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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Gedichte Michelangelos

unvollständig und in einer entstellenden Überarbeitung bekannt gewesen waren.
Die Ausgabe von 1863 hat denn auch der Beschäftigung mit diesen merk¬
würdigen Dichtungen, die sich jetzt zum erstenmal in ihrer fremdartigen Ur¬
sprünglichkeit der Welt zeigten, einen neuen Schwung gegeben. Allein wie
wenig auch sie den strengern Forderungen an eine wissenschaftliche Ausgabe
entsprach, läßt sich erst jetzt erkennen, nachdem die neuste Ausgabe diese Forde¬
rungen in einer erschöpfenden und geradezu bewunderungswürdigen Weise
erfüllt hat. Nur wenige werden imstande sein, die außerordentliche Hingebung,
die zu dieser Arbeit erforderlich war, in ihrem ganzen Umfang zu würdigen.
Es hat wiederholter Reisen nach Florenz und Rom, es hat der genausten
Nachforschungen in den Archiven, der peinlichsten Untersuchung und Vergleichung
der Handschriften -- teils Michelangelos selbst, teils seiner Freunde und ältesten
Abschreiber --, ja der Aufspürung der subtilsten Merkmale der einzelnen
Blätter bedurft, um zu den Ergebnissen zu gelangen, die jetzt erzielt worden sind.

Guasti hat die Gedichte in ihrer ursprünglichen Gestalt ans Licht gestellt,
aber in einer willkürlichen, oberflächlichen Anordnung. Wenn man sie als
psychologische Urkunden in das Leben Michelangelos einreihen wollte, so fehlte
es zwar nicht an bestimmten Anhaltspunkten, aber doch nur für einen kleinen
Teil; für die große Mehrzahl war man auf rein subjektive Erwägungsgründe
angewiesen. In dieser ungeordneten Masse ist nun aufgeräumt. Sie nach
objektiven Kriterien in Gruppen gebracht, sie nach der Zeitfolge geordnet zu
haben, ist das eine Verdienst der neuen Ausgabe. Das andre besteht in der
Auffindung der Genesis der einzelnen Gedichte. Bekanntlich liegen viele von
ihnen in abweichenden Fassungen vor, in zwei-, vier-, fünffacher Fassung,
einzelne sind sogar in noch viel zahlreichern Redaktionen vorhanden. Eben
durch die genaue Untersuchung der Handschriften ist es dem Scharfsinn Freds
gelungen, auch für die Geschichte der einzelnen Sonette oder Madrigale mehr
oder weniger sichre Anhaltspunkte zu finden. Es liegt auf der Hand, daß
die Gedichte dadurch, daß sie chronologisch sichrer bestimmt sind, eine viel zu¬
verlässigere Grundlage sür die psychologische Entwicklung des großen Künstlers
werden. Freilich ist die Datirung und Einreihung nicht überall mit gleicher
Sicherheit möglich. Vielfach ist man doch auf Vermutung, auf subjektives Er¬
messen angewiesen. Der Scharfsinn und das Taktgefühl, die sich bei dem
Herausgeber mit der gewissenhaftesten, nichts übersehenden Akribie verbinden,
sind aber geeignet, ein starkes Vertrauen einzuflößen. Man wird einem Forscher,
der jedes Blatt so gründlich untersucht hat, gern auch da zu folgen bereit
sein, wo man mit den vorhandnen Mitteln nicht über Hypothesen hinaus¬
kommen kann.

Zu den schönsten Entdeckungen, die Frey gemacht hat, gehört die, daß
ein beträchtlicher Teil der Gedichte von Michelangelo selbst zur Herausgabe
bestimmt war. An der Numerirung und an andern Merkmalen der Handschriften


Die Gedichte Michelangelos

unvollständig und in einer entstellenden Überarbeitung bekannt gewesen waren.
Die Ausgabe von 1863 hat denn auch der Beschäftigung mit diesen merk¬
würdigen Dichtungen, die sich jetzt zum erstenmal in ihrer fremdartigen Ur¬
sprünglichkeit der Welt zeigten, einen neuen Schwung gegeben. Allein wie
wenig auch sie den strengern Forderungen an eine wissenschaftliche Ausgabe
entsprach, läßt sich erst jetzt erkennen, nachdem die neuste Ausgabe diese Forde¬
rungen in einer erschöpfenden und geradezu bewunderungswürdigen Weise
erfüllt hat. Nur wenige werden imstande sein, die außerordentliche Hingebung,
die zu dieser Arbeit erforderlich war, in ihrem ganzen Umfang zu würdigen.
Es hat wiederholter Reisen nach Florenz und Rom, es hat der genausten
Nachforschungen in den Archiven, der peinlichsten Untersuchung und Vergleichung
der Handschriften — teils Michelangelos selbst, teils seiner Freunde und ältesten
Abschreiber —, ja der Aufspürung der subtilsten Merkmale der einzelnen
Blätter bedurft, um zu den Ergebnissen zu gelangen, die jetzt erzielt worden sind.

Guasti hat die Gedichte in ihrer ursprünglichen Gestalt ans Licht gestellt,
aber in einer willkürlichen, oberflächlichen Anordnung. Wenn man sie als
psychologische Urkunden in das Leben Michelangelos einreihen wollte, so fehlte
es zwar nicht an bestimmten Anhaltspunkten, aber doch nur für einen kleinen
Teil; für die große Mehrzahl war man auf rein subjektive Erwägungsgründe
angewiesen. In dieser ungeordneten Masse ist nun aufgeräumt. Sie nach
objektiven Kriterien in Gruppen gebracht, sie nach der Zeitfolge geordnet zu
haben, ist das eine Verdienst der neuen Ausgabe. Das andre besteht in der
Auffindung der Genesis der einzelnen Gedichte. Bekanntlich liegen viele von
ihnen in abweichenden Fassungen vor, in zwei-, vier-, fünffacher Fassung,
einzelne sind sogar in noch viel zahlreichern Redaktionen vorhanden. Eben
durch die genaue Untersuchung der Handschriften ist es dem Scharfsinn Freds
gelungen, auch für die Geschichte der einzelnen Sonette oder Madrigale mehr
oder weniger sichre Anhaltspunkte zu finden. Es liegt auf der Hand, daß
die Gedichte dadurch, daß sie chronologisch sichrer bestimmt sind, eine viel zu¬
verlässigere Grundlage sür die psychologische Entwicklung des großen Künstlers
werden. Freilich ist die Datirung und Einreihung nicht überall mit gleicher
Sicherheit möglich. Vielfach ist man doch auf Vermutung, auf subjektives Er¬
messen angewiesen. Der Scharfsinn und das Taktgefühl, die sich bei dem
Herausgeber mit der gewissenhaftesten, nichts übersehenden Akribie verbinden,
sind aber geeignet, ein starkes Vertrauen einzuflößen. Man wird einem Forscher,
der jedes Blatt so gründlich untersucht hat, gern auch da zu folgen bereit
sein, wo man mit den vorhandnen Mitteln nicht über Hypothesen hinaus¬
kommen kann.

Zu den schönsten Entdeckungen, die Frey gemacht hat, gehört die, daß
ein beträchtlicher Teil der Gedichte von Michelangelo selbst zur Herausgabe
bestimmt war. An der Numerirung und an andern Merkmalen der Handschriften


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[0460] Die Gedichte Michelangelos unvollständig und in einer entstellenden Überarbeitung bekannt gewesen waren. Die Ausgabe von 1863 hat denn auch der Beschäftigung mit diesen merk¬ würdigen Dichtungen, die sich jetzt zum erstenmal in ihrer fremdartigen Ur¬ sprünglichkeit der Welt zeigten, einen neuen Schwung gegeben. Allein wie wenig auch sie den strengern Forderungen an eine wissenschaftliche Ausgabe entsprach, läßt sich erst jetzt erkennen, nachdem die neuste Ausgabe diese Forde¬ rungen in einer erschöpfenden und geradezu bewunderungswürdigen Weise erfüllt hat. Nur wenige werden imstande sein, die außerordentliche Hingebung, die zu dieser Arbeit erforderlich war, in ihrem ganzen Umfang zu würdigen. Es hat wiederholter Reisen nach Florenz und Rom, es hat der genausten Nachforschungen in den Archiven, der peinlichsten Untersuchung und Vergleichung der Handschriften — teils Michelangelos selbst, teils seiner Freunde und ältesten Abschreiber —, ja der Aufspürung der subtilsten Merkmale der einzelnen Blätter bedurft, um zu den Ergebnissen zu gelangen, die jetzt erzielt worden sind. Guasti hat die Gedichte in ihrer ursprünglichen Gestalt ans Licht gestellt, aber in einer willkürlichen, oberflächlichen Anordnung. Wenn man sie als psychologische Urkunden in das Leben Michelangelos einreihen wollte, so fehlte es zwar nicht an bestimmten Anhaltspunkten, aber doch nur für einen kleinen Teil; für die große Mehrzahl war man auf rein subjektive Erwägungsgründe angewiesen. In dieser ungeordneten Masse ist nun aufgeräumt. Sie nach objektiven Kriterien in Gruppen gebracht, sie nach der Zeitfolge geordnet zu haben, ist das eine Verdienst der neuen Ausgabe. Das andre besteht in der Auffindung der Genesis der einzelnen Gedichte. Bekanntlich liegen viele von ihnen in abweichenden Fassungen vor, in zwei-, vier-, fünffacher Fassung, einzelne sind sogar in noch viel zahlreichern Redaktionen vorhanden. Eben durch die genaue Untersuchung der Handschriften ist es dem Scharfsinn Freds gelungen, auch für die Geschichte der einzelnen Sonette oder Madrigale mehr oder weniger sichre Anhaltspunkte zu finden. Es liegt auf der Hand, daß die Gedichte dadurch, daß sie chronologisch sichrer bestimmt sind, eine viel zu¬ verlässigere Grundlage sür die psychologische Entwicklung des großen Künstlers werden. Freilich ist die Datirung und Einreihung nicht überall mit gleicher Sicherheit möglich. Vielfach ist man doch auf Vermutung, auf subjektives Er¬ messen angewiesen. Der Scharfsinn und das Taktgefühl, die sich bei dem Herausgeber mit der gewissenhaftesten, nichts übersehenden Akribie verbinden, sind aber geeignet, ein starkes Vertrauen einzuflößen. Man wird einem Forscher, der jedes Blatt so gründlich untersucht hat, gern auch da zu folgen bereit sein, wo man mit den vorhandnen Mitteln nicht über Hypothesen hinaus¬ kommen kann. Zu den schönsten Entdeckungen, die Frey gemacht hat, gehört die, daß ein beträchtlicher Teil der Gedichte von Michelangelo selbst zur Herausgabe bestimmt war. An der Numerirung und an andern Merkmalen der Handschriften

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/460>, abgerufen am 01.09.2024.