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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der technische Lhiliasmus in der neuern Dichtung

deutung haben. Wer aber mit der Litteratur und Litteraturgeschichte der beiden
letzten Jahrzehnte etwas vertrauter ist, der weiß auch, daß nicht rasch und
nicht scharf genug gegen das Überwuchern von anspruchsvollen Nichtigkeiten,
häßlichen Zwittergattungen und all den geistreichen "neuen" Anschauungen
Einspruch erhoben werden kann, nach denen es natürlich ist, auf dem Kopfe zu
stehen, und in denen überall das Zeichen für die Sache gesetzt wird. Die
Wege der modernen Reklame sind gewunden, mit der einfachen Empfehlung
der beachtenswerten besondern Erscheinung hoben sie an, mit dem Lob des
"aktuellen" Gehalts, gegenüber dem veralteten allgemein menschlichen Gehalt,
fuhren sie fort, bis sie endlich zu dem Ziel gelangen, daß die gepriesene Er¬
scheinung eine Geistes- und Kunstoffenbarnng sei, die in Jahrhunderten nur
wenigemale wiederkehre. Wenn wir erst glücklich so weit sind, stehen regel¬
mäßig die Urteilsfähigen an die Wand gedrückt, und der große Haufen der
Urteilslosen lauscht offnen Mundes den Weisheitssprüchen der Reklame. Darum
gilt es von vornherein die Hohlheit und poetische Unfruchtbarkeit des neuen
technischen Chiliasmus festzustellen. Mag er, soweit seine litterarische Be¬
thätigung unschuldige Spielerei, eine bloße phantastische Übersteigeruug des
Selbstgefühls ist, das durch die großen Entdeckungen der Phhstk und die
Leistungen der Technik erweckt wurde, zunächst nur, wie in Jules Verres
Phantasien, einer spannenden Unterhaltung und Zerstreuung dienen. Mögen
in den Augen des großen Publikums die meisten der hierher gehörigen Werke
nichts andres bedeuten, als Phantasiespiele in der Art Verres, und mag dies
Publikum auch ein Werk wie den Roman "Auf zwei Planeten" von Kurt
Laßwitz, die vorjährige Hauptleistung des poetischen Chiliasmus, zunächst nicht
eben höher schätzen als Verres "Fünf Wochen im Luftballon" und "Geheim¬
nisvolle Insel," es wird dabei nicht bleiben. Und was nachkommt, wissen
wir nun aus Erfahrung, der Gebrannte aber scheut das Feuer.

Daß auch Bellamys "Im Jahre 2000" und eine Reihe verwandter
Schriften wenigstens zur Hälfte dem technischen Chiliasmus, dem Glauben an
die unbegrenzte Wunderwirkung der Technik entstammen, ist angesichts ihrer
sozialpolitischen, ihrer nationalökonomischen Bestandteile viel zu wenig betont
worden. Erinnern wir uns des Verlaufs des gedachten Romans, so haftet
nächst der kühnen Unterstellung, daß die Abschaffung alles Privateigentums
gleichsam an der Börse ausgekliugelt wird, und die ungeheuerste Revolution
ohne die geringste Gewaltthat, ohne Widerstreben, ja ohne jede Bitterkeit vor
sich geht, nichts so sehr in der Vorstellung, als die technischen Zauber, die
Knöpfe, die man, in seinem Zimmer im Lehnstuhl sitzend, nur zu drücken
braucht, um das ausgezeichnetste Konzert zu hören oder die vortrefflichsten
Gerichte zu erhalten, die Schutzdächer, die unsern braven Regenschirm ver¬
drängt haben und, wie es scheint, beliebig über den ganzen amerikanischen
Kontinent ausgespannt werden können, die wunderbaren Warenhäuser mit ihren


Der technische Lhiliasmus in der neuern Dichtung

deutung haben. Wer aber mit der Litteratur und Litteraturgeschichte der beiden
letzten Jahrzehnte etwas vertrauter ist, der weiß auch, daß nicht rasch und
nicht scharf genug gegen das Überwuchern von anspruchsvollen Nichtigkeiten,
häßlichen Zwittergattungen und all den geistreichen „neuen" Anschauungen
Einspruch erhoben werden kann, nach denen es natürlich ist, auf dem Kopfe zu
stehen, und in denen überall das Zeichen für die Sache gesetzt wird. Die
Wege der modernen Reklame sind gewunden, mit der einfachen Empfehlung
der beachtenswerten besondern Erscheinung hoben sie an, mit dem Lob des
„aktuellen" Gehalts, gegenüber dem veralteten allgemein menschlichen Gehalt,
fuhren sie fort, bis sie endlich zu dem Ziel gelangen, daß die gepriesene Er¬
scheinung eine Geistes- und Kunstoffenbarnng sei, die in Jahrhunderten nur
wenigemale wiederkehre. Wenn wir erst glücklich so weit sind, stehen regel¬
mäßig die Urteilsfähigen an die Wand gedrückt, und der große Haufen der
Urteilslosen lauscht offnen Mundes den Weisheitssprüchen der Reklame. Darum
gilt es von vornherein die Hohlheit und poetische Unfruchtbarkeit des neuen
technischen Chiliasmus festzustellen. Mag er, soweit seine litterarische Be¬
thätigung unschuldige Spielerei, eine bloße phantastische Übersteigeruug des
Selbstgefühls ist, das durch die großen Entdeckungen der Phhstk und die
Leistungen der Technik erweckt wurde, zunächst nur, wie in Jules Verres
Phantasien, einer spannenden Unterhaltung und Zerstreuung dienen. Mögen
in den Augen des großen Publikums die meisten der hierher gehörigen Werke
nichts andres bedeuten, als Phantasiespiele in der Art Verres, und mag dies
Publikum auch ein Werk wie den Roman „Auf zwei Planeten" von Kurt
Laßwitz, die vorjährige Hauptleistung des poetischen Chiliasmus, zunächst nicht
eben höher schätzen als Verres „Fünf Wochen im Luftballon" und „Geheim¬
nisvolle Insel," es wird dabei nicht bleiben. Und was nachkommt, wissen
wir nun aus Erfahrung, der Gebrannte aber scheut das Feuer.

Daß auch Bellamys „Im Jahre 2000" und eine Reihe verwandter
Schriften wenigstens zur Hälfte dem technischen Chiliasmus, dem Glauben an
die unbegrenzte Wunderwirkung der Technik entstammen, ist angesichts ihrer
sozialpolitischen, ihrer nationalökonomischen Bestandteile viel zu wenig betont
worden. Erinnern wir uns des Verlaufs des gedachten Romans, so haftet
nächst der kühnen Unterstellung, daß die Abschaffung alles Privateigentums
gleichsam an der Börse ausgekliugelt wird, und die ungeheuerste Revolution
ohne die geringste Gewaltthat, ohne Widerstreben, ja ohne jede Bitterkeit vor
sich geht, nichts so sehr in der Vorstellung, als die technischen Zauber, die
Knöpfe, die man, in seinem Zimmer im Lehnstuhl sitzend, nur zu drücken
braucht, um das ausgezeichnetste Konzert zu hören oder die vortrefflichsten
Gerichte zu erhalten, die Schutzdächer, die unsern braven Regenschirm ver¬
drängt haben und, wie es scheint, beliebig über den ganzen amerikanischen
Kontinent ausgespannt werden können, die wunderbaren Warenhäuser mit ihren


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[0510] Der technische Lhiliasmus in der neuern Dichtung deutung haben. Wer aber mit der Litteratur und Litteraturgeschichte der beiden letzten Jahrzehnte etwas vertrauter ist, der weiß auch, daß nicht rasch und nicht scharf genug gegen das Überwuchern von anspruchsvollen Nichtigkeiten, häßlichen Zwittergattungen und all den geistreichen „neuen" Anschauungen Einspruch erhoben werden kann, nach denen es natürlich ist, auf dem Kopfe zu stehen, und in denen überall das Zeichen für die Sache gesetzt wird. Die Wege der modernen Reklame sind gewunden, mit der einfachen Empfehlung der beachtenswerten besondern Erscheinung hoben sie an, mit dem Lob des „aktuellen" Gehalts, gegenüber dem veralteten allgemein menschlichen Gehalt, fuhren sie fort, bis sie endlich zu dem Ziel gelangen, daß die gepriesene Er¬ scheinung eine Geistes- und Kunstoffenbarnng sei, die in Jahrhunderten nur wenigemale wiederkehre. Wenn wir erst glücklich so weit sind, stehen regel¬ mäßig die Urteilsfähigen an die Wand gedrückt, und der große Haufen der Urteilslosen lauscht offnen Mundes den Weisheitssprüchen der Reklame. Darum gilt es von vornherein die Hohlheit und poetische Unfruchtbarkeit des neuen technischen Chiliasmus festzustellen. Mag er, soweit seine litterarische Be¬ thätigung unschuldige Spielerei, eine bloße phantastische Übersteigeruug des Selbstgefühls ist, das durch die großen Entdeckungen der Phhstk und die Leistungen der Technik erweckt wurde, zunächst nur, wie in Jules Verres Phantasien, einer spannenden Unterhaltung und Zerstreuung dienen. Mögen in den Augen des großen Publikums die meisten der hierher gehörigen Werke nichts andres bedeuten, als Phantasiespiele in der Art Verres, und mag dies Publikum auch ein Werk wie den Roman „Auf zwei Planeten" von Kurt Laßwitz, die vorjährige Hauptleistung des poetischen Chiliasmus, zunächst nicht eben höher schätzen als Verres „Fünf Wochen im Luftballon" und „Geheim¬ nisvolle Insel," es wird dabei nicht bleiben. Und was nachkommt, wissen wir nun aus Erfahrung, der Gebrannte aber scheut das Feuer. Daß auch Bellamys „Im Jahre 2000" und eine Reihe verwandter Schriften wenigstens zur Hälfte dem technischen Chiliasmus, dem Glauben an die unbegrenzte Wunderwirkung der Technik entstammen, ist angesichts ihrer sozialpolitischen, ihrer nationalökonomischen Bestandteile viel zu wenig betont worden. Erinnern wir uns des Verlaufs des gedachten Romans, so haftet nächst der kühnen Unterstellung, daß die Abschaffung alles Privateigentums gleichsam an der Börse ausgekliugelt wird, und die ungeheuerste Revolution ohne die geringste Gewaltthat, ohne Widerstreben, ja ohne jede Bitterkeit vor sich geht, nichts so sehr in der Vorstellung, als die technischen Zauber, die Knöpfe, die man, in seinem Zimmer im Lehnstuhl sitzend, nur zu drücken braucht, um das ausgezeichnetste Konzert zu hören oder die vortrefflichsten Gerichte zu erhalten, die Schutzdächer, die unsern braven Regenschirm ver¬ drängt haben und, wie es scheint, beliebig über den ganzen amerikanischen Kontinent ausgespannt werden können, die wunderbaren Warenhäuser mit ihren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/510>, abgerufen am 28.07.2024.