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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die hebräische Renaissance in England

die Frage: Inwieweit sind wir heute noch imstande, namentlich in den Kreisen
der Gebildeten, die Vorbedingungen zu schaffen und die Wege zu ebnen für
ein Eindringen des göttlichen Wortes in die Gemüter in dem Maße, daß
Gedanke und Gefühl von dem himmlischen Sauerteig ganz und gar durch¬
säuert wird.

In der Geschichte des Reformationszeitalters zeigt uns England ein
Beispiel fast übermäßiger Sättigung der Zeitkultur durch Gedanken und
Sprache der Bibel, namentlich der Heiligen Schrift Alten Testaments, und
ein Vergleich des damaligen Hinftrebens des Zeitgeistes zu den Heiligen
Schriften mit der heutigen Gleichgiltigkeit und Abwendung dürfte mit Bezug
auf die so dringend geforderte, aber kaum irgendwo in merkbarer Weise ge¬
förderte christliche oder evangelische Renaissance zu fruchtbringenden Nach¬
denken anregen und wertvolle Fingerzeige geben. Neuere Darsteller des Zeit¬
alters der Reformation in England pflegen mit Vorliebe bei der Schilderung
des Eindrucks zu verweilen, den das allgemeinere Bekanntwerden der Heiligen
Schrift namentlich auf den englischen Mittelstand hervorgebracht hat. So
beginnt John Richard Green das achte, vom Puritanertum handelnde Kapitel
seiner Geschichte des englischen Volkes mit den Worten: "Nie ist eine größere
sittliche Veränderung mit einer Nation vorgegangen, als mit der englischen
in den Jahren, die zwischen der Mitte der Regierung Elisabeths und dem
Zusammentritt des langen Parlaments liegen. Ein Buch brachte diese Ver¬
änderung hervor, und dieses Buch war die Bibel." Der treffliche Geschicht¬
schreiber verbreitet sich sodann über die Ursachen, die den kernhaftesten und
tüchtigsten Teil der englischen Nation auf eine so wunderbare Weise zu dem
Geist und Buchstaben der alten hebräischen Litteratur hinwandten. Zunächst
und vor allem kommt in Betracht, daß das litterarische Bedürfnis, wie es
einer zu gewisser Bildung gelangten Mittelklasse eigen zu sein Pflegt, bis zu
dem Erscheinen der Bibelübersetzung von Tyndale*) und Coverdale kaum eine
Befriedigung gefunden hatte. Mit Ausnahme einiger volkstümlicher Dich¬
tungen war keine Geschichte, kein Roman, keine Erzählung von irgendwelcher
Bedeutung für das Bewußtsein auch der untern Volksschichten in englischer
Sprache vorhanden, als die Auflegung der Bibel in den Kirchen der Hauptstadt
angeordnet wurde. So war es nicht zu verwundern, daß die Menge zu¬
strömte, wenn sich irgend ein Bürger bereit fand, mit vernehmlicher Stimme
einen Abschnitt aus dem Alten oder Neuen Testament vorzulesen. Bei den
häuslichen Andachtsübungen kam mehr und mehr die kleine Genfer Ausgabe
der Bibel in Gebrauch, deren Inhalt nun für die Familie so ziemlich die einzige



*) Tyndale lebte 1523 in Wittenberg; hier erschien 1525 seine englische Übersetzung deS
Neuen Testaments, Ans Veranlassung Heinrichs VIII, wurde er später, 15>J<>, in der Nähe von
Antwerpen erdrosselt und verbrannt. Die unter Heinrichs Patronat zu stände gekommne Ver¬
besserung der Tundalischen Bibelübersetzung durch Miles Coverdale erschien IlW
Die hebräische Renaissance in England

die Frage: Inwieweit sind wir heute noch imstande, namentlich in den Kreisen
der Gebildeten, die Vorbedingungen zu schaffen und die Wege zu ebnen für
ein Eindringen des göttlichen Wortes in die Gemüter in dem Maße, daß
Gedanke und Gefühl von dem himmlischen Sauerteig ganz und gar durch¬
säuert wird.

In der Geschichte des Reformationszeitalters zeigt uns England ein
Beispiel fast übermäßiger Sättigung der Zeitkultur durch Gedanken und
Sprache der Bibel, namentlich der Heiligen Schrift Alten Testaments, und
ein Vergleich des damaligen Hinftrebens des Zeitgeistes zu den Heiligen
Schriften mit der heutigen Gleichgiltigkeit und Abwendung dürfte mit Bezug
auf die so dringend geforderte, aber kaum irgendwo in merkbarer Weise ge¬
förderte christliche oder evangelische Renaissance zu fruchtbringenden Nach¬
denken anregen und wertvolle Fingerzeige geben. Neuere Darsteller des Zeit¬
alters der Reformation in England pflegen mit Vorliebe bei der Schilderung
des Eindrucks zu verweilen, den das allgemeinere Bekanntwerden der Heiligen
Schrift namentlich auf den englischen Mittelstand hervorgebracht hat. So
beginnt John Richard Green das achte, vom Puritanertum handelnde Kapitel
seiner Geschichte des englischen Volkes mit den Worten: „Nie ist eine größere
sittliche Veränderung mit einer Nation vorgegangen, als mit der englischen
in den Jahren, die zwischen der Mitte der Regierung Elisabeths und dem
Zusammentritt des langen Parlaments liegen. Ein Buch brachte diese Ver¬
änderung hervor, und dieses Buch war die Bibel." Der treffliche Geschicht¬
schreiber verbreitet sich sodann über die Ursachen, die den kernhaftesten und
tüchtigsten Teil der englischen Nation auf eine so wunderbare Weise zu dem
Geist und Buchstaben der alten hebräischen Litteratur hinwandten. Zunächst
und vor allem kommt in Betracht, daß das litterarische Bedürfnis, wie es
einer zu gewisser Bildung gelangten Mittelklasse eigen zu sein Pflegt, bis zu
dem Erscheinen der Bibelübersetzung von Tyndale*) und Coverdale kaum eine
Befriedigung gefunden hatte. Mit Ausnahme einiger volkstümlicher Dich¬
tungen war keine Geschichte, kein Roman, keine Erzählung von irgendwelcher
Bedeutung für das Bewußtsein auch der untern Volksschichten in englischer
Sprache vorhanden, als die Auflegung der Bibel in den Kirchen der Hauptstadt
angeordnet wurde. So war es nicht zu verwundern, daß die Menge zu¬
strömte, wenn sich irgend ein Bürger bereit fand, mit vernehmlicher Stimme
einen Abschnitt aus dem Alten oder Neuen Testament vorzulesen. Bei den
häuslichen Andachtsübungen kam mehr und mehr die kleine Genfer Ausgabe
der Bibel in Gebrauch, deren Inhalt nun für die Familie so ziemlich die einzige



*) Tyndale lebte 1523 in Wittenberg; hier erschien 1525 seine englische Übersetzung deS
Neuen Testaments, Ans Veranlassung Heinrichs VIII, wurde er später, 15>J<>, in der Nähe von
Antwerpen erdrosselt und verbrannt. Die unter Heinrichs Patronat zu stände gekommne Ver¬
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[0494] Die hebräische Renaissance in England die Frage: Inwieweit sind wir heute noch imstande, namentlich in den Kreisen der Gebildeten, die Vorbedingungen zu schaffen und die Wege zu ebnen für ein Eindringen des göttlichen Wortes in die Gemüter in dem Maße, daß Gedanke und Gefühl von dem himmlischen Sauerteig ganz und gar durch¬ säuert wird. In der Geschichte des Reformationszeitalters zeigt uns England ein Beispiel fast übermäßiger Sättigung der Zeitkultur durch Gedanken und Sprache der Bibel, namentlich der Heiligen Schrift Alten Testaments, und ein Vergleich des damaligen Hinftrebens des Zeitgeistes zu den Heiligen Schriften mit der heutigen Gleichgiltigkeit und Abwendung dürfte mit Bezug auf die so dringend geforderte, aber kaum irgendwo in merkbarer Weise ge¬ förderte christliche oder evangelische Renaissance zu fruchtbringenden Nach¬ denken anregen und wertvolle Fingerzeige geben. Neuere Darsteller des Zeit¬ alters der Reformation in England pflegen mit Vorliebe bei der Schilderung des Eindrucks zu verweilen, den das allgemeinere Bekanntwerden der Heiligen Schrift namentlich auf den englischen Mittelstand hervorgebracht hat. So beginnt John Richard Green das achte, vom Puritanertum handelnde Kapitel seiner Geschichte des englischen Volkes mit den Worten: „Nie ist eine größere sittliche Veränderung mit einer Nation vorgegangen, als mit der englischen in den Jahren, die zwischen der Mitte der Regierung Elisabeths und dem Zusammentritt des langen Parlaments liegen. Ein Buch brachte diese Ver¬ änderung hervor, und dieses Buch war die Bibel." Der treffliche Geschicht¬ schreiber verbreitet sich sodann über die Ursachen, die den kernhaftesten und tüchtigsten Teil der englischen Nation auf eine so wunderbare Weise zu dem Geist und Buchstaben der alten hebräischen Litteratur hinwandten. Zunächst und vor allem kommt in Betracht, daß das litterarische Bedürfnis, wie es einer zu gewisser Bildung gelangten Mittelklasse eigen zu sein Pflegt, bis zu dem Erscheinen der Bibelübersetzung von Tyndale*) und Coverdale kaum eine Befriedigung gefunden hatte. Mit Ausnahme einiger volkstümlicher Dich¬ tungen war keine Geschichte, kein Roman, keine Erzählung von irgendwelcher Bedeutung für das Bewußtsein auch der untern Volksschichten in englischer Sprache vorhanden, als die Auflegung der Bibel in den Kirchen der Hauptstadt angeordnet wurde. So war es nicht zu verwundern, daß die Menge zu¬ strömte, wenn sich irgend ein Bürger bereit fand, mit vernehmlicher Stimme einen Abschnitt aus dem Alten oder Neuen Testament vorzulesen. Bei den häuslichen Andachtsübungen kam mehr und mehr die kleine Genfer Ausgabe der Bibel in Gebrauch, deren Inhalt nun für die Familie so ziemlich die einzige *) Tyndale lebte 1523 in Wittenberg; hier erschien 1525 seine englische Übersetzung deS Neuen Testaments, Ans Veranlassung Heinrichs VIII, wurde er später, 15>J<>, in der Nähe von Antwerpen erdrosselt und verbrannt. Die unter Heinrichs Patronat zu stände gekommne Ver¬ besserung der Tundalischen Bibelübersetzung durch Miles Coverdale erschien IlW

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/494>, abgerufen am 27.07.2024.