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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Frühlingstage am Garigliano

Versicherte, er und alle, die ihr Blut für das Vaterland vergossen hätten, seien
samt und sonders um die Früchte ihrer Bemühungen, um die Erfüllung ihrer
Hoffnungen betrogen worden. Er war kein Sozialdemokrat, sondern ein königs¬
treuer Mann, aber gegen das parlamentarische Regiment des Landes trug er
einen so glühenden Haß in sich, daß er sich kaum bemeistern konnte. Wer bei
uns zu Macht und Einfluß l>1 xotsrs) gekommen ist, so lautete seine Rede,
der bereichert sich die eignen Taschen und zehrt mit den andern am Marke
des Volks. Ist das wahr, so fragt man, wo liegen die Wurzeln dieser Zu¬
stände? Sie liegen zum Teil in uraltem Herkommen, zum Teil in den neuern
Politischen Entwicklungen.

Uralt sind die bösen agrarischen Verhältnisse des Landes, sie gehen bis
in die Römerzeit zurück. Die Bauern sind in Italien zum allergrößten Teil
nicht Eigentümer des Bodens, sondern nur Pächter, und zwar teilweise recht
schlecht gestellte, die bis zur Hälfte des Ertrags an die Grundherren abgeben
müssen. Die Grundherren aber stehen zumeist zu den Bauern in gar keinem
persönlichen Verhältnisse, sondern leben auf hohem Fuße in Rom oder Neapel,
spielen in Monaco oder amüsiren sich in Paris und London. Es sind ähn¬
liche Verhältnisse, wie sie in Frankreich vor der großen Revolution bestanden,
und schon haben sich diese gedrückten Zinsbauern in Sizilien, aber auch in der
Lombardei mit Gewalt gegen die bestehende Ordnung erhoben, oder sie sind
zu Tausenden ausgewandert. Uralt ist auch die Vorliebe der Romanen für
indirekte Steuern, ihre Abneigung gegen eine direkte Einkommen- und Ver¬
mögenssteuer. Zwar giebt es eine solche, aber sie war 1894/95 nur mit
234 Millionen Lire veranschlagt, während die indirekten Steuern gegen 500
Millionen einbrachten. Rechnet man dazu die indirekten Gemeindesteuern, die
selbst der kleinste Ort unter dem verhaßten Titel ä^lo von8uiQo von allen
Lebensbedürfnissen erhebt, so begreift man die geradezu unerhörte Preissteige¬
rung der wichtigsten Bedürfnisse.*)

Andre Schäden hängen mit den modernen Schicksalen Italiens zusammen.
Es hat in wichtigen Dingen die umgekehrte Stufenfolge der Entwicklungen
durchgemacht wie Deutschland. Bei uns ging das Werk der Bauernbefreiung
und der wirtschaftlichen Konsolidirung der Einheitsbewegung voraus, es war
schon von den meisten Einzelstaaten geleistet worden, ehe das Deutsche Reich
entstand. In Italien entstand der Nationalstaat, ehe eine den modernen Forde¬
rungen angepaßte wirtschaftliche Gesundung auch nnr begonnen hatte. In
Deutschland hat sich zum Heile des Volkes eine bundesstaatliche Ordnung sest-



Wenige Beispiele mögen genügen: ein Kilo Salz kostet in Italien 40 Centcsimi, ein
Liter Petroleum 86, ein Kilo Zucker 1 Lire 60 Centesimi, ein Kilo Brot vor den Unruhen
50 Centesimi und mehr! Diese Zahlen erhalten ihre Illustration erst durch die gezählten Löhne.
Em Fabrikarbeiter im ehemaligen Königreich Neapel verdient täglich etwa 1'/, Lire " 1 Mari
10 Pfennige, eine erwachsene Arbeiterin 66 Centesimi --^ Pfennige.
Frühlingstage am Garigliano

Versicherte, er und alle, die ihr Blut für das Vaterland vergossen hätten, seien
samt und sonders um die Früchte ihrer Bemühungen, um die Erfüllung ihrer
Hoffnungen betrogen worden. Er war kein Sozialdemokrat, sondern ein königs¬
treuer Mann, aber gegen das parlamentarische Regiment des Landes trug er
einen so glühenden Haß in sich, daß er sich kaum bemeistern konnte. Wer bei
uns zu Macht und Einfluß l>1 xotsrs) gekommen ist, so lautete seine Rede,
der bereichert sich die eignen Taschen und zehrt mit den andern am Marke
des Volks. Ist das wahr, so fragt man, wo liegen die Wurzeln dieser Zu¬
stände? Sie liegen zum Teil in uraltem Herkommen, zum Teil in den neuern
Politischen Entwicklungen.

Uralt sind die bösen agrarischen Verhältnisse des Landes, sie gehen bis
in die Römerzeit zurück. Die Bauern sind in Italien zum allergrößten Teil
nicht Eigentümer des Bodens, sondern nur Pächter, und zwar teilweise recht
schlecht gestellte, die bis zur Hälfte des Ertrags an die Grundherren abgeben
müssen. Die Grundherren aber stehen zumeist zu den Bauern in gar keinem
persönlichen Verhältnisse, sondern leben auf hohem Fuße in Rom oder Neapel,
spielen in Monaco oder amüsiren sich in Paris und London. Es sind ähn¬
liche Verhältnisse, wie sie in Frankreich vor der großen Revolution bestanden,
und schon haben sich diese gedrückten Zinsbauern in Sizilien, aber auch in der
Lombardei mit Gewalt gegen die bestehende Ordnung erhoben, oder sie sind
zu Tausenden ausgewandert. Uralt ist auch die Vorliebe der Romanen für
indirekte Steuern, ihre Abneigung gegen eine direkte Einkommen- und Ver¬
mögenssteuer. Zwar giebt es eine solche, aber sie war 1894/95 nur mit
234 Millionen Lire veranschlagt, während die indirekten Steuern gegen 500
Millionen einbrachten. Rechnet man dazu die indirekten Gemeindesteuern, die
selbst der kleinste Ort unter dem verhaßten Titel ä^lo von8uiQo von allen
Lebensbedürfnissen erhebt, so begreift man die geradezu unerhörte Preissteige¬
rung der wichtigsten Bedürfnisse.*)

Andre Schäden hängen mit den modernen Schicksalen Italiens zusammen.
Es hat in wichtigen Dingen die umgekehrte Stufenfolge der Entwicklungen
durchgemacht wie Deutschland. Bei uns ging das Werk der Bauernbefreiung
und der wirtschaftlichen Konsolidirung der Einheitsbewegung voraus, es war
schon von den meisten Einzelstaaten geleistet worden, ehe das Deutsche Reich
entstand. In Italien entstand der Nationalstaat, ehe eine den modernen Forde¬
rungen angepaßte wirtschaftliche Gesundung auch nnr begonnen hatte. In
Deutschland hat sich zum Heile des Volkes eine bundesstaatliche Ordnung sest-



Wenige Beispiele mögen genügen: ein Kilo Salz kostet in Italien 40 Centcsimi, ein
Liter Petroleum 86, ein Kilo Zucker 1 Lire 60 Centesimi, ein Kilo Brot vor den Unruhen
50 Centesimi und mehr! Diese Zahlen erhalten ihre Illustration erst durch die gezählten Löhne.
Em Fabrikarbeiter im ehemaligen Königreich Neapel verdient täglich etwa 1'/, Lire « 1 Mari
10 Pfennige, eine erwachsene Arbeiterin 66 Centesimi --^ Pfennige.
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[0419] Frühlingstage am Garigliano Versicherte, er und alle, die ihr Blut für das Vaterland vergossen hätten, seien samt und sonders um die Früchte ihrer Bemühungen, um die Erfüllung ihrer Hoffnungen betrogen worden. Er war kein Sozialdemokrat, sondern ein königs¬ treuer Mann, aber gegen das parlamentarische Regiment des Landes trug er einen so glühenden Haß in sich, daß er sich kaum bemeistern konnte. Wer bei uns zu Macht und Einfluß l>1 xotsrs) gekommen ist, so lautete seine Rede, der bereichert sich die eignen Taschen und zehrt mit den andern am Marke des Volks. Ist das wahr, so fragt man, wo liegen die Wurzeln dieser Zu¬ stände? Sie liegen zum Teil in uraltem Herkommen, zum Teil in den neuern Politischen Entwicklungen. Uralt sind die bösen agrarischen Verhältnisse des Landes, sie gehen bis in die Römerzeit zurück. Die Bauern sind in Italien zum allergrößten Teil nicht Eigentümer des Bodens, sondern nur Pächter, und zwar teilweise recht schlecht gestellte, die bis zur Hälfte des Ertrags an die Grundherren abgeben müssen. Die Grundherren aber stehen zumeist zu den Bauern in gar keinem persönlichen Verhältnisse, sondern leben auf hohem Fuße in Rom oder Neapel, spielen in Monaco oder amüsiren sich in Paris und London. Es sind ähn¬ liche Verhältnisse, wie sie in Frankreich vor der großen Revolution bestanden, und schon haben sich diese gedrückten Zinsbauern in Sizilien, aber auch in der Lombardei mit Gewalt gegen die bestehende Ordnung erhoben, oder sie sind zu Tausenden ausgewandert. Uralt ist auch die Vorliebe der Romanen für indirekte Steuern, ihre Abneigung gegen eine direkte Einkommen- und Ver¬ mögenssteuer. Zwar giebt es eine solche, aber sie war 1894/95 nur mit 234 Millionen Lire veranschlagt, während die indirekten Steuern gegen 500 Millionen einbrachten. Rechnet man dazu die indirekten Gemeindesteuern, die selbst der kleinste Ort unter dem verhaßten Titel ä^lo von8uiQo von allen Lebensbedürfnissen erhebt, so begreift man die geradezu unerhörte Preissteige¬ rung der wichtigsten Bedürfnisse.*) Andre Schäden hängen mit den modernen Schicksalen Italiens zusammen. Es hat in wichtigen Dingen die umgekehrte Stufenfolge der Entwicklungen durchgemacht wie Deutschland. Bei uns ging das Werk der Bauernbefreiung und der wirtschaftlichen Konsolidirung der Einheitsbewegung voraus, es war schon von den meisten Einzelstaaten geleistet worden, ehe das Deutsche Reich entstand. In Italien entstand der Nationalstaat, ehe eine den modernen Forde¬ rungen angepaßte wirtschaftliche Gesundung auch nnr begonnen hatte. In Deutschland hat sich zum Heile des Volkes eine bundesstaatliche Ordnung sest- Wenige Beispiele mögen genügen: ein Kilo Salz kostet in Italien 40 Centcsimi, ein Liter Petroleum 86, ein Kilo Zucker 1 Lire 60 Centesimi, ein Kilo Brot vor den Unruhen 50 Centesimi und mehr! Diese Zahlen erhalten ihre Illustration erst durch die gezählten Löhne. Em Fabrikarbeiter im ehemaligen Königreich Neapel verdient täglich etwa 1'/, Lire « 1 Mari 10 Pfennige, eine erwachsene Arbeiterin 66 Centesimi --^ Pfennige.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/419>, abgerufen am 28.07.2024.