriebne Askese und will, daß auch der Weise noch die gewöhnlichen bürgerlichen Pflichten erfülle. Das steht im Widerspruch zu den Upanischads und bestärkt uns in der von Lorinser ver- tretnen Ansicht, daß das berühmte Gedicht neuern Ursprungs und von einem Kenner des Christentums verfaßt sei. Überhaupt steht dieses Gedicht in jeder Beziehung, sowohl dem Inhalt als der Form nach (soweit sich das aus Übersetzungen beurteilen läßt) hoch über den Upanischadgedichten. Gewiß, die Energie der indischen Büßer und Asketen ist bewunderungs¬ würdig, aber es ist doch — so seltsam das klingt — eine aus einem Über¬ maß von Schlaffheit geborne Energie, Tapferkeit aus Verzweiflung; mau über¬ windet die Übel der Welt, indem man aus der Welt, ja aus sich selber heraus in das Nichts flieht, so weit das möglich ist, und das Endergebnis dieser Weisheit für das ganze Volt ist Verzichtleistung auf den Kampf gegen die Übel und stumpfsinnige Ergebung darein, wodurch natürlich die Übel ins Maßlose gesteigert werden und zur unumschränkten Herrschaft gelangen. Bei einem gewisse» Übermaß physischen oder geistigen Drucks kommt ja auch der Europäer manchmal ohne alle Metaphysik so weit. In einer Beschreibung des Rückzugs aus Rußland im Jahre 1812 wird erzählt, Geschütze, deren Gespanne gefallen oder aus irgend einem andern Grnnde abgeschnitten waren, seien eine Anhöhe hinabgerollt, und die am Wege liegenden Soldaten hätten von ihnen ihre Beine zermalmen lassen, weil sie nicht mehr Energie genug gehabt hätten, sie zurückzuziehen. Aber in der Natur des Abendländers liegt solche Energielosigkeit nicht, und wir wüßten kein anschaulicheres Beispiel zur Charakterisirung seiner Eigentümlichkeit anzuführen, als den von Tenophon be- schriebnen und auch größtenteils geleiteten Rückzug der Zehntausend, die sich in einer ganz ähnlichen Lage befunden haben wie das Heer Napoleons, aber die furchtbaren Beschwerden und Gefahren mit einem ganz andern Erfolg überstanden haben: zeigte es sich doch bei der Zühluug zu Kerasus am Schwarzen Meere, daß nur 1400 Kameraden den Feinden, den Krankheiten, dem Schnee und der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/564>, abgerufen am 28.07.2024.