Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
lvas ist uns Anatolien?

die hundert Arbeitslosen, die man vor acht Tagen zu Protokoll genommen
hat, heute zum Schneeschippen nicht mehr aufzutreiben sind. Wenn zwölf
Kinder Kämmerchen vermieten spielen, so hat, abgesehen von dem einen, jedes Kind
seinen Platz. Wird aber das Spiel hitzig, und werden die Plätze schneller
gewechselt, so sieht man in der Bütte die Hälfte der Kinder stellenlos umherirren,
und im Ringe zugleich die Hälfte der Plätze leer. Bei einer Arbeiterbevölkerung.
die ihre Plätze häufig zu wechseln liebt, die sich nach der Gebundenheit früherer
Verhältnisse die Freizügigkeit oder das Wandern geradezu zum Prinzip, ich
möchte sagen, zur Religion gemacht hat, ist eine gewisse Arbeitslosigkeit un¬
umgänglich. Sie kann auch bei plötzlichen Störungen recht bedenklich werden,
ohne darum Übervölkerung zu beweisen. Sie beweist, daß die Methode der
Vermittlung unvollkommen ist. Ob sie vollkommen werden kann?

Nach allem wäre es nach meiner Ansicht eine Thorheit, wollte man die
Deutschen hierherlocken zu einer Zeit, wo in der Heimat die Slawen in Massen
einwandern, wollte man etwa mit großen Opfern in fremden Erdteilen nationale
Kolonien gründen, während die ältesten Kolonien unsers Volkes, und die voll¬
kommensten, in Gefahr sind, verloren zu gehen. Dieselbe Bewegung, die in
Osterreich siegreich ist, und die man immer nur von der politischen Seite an¬
zusehen beliebt, haben wir auch und aus denselben wirtschaftlichen Ursachen,
nur daß sie bei uns noch keine politischen Wellen schlägt. steigender Anteil
der Slawen an der Arbeit auf deutschem Boden, das ist ihr Inhalt. Wir
rufen alljährlich ein fremdes Volk herein, um unsre Äcker zu bauen, und
suchen zugleich auf der ganzen Erde nach Ackerbaukolonien -- wie reimt sich
das? So schön ist kein Land auf der ganzen Erde, daß wir um seinetwillen
unser Vaterland fremdem Blute auch nur stückweise abtreten dürften. Man
muß den Süden kennen gelernt haben, um zu sehen, was für ein wundervoller
Garten unser Deutschland ist. Wie in einem fröhlichen Neigen tanzen die
dunkeln Wälder, die freundlichen Dörfer und die lückenlos grünen Felder am
Auge des Heimkehrenden vorüber.

Es giebt also jetzt bei uns keine Übervölkerung. Trotzdem müssen wir
kolonisiren, und mir liegt nichts ferner, als auf den gesunden Ausbreitungs¬
trieb unsers Volkes und unsrer Regierung zu schelten: denn wir können jeder¬
zeit eine Notlage in wenigen Wochen haben. Ein Volk wie das unsre, das zu
einem guten Teil für die Exportindustrie arbeitet, lebt aus der Hand in den
Mund. Eine ernste Umwälzung in den Marktverhültniffen, fern von seinen
Grenzen, bedroht es mit Hungersnot. Das ist keine Phantasie/") sondern ist



^) In Ur. 30 der Grenzboten wird behauptet, die Gefahr eines Kornmangels im Kriege
wäre nicht so groß; alle Grenzen würde man uns nicht sperren können. Aber wenn nur die
Seezufuhr über Holland und den Rhein und über unsre Küsten gesperrt ist, so wird das Korn
in der Menge, wie wir es brauchen, erst dann auf den Eisenbahnen über unsre Landgrenzen
kommen, wenn die Preise bei uns erheblich gestiegen sind.
lvas ist uns Anatolien?

die hundert Arbeitslosen, die man vor acht Tagen zu Protokoll genommen
hat, heute zum Schneeschippen nicht mehr aufzutreiben sind. Wenn zwölf
Kinder Kämmerchen vermieten spielen, so hat, abgesehen von dem einen, jedes Kind
seinen Platz. Wird aber das Spiel hitzig, und werden die Plätze schneller
gewechselt, so sieht man in der Bütte die Hälfte der Kinder stellenlos umherirren,
und im Ringe zugleich die Hälfte der Plätze leer. Bei einer Arbeiterbevölkerung.
die ihre Plätze häufig zu wechseln liebt, die sich nach der Gebundenheit früherer
Verhältnisse die Freizügigkeit oder das Wandern geradezu zum Prinzip, ich
möchte sagen, zur Religion gemacht hat, ist eine gewisse Arbeitslosigkeit un¬
umgänglich. Sie kann auch bei plötzlichen Störungen recht bedenklich werden,
ohne darum Übervölkerung zu beweisen. Sie beweist, daß die Methode der
Vermittlung unvollkommen ist. Ob sie vollkommen werden kann?

Nach allem wäre es nach meiner Ansicht eine Thorheit, wollte man die
Deutschen hierherlocken zu einer Zeit, wo in der Heimat die Slawen in Massen
einwandern, wollte man etwa mit großen Opfern in fremden Erdteilen nationale
Kolonien gründen, während die ältesten Kolonien unsers Volkes, und die voll¬
kommensten, in Gefahr sind, verloren zu gehen. Dieselbe Bewegung, die in
Osterreich siegreich ist, und die man immer nur von der politischen Seite an¬
zusehen beliebt, haben wir auch und aus denselben wirtschaftlichen Ursachen,
nur daß sie bei uns noch keine politischen Wellen schlägt. steigender Anteil
der Slawen an der Arbeit auf deutschem Boden, das ist ihr Inhalt. Wir
rufen alljährlich ein fremdes Volk herein, um unsre Äcker zu bauen, und
suchen zugleich auf der ganzen Erde nach Ackerbaukolonien — wie reimt sich
das? So schön ist kein Land auf der ganzen Erde, daß wir um seinetwillen
unser Vaterland fremdem Blute auch nur stückweise abtreten dürften. Man
muß den Süden kennen gelernt haben, um zu sehen, was für ein wundervoller
Garten unser Deutschland ist. Wie in einem fröhlichen Neigen tanzen die
dunkeln Wälder, die freundlichen Dörfer und die lückenlos grünen Felder am
Auge des Heimkehrenden vorüber.

Es giebt also jetzt bei uns keine Übervölkerung. Trotzdem müssen wir
kolonisiren, und mir liegt nichts ferner, als auf den gesunden Ausbreitungs¬
trieb unsers Volkes und unsrer Regierung zu schelten: denn wir können jeder¬
zeit eine Notlage in wenigen Wochen haben. Ein Volk wie das unsre, das zu
einem guten Teil für die Exportindustrie arbeitet, lebt aus der Hand in den
Mund. Eine ernste Umwälzung in den Marktverhültniffen, fern von seinen
Grenzen, bedroht es mit Hungersnot. Das ist keine Phantasie/") sondern ist



^) In Ur. 30 der Grenzboten wird behauptet, die Gefahr eines Kornmangels im Kriege
wäre nicht so groß; alle Grenzen würde man uns nicht sperren können. Aber wenn nur die
Seezufuhr über Holland und den Rhein und über unsre Küsten gesperrt ist, so wird das Korn
in der Menge, wie wir es brauchen, erst dann auf den Eisenbahnen über unsre Landgrenzen
kommen, wenn die Preise bei uns erheblich gestiegen sind.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0543" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228845"/>
          <fw type="header" place="top"> lvas ist uns Anatolien?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1883" prev="#ID_1882"> die hundert Arbeitslosen, die man vor acht Tagen zu Protokoll genommen<lb/>
hat, heute zum Schneeschippen nicht mehr aufzutreiben sind. Wenn zwölf<lb/>
Kinder Kämmerchen vermieten spielen, so hat, abgesehen von dem einen, jedes Kind<lb/>
seinen Platz. Wird aber das Spiel hitzig, und werden die Plätze schneller<lb/>
gewechselt, so sieht man in der Bütte die Hälfte der Kinder stellenlos umherirren,<lb/>
und im Ringe zugleich die Hälfte der Plätze leer. Bei einer Arbeiterbevölkerung.<lb/>
die ihre Plätze häufig zu wechseln liebt, die sich nach der Gebundenheit früherer<lb/>
Verhältnisse die Freizügigkeit oder das Wandern geradezu zum Prinzip, ich<lb/>
möchte sagen, zur Religion gemacht hat, ist eine gewisse Arbeitslosigkeit un¬<lb/>
umgänglich. Sie kann auch bei plötzlichen Störungen recht bedenklich werden,<lb/>
ohne darum Übervölkerung zu beweisen. Sie beweist, daß die Methode der<lb/>
Vermittlung unvollkommen ist. Ob sie vollkommen werden kann?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1884"> Nach allem wäre es nach meiner Ansicht eine Thorheit, wollte man die<lb/>
Deutschen hierherlocken zu einer Zeit, wo in der Heimat die Slawen in Massen<lb/>
einwandern, wollte man etwa mit großen Opfern in fremden Erdteilen nationale<lb/>
Kolonien gründen, während die ältesten Kolonien unsers Volkes, und die voll¬<lb/>
kommensten, in Gefahr sind, verloren zu gehen. Dieselbe Bewegung, die in<lb/>
Osterreich siegreich ist, und die man immer nur von der politischen Seite an¬<lb/>
zusehen beliebt, haben wir auch und aus denselben wirtschaftlichen Ursachen,<lb/>
nur daß sie bei uns noch keine politischen Wellen schlägt. steigender Anteil<lb/>
der Slawen an der Arbeit auf deutschem Boden, das ist ihr Inhalt. Wir<lb/>
rufen alljährlich ein fremdes Volk herein, um unsre Äcker zu bauen, und<lb/>
suchen zugleich auf der ganzen Erde nach Ackerbaukolonien &#x2014; wie reimt sich<lb/>
das? So schön ist kein Land auf der ganzen Erde, daß wir um seinetwillen<lb/>
unser Vaterland fremdem Blute auch nur stückweise abtreten dürften. Man<lb/>
muß den Süden kennen gelernt haben, um zu sehen, was für ein wundervoller<lb/>
Garten unser Deutschland ist. Wie in einem fröhlichen Neigen tanzen die<lb/>
dunkeln Wälder, die freundlichen Dörfer und die lückenlos grünen Felder am<lb/>
Auge des Heimkehrenden vorüber.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1885" next="#ID_1886"> Es giebt also jetzt bei uns keine Übervölkerung. Trotzdem müssen wir<lb/>
kolonisiren, und mir liegt nichts ferner, als auf den gesunden Ausbreitungs¬<lb/>
trieb unsers Volkes und unsrer Regierung zu schelten: denn wir können jeder¬<lb/>
zeit eine Notlage in wenigen Wochen haben. Ein Volk wie das unsre, das zu<lb/>
einem guten Teil für die Exportindustrie arbeitet, lebt aus der Hand in den<lb/>
Mund. Eine ernste Umwälzung in den Marktverhültniffen, fern von seinen<lb/>
Grenzen, bedroht es mit Hungersnot.  Das ist keine Phantasie/") sondern ist</p><lb/>
          <note xml:id="FID_93" place="foot"> ^) In Ur. 30 der Grenzboten wird behauptet, die Gefahr eines Kornmangels im Kriege<lb/>
wäre nicht so groß; alle Grenzen würde man uns nicht sperren können. Aber wenn nur die<lb/>
Seezufuhr über Holland und den Rhein und über unsre Küsten gesperrt ist, so wird das Korn<lb/>
in der Menge, wie wir es brauchen, erst dann auf den Eisenbahnen über unsre Landgrenzen<lb/>
kommen, wenn die Preise bei uns erheblich gestiegen sind.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0543] lvas ist uns Anatolien? die hundert Arbeitslosen, die man vor acht Tagen zu Protokoll genommen hat, heute zum Schneeschippen nicht mehr aufzutreiben sind. Wenn zwölf Kinder Kämmerchen vermieten spielen, so hat, abgesehen von dem einen, jedes Kind seinen Platz. Wird aber das Spiel hitzig, und werden die Plätze schneller gewechselt, so sieht man in der Bütte die Hälfte der Kinder stellenlos umherirren, und im Ringe zugleich die Hälfte der Plätze leer. Bei einer Arbeiterbevölkerung. die ihre Plätze häufig zu wechseln liebt, die sich nach der Gebundenheit früherer Verhältnisse die Freizügigkeit oder das Wandern geradezu zum Prinzip, ich möchte sagen, zur Religion gemacht hat, ist eine gewisse Arbeitslosigkeit un¬ umgänglich. Sie kann auch bei plötzlichen Störungen recht bedenklich werden, ohne darum Übervölkerung zu beweisen. Sie beweist, daß die Methode der Vermittlung unvollkommen ist. Ob sie vollkommen werden kann? Nach allem wäre es nach meiner Ansicht eine Thorheit, wollte man die Deutschen hierherlocken zu einer Zeit, wo in der Heimat die Slawen in Massen einwandern, wollte man etwa mit großen Opfern in fremden Erdteilen nationale Kolonien gründen, während die ältesten Kolonien unsers Volkes, und die voll¬ kommensten, in Gefahr sind, verloren zu gehen. Dieselbe Bewegung, die in Osterreich siegreich ist, und die man immer nur von der politischen Seite an¬ zusehen beliebt, haben wir auch und aus denselben wirtschaftlichen Ursachen, nur daß sie bei uns noch keine politischen Wellen schlägt. steigender Anteil der Slawen an der Arbeit auf deutschem Boden, das ist ihr Inhalt. Wir rufen alljährlich ein fremdes Volk herein, um unsre Äcker zu bauen, und suchen zugleich auf der ganzen Erde nach Ackerbaukolonien — wie reimt sich das? So schön ist kein Land auf der ganzen Erde, daß wir um seinetwillen unser Vaterland fremdem Blute auch nur stückweise abtreten dürften. Man muß den Süden kennen gelernt haben, um zu sehen, was für ein wundervoller Garten unser Deutschland ist. Wie in einem fröhlichen Neigen tanzen die dunkeln Wälder, die freundlichen Dörfer und die lückenlos grünen Felder am Auge des Heimkehrenden vorüber. Es giebt also jetzt bei uns keine Übervölkerung. Trotzdem müssen wir kolonisiren, und mir liegt nichts ferner, als auf den gesunden Ausbreitungs¬ trieb unsers Volkes und unsrer Regierung zu schelten: denn wir können jeder¬ zeit eine Notlage in wenigen Wochen haben. Ein Volk wie das unsre, das zu einem guten Teil für die Exportindustrie arbeitet, lebt aus der Hand in den Mund. Eine ernste Umwälzung in den Marktverhültniffen, fern von seinen Grenzen, bedroht es mit Hungersnot. Das ist keine Phantasie/") sondern ist ^) In Ur. 30 der Grenzboten wird behauptet, die Gefahr eines Kornmangels im Kriege wäre nicht so groß; alle Grenzen würde man uns nicht sperren können. Aber wenn nur die Seezufuhr über Holland und den Rhein und über unsre Küsten gesperrt ist, so wird das Korn in der Menge, wie wir es brauchen, erst dann auf den Eisenbahnen über unsre Landgrenzen kommen, wenn die Preise bei uns erheblich gestiegen sind.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/543
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/543>, abgerufen am 28.07.2024.