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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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endgiltig aufgeben muß, denn nichts mehr und nichts weniger liegt für Frank¬
reich in dem russischen Abrüstungsvorschlage, da es für sich allein keine Hoff¬
nung hat, die Revanche zu verwirklichen. Kein Wunder, daß dort die Ent¬
täuschung über die russische "Freundschaft" ungeheuer ist und trotz aller Liebe¬
dienerei offen geäußert wird. Damit aber lockert sich das russisch-französische
Verhältnis, und Nußland wird näher an Deutschland herangeschobe", ein Er¬
gebnis der russischen Note, das wir nur aufs lebhafteste begrüßen können; ja
die Möglichkeit zeigt sich, daß zwischen Deutschland und Frankreich ein auf¬
richtiges Einvernehmen hergestellt werden kaun. Denn wenn die Franzosen
nun einmal auf Elsaß-Lothringen verzichten müssen, trotz des Geschreis
der elsüssischen Emigration, die eben das Schicksal aller Emigrationen hat,
nämlich das, hinter der Zeit zurückzubleiben, dann könnten sie schon auf den
Gedanken kommen, daß ein ehrliches Zusammengehen mit Deutschland ihrer
würdiger wäre, als das "Wettkriechen" vor dem Zaren. Ja, wenn dieser
klaffende Gegensatz überbrückt würde, dann läge sogar die Möglichkeit vor, alle
festländischen Mächte enger aneinander zu schließen, um den Anmaßungen des
Angelsachsentums gemeinsam entgegenzutreten. Ob freilich diese schwache repu¬
blikanische Negierung in Paris imstande sein wird, eine solche entscheidende
Schwenkung zu vollziehen?

Wir Deutschen haben also gar keinen Grund, den russischen Kongreßvor¬
schlag abzulehnen, im Gegenteil, aber natürlich unter der Voraussetzung, daß
an unserm Besitzstand, also auch an dem Besitz Elsaß-Lothringens von keiner
Seite auch nnr mit einem Worte gerührt werde. Den leisesten Versuch dazu
müßten wir mit der Weigerung, den Kongreß zu beschicken oder weiter an ihm
teilzunehmen, beantworten, und dann könnte aus ihm sogar das Gegenteil des
von Rußland beabsichtigten, nämlich ein Krieg hervorgehen. Also ein Grund
mehr, unser Pulver trocken zu halten, demnach -- nicht abzurüsten. Welche
Folgen die Vertagung kriegerischer Entscheidungen in Ostasien haben wird, läßt
sich schwer sagen. Vielleicht kommt es dort zu einer friedlichen Teilung der
sogenannten "Einflußsphären," also des chinesischen Reichs, zwischen den Gro߬
mächten. Die deutsche Politik scheint so etwas zu erwarten, denn umsonst
läßt sie ein so starkes Geschwader nicht dort. Es wäre auch nicht das erste¬
mal, daß schwere Gegensätze in dieser Weise auf Kosten eines Unbeteiligten
ausgeglichen würden. Die erste polnische Teilung 1772 kam bekanntlich des¬
halb zu stände, weil Österreich den Russen nicht erlauben wollte, sich auf
Kosten der Türkei zu vergrößern, und Preußen keine Neigung hatte, für Nu߬
land gegen Österreich das Schwert zu ziehen. So hielten sich die drei
Mächte in Polen schadlos, das so verlottert und wehrlos war, wie heute das
chinesische Reich.

Nur eins ist für Deutschland unbequem, das ist die bethörende Wirkung,
die vermutlich die russischen Friedensschalmeien auf sozialdemokratische und


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endgiltig aufgeben muß, denn nichts mehr und nichts weniger liegt für Frank¬
reich in dem russischen Abrüstungsvorschlage, da es für sich allein keine Hoff¬
nung hat, die Revanche zu verwirklichen. Kein Wunder, daß dort die Ent¬
täuschung über die russische „Freundschaft" ungeheuer ist und trotz aller Liebe¬
dienerei offen geäußert wird. Damit aber lockert sich das russisch-französische
Verhältnis, und Nußland wird näher an Deutschland herangeschobe», ein Er¬
gebnis der russischen Note, das wir nur aufs lebhafteste begrüßen können; ja
die Möglichkeit zeigt sich, daß zwischen Deutschland und Frankreich ein auf¬
richtiges Einvernehmen hergestellt werden kaun. Denn wenn die Franzosen
nun einmal auf Elsaß-Lothringen verzichten müssen, trotz des Geschreis
der elsüssischen Emigration, die eben das Schicksal aller Emigrationen hat,
nämlich das, hinter der Zeit zurückzubleiben, dann könnten sie schon auf den
Gedanken kommen, daß ein ehrliches Zusammengehen mit Deutschland ihrer
würdiger wäre, als das „Wettkriechen" vor dem Zaren. Ja, wenn dieser
klaffende Gegensatz überbrückt würde, dann läge sogar die Möglichkeit vor, alle
festländischen Mächte enger aneinander zu schließen, um den Anmaßungen des
Angelsachsentums gemeinsam entgegenzutreten. Ob freilich diese schwache repu¬
blikanische Negierung in Paris imstande sein wird, eine solche entscheidende
Schwenkung zu vollziehen?

Wir Deutschen haben also gar keinen Grund, den russischen Kongreßvor¬
schlag abzulehnen, im Gegenteil, aber natürlich unter der Voraussetzung, daß
an unserm Besitzstand, also auch an dem Besitz Elsaß-Lothringens von keiner
Seite auch nnr mit einem Worte gerührt werde. Den leisesten Versuch dazu
müßten wir mit der Weigerung, den Kongreß zu beschicken oder weiter an ihm
teilzunehmen, beantworten, und dann könnte aus ihm sogar das Gegenteil des
von Rußland beabsichtigten, nämlich ein Krieg hervorgehen. Also ein Grund
mehr, unser Pulver trocken zu halten, demnach — nicht abzurüsten. Welche
Folgen die Vertagung kriegerischer Entscheidungen in Ostasien haben wird, läßt
sich schwer sagen. Vielleicht kommt es dort zu einer friedlichen Teilung der
sogenannten „Einflußsphären," also des chinesischen Reichs, zwischen den Gro߬
mächten. Die deutsche Politik scheint so etwas zu erwarten, denn umsonst
läßt sie ein so starkes Geschwader nicht dort. Es wäre auch nicht das erste¬
mal, daß schwere Gegensätze in dieser Weise auf Kosten eines Unbeteiligten
ausgeglichen würden. Die erste polnische Teilung 1772 kam bekanntlich des¬
halb zu stände, weil Österreich den Russen nicht erlauben wollte, sich auf
Kosten der Türkei zu vergrößern, und Preußen keine Neigung hatte, für Nu߬
land gegen Österreich das Schwert zu ziehen. So hielten sich die drei
Mächte in Polen schadlos, das so verlottert und wehrlos war, wie heute das
chinesische Reich.

Nur eins ist für Deutschland unbequem, das ist die bethörende Wirkung,
die vermutlich die russischen Friedensschalmeien auf sozialdemokratische und


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[0492] weltfriede endgiltig aufgeben muß, denn nichts mehr und nichts weniger liegt für Frank¬ reich in dem russischen Abrüstungsvorschlage, da es für sich allein keine Hoff¬ nung hat, die Revanche zu verwirklichen. Kein Wunder, daß dort die Ent¬ täuschung über die russische „Freundschaft" ungeheuer ist und trotz aller Liebe¬ dienerei offen geäußert wird. Damit aber lockert sich das russisch-französische Verhältnis, und Nußland wird näher an Deutschland herangeschobe», ein Er¬ gebnis der russischen Note, das wir nur aufs lebhafteste begrüßen können; ja die Möglichkeit zeigt sich, daß zwischen Deutschland und Frankreich ein auf¬ richtiges Einvernehmen hergestellt werden kaun. Denn wenn die Franzosen nun einmal auf Elsaß-Lothringen verzichten müssen, trotz des Geschreis der elsüssischen Emigration, die eben das Schicksal aller Emigrationen hat, nämlich das, hinter der Zeit zurückzubleiben, dann könnten sie schon auf den Gedanken kommen, daß ein ehrliches Zusammengehen mit Deutschland ihrer würdiger wäre, als das „Wettkriechen" vor dem Zaren. Ja, wenn dieser klaffende Gegensatz überbrückt würde, dann läge sogar die Möglichkeit vor, alle festländischen Mächte enger aneinander zu schließen, um den Anmaßungen des Angelsachsentums gemeinsam entgegenzutreten. Ob freilich diese schwache repu¬ blikanische Negierung in Paris imstande sein wird, eine solche entscheidende Schwenkung zu vollziehen? Wir Deutschen haben also gar keinen Grund, den russischen Kongreßvor¬ schlag abzulehnen, im Gegenteil, aber natürlich unter der Voraussetzung, daß an unserm Besitzstand, also auch an dem Besitz Elsaß-Lothringens von keiner Seite auch nnr mit einem Worte gerührt werde. Den leisesten Versuch dazu müßten wir mit der Weigerung, den Kongreß zu beschicken oder weiter an ihm teilzunehmen, beantworten, und dann könnte aus ihm sogar das Gegenteil des von Rußland beabsichtigten, nämlich ein Krieg hervorgehen. Also ein Grund mehr, unser Pulver trocken zu halten, demnach — nicht abzurüsten. Welche Folgen die Vertagung kriegerischer Entscheidungen in Ostasien haben wird, läßt sich schwer sagen. Vielleicht kommt es dort zu einer friedlichen Teilung der sogenannten „Einflußsphären," also des chinesischen Reichs, zwischen den Gro߬ mächten. Die deutsche Politik scheint so etwas zu erwarten, denn umsonst läßt sie ein so starkes Geschwader nicht dort. Es wäre auch nicht das erste¬ mal, daß schwere Gegensätze in dieser Weise auf Kosten eines Unbeteiligten ausgeglichen würden. Die erste polnische Teilung 1772 kam bekanntlich des¬ halb zu stände, weil Österreich den Russen nicht erlauben wollte, sich auf Kosten der Türkei zu vergrößern, und Preußen keine Neigung hatte, für Nu߬ land gegen Österreich das Schwert zu ziehen. So hielten sich die drei Mächte in Polen schadlos, das so verlottert und wehrlos war, wie heute das chinesische Reich. Nur eins ist für Deutschland unbequem, das ist die bethörende Wirkung, die vermutlich die russischen Friedensschalmeien auf sozialdemokratische und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/492>, abgerufen am 27.07.2024.