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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

storben ist, Cecchino Bracci, besteigt er, anstatt dem Frühvollendeten ein Grabmal
zu meißeln, lieber den Pegasus und dichtet sür ihn eine Anzahl Grabschriften
(I.XXIII), in denen mit immer neuen Variationen die unvergleichliche Schön¬
heit dieses Jünglings als Gipfel und Inbegriff aller menschlichen Vollkommen¬
heit, als Idee und Norm alles Schönen gefeiert wird. Die Freunde wissen
immer neue solcher Vierzeilen vom Dichter hervorzulocken, und so werden es
deren zuletzt nicht weniger als 48; manche darunter sind nicht ohne Empfindung,
aber die meisten gesucht, geschraubt, Spiele des Witzes.

Von diesem in ein Formenspiel ausartenden Schönheitskultus sticht nun
der Kultus, den Michelangelo der Marchesa von Pescara widmete, stark ab.
Es ist die einzige Frau, von der wir wissen, daß sie einen starken Eindruck
auf Michelangelo gemacht hat. In seinem freudlosen, anscheinend sonst nie
durch Frauenhuld erhellten Leben wird ihm jetzt zum erstenmal das Glück zu
teil, die Macht weiblicher Seelenschönheit zu erfahren. Was ihm diese Frau
gewesen ist, bezeugen Gedichte, in denen er bekennt, daß er durch sie ver¬
wandelt, wiedergeboren, in seiner Persönlichkeit vollendet worden sei. Er lernte
sie nicht vor dem Jahre 1536, vielleicht erst 1533 kennen. Er hatte damals
die Sechzig überschritten. Sie war es, die den ersten Künstler des Zeitalters
aufsuchte, und bald zog sie nicht bloß der große Künstler an, sondern der
außerordentliche Mensch, sein Wesen, sein Gehalt. Durch die Härten, Selt¬
samkeiten, Künstlerlaunen hindurch schaute sie in die Tiefen einer ungewöhn¬
lichen Persönlichkeit. "Eure Freunde, sagte sie einmal, stellen Euern Charakter
noch höher als Eure Werke, und die Euch nicht persönlich kennen, schätzen nur
das weniger Verdienstliche an Euch, nämlich Eure Werke. Bewunderungs¬
würdig erscheint mir die Art und Weise, wie Ihr Euch der Welt zu entziehen
versteht, unsre unnützen Gespräche meidet und den Anträgen aller Fürsten aus
dem Wege geht." Von Viterbo aus, wo sie sich in den Jahren 1541 bis
1544 aufhielt, gefesselt von dem "häretischen" Kardinal Pole, kam sie zuweilen
nach Rom, "aus keinem andern Grunde, als um Michelangelo zu sehen." Auch
Briefe wurden in dieser Zeit gewechselt, von denen einige noch vorhanden sind.
Ihr näherer Umgang wird erst in die Zeit fallen, da Vittoria ganz in Rom
bei den Nonnen von San Silvestro wohnte, also vom Jahre 1544 an.

Von der Art ihres Verkehrs ist uns ein anmutendes Zeugnis erhalten
in dem Bericht eines aus Holland gebürtigen Malers, der vom König von
Portugal nach Rom gesandt worden war und hier mit Vittoria und Michel¬
angelo bekannt wurde. Er beschreibt ein Gespräch, das die beiden in San Sil¬
vestro hatten, und das in das Frühjahr 1538 fällt. Vor allem tritt hier die
Überlegenheit der vornehmen Frau hervor, die mit gesellschaftlichen Takt ihre
Umgebung beherrscht. Indem sie die Launen und Eigentümlichkeiten des
Künstlers anerkennt, sucht sie ihn zugleich in ihren Jdeenkreis zu ziehen. Sie
weiß mit Sicherheit die Gespräche zu lenken, den Schweigsamen zum Reden


Die Gedichte Michelangelos

storben ist, Cecchino Bracci, besteigt er, anstatt dem Frühvollendeten ein Grabmal
zu meißeln, lieber den Pegasus und dichtet sür ihn eine Anzahl Grabschriften
(I.XXIII), in denen mit immer neuen Variationen die unvergleichliche Schön¬
heit dieses Jünglings als Gipfel und Inbegriff aller menschlichen Vollkommen¬
heit, als Idee und Norm alles Schönen gefeiert wird. Die Freunde wissen
immer neue solcher Vierzeilen vom Dichter hervorzulocken, und so werden es
deren zuletzt nicht weniger als 48; manche darunter sind nicht ohne Empfindung,
aber die meisten gesucht, geschraubt, Spiele des Witzes.

Von diesem in ein Formenspiel ausartenden Schönheitskultus sticht nun
der Kultus, den Michelangelo der Marchesa von Pescara widmete, stark ab.
Es ist die einzige Frau, von der wir wissen, daß sie einen starken Eindruck
auf Michelangelo gemacht hat. In seinem freudlosen, anscheinend sonst nie
durch Frauenhuld erhellten Leben wird ihm jetzt zum erstenmal das Glück zu
teil, die Macht weiblicher Seelenschönheit zu erfahren. Was ihm diese Frau
gewesen ist, bezeugen Gedichte, in denen er bekennt, daß er durch sie ver¬
wandelt, wiedergeboren, in seiner Persönlichkeit vollendet worden sei. Er lernte
sie nicht vor dem Jahre 1536, vielleicht erst 1533 kennen. Er hatte damals
die Sechzig überschritten. Sie war es, die den ersten Künstler des Zeitalters
aufsuchte, und bald zog sie nicht bloß der große Künstler an, sondern der
außerordentliche Mensch, sein Wesen, sein Gehalt. Durch die Härten, Selt¬
samkeiten, Künstlerlaunen hindurch schaute sie in die Tiefen einer ungewöhn¬
lichen Persönlichkeit. „Eure Freunde, sagte sie einmal, stellen Euern Charakter
noch höher als Eure Werke, und die Euch nicht persönlich kennen, schätzen nur
das weniger Verdienstliche an Euch, nämlich Eure Werke. Bewunderungs¬
würdig erscheint mir die Art und Weise, wie Ihr Euch der Welt zu entziehen
versteht, unsre unnützen Gespräche meidet und den Anträgen aller Fürsten aus
dem Wege geht." Von Viterbo aus, wo sie sich in den Jahren 1541 bis
1544 aufhielt, gefesselt von dem „häretischen" Kardinal Pole, kam sie zuweilen
nach Rom, „aus keinem andern Grunde, als um Michelangelo zu sehen." Auch
Briefe wurden in dieser Zeit gewechselt, von denen einige noch vorhanden sind.
Ihr näherer Umgang wird erst in die Zeit fallen, da Vittoria ganz in Rom
bei den Nonnen von San Silvestro wohnte, also vom Jahre 1544 an.

Von der Art ihres Verkehrs ist uns ein anmutendes Zeugnis erhalten
in dem Bericht eines aus Holland gebürtigen Malers, der vom König von
Portugal nach Rom gesandt worden war und hier mit Vittoria und Michel¬
angelo bekannt wurde. Er beschreibt ein Gespräch, das die beiden in San Sil¬
vestro hatten, und das in das Frühjahr 1538 fällt. Vor allem tritt hier die
Überlegenheit der vornehmen Frau hervor, die mit gesellschaftlichen Takt ihre
Umgebung beherrscht. Indem sie die Launen und Eigentümlichkeiten des
Künstlers anerkennt, sucht sie ihn zugleich in ihren Jdeenkreis zu ziehen. Sie
weiß mit Sicherheit die Gespräche zu lenken, den Schweigsamen zum Reden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/523>, abgerufen am 01.09.2024.