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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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volkskonzerte

zeitgemäßen und erfreulichen Musikbewegung zu vermissen: eine Erörterung der
Grundfragen, von denen das Gedeihen des Vorhabens abhängt, eine Klärung
der Formen, in die es geleitet werden muß, wenn es den beabsichtigten guten
Zweck erreichen soll. Hierzu wollen die nachfolgenden Zeilen bescheidentlich
anregen.

Man hofft mit diesen Volkskonzerten wieder ein Stück der sozialen Kluft
ausgleichen zu können, und zwar das Stück, von dem her der Wohlfahrt und
dem Frieden die meiste Gefahr droht. Sind doch die Kenner darüber einig,
daß die bessern Elemente unter den wenig bemittelten Klassen den Unterschied
im irdischen Besitz viel leichter tragen, als den Ausschluß von wichtigen
geistigen Gütern und von der höhern Bildung. Ein Volk, eine Sprache, eine
Religion, ein Recht, und, wenn Gemeinsamkeit des Anschauens und Empfindens
bleiben soll, auch eine Kunst! Dieser Ansicht folgend hat man die Museen,
Galerien und Sammlungen frei gegeben, hat in den größern Theatern billige
Klassikervorstellungen eingeführt. Folgerichtig soll nun auch die Musik dran¬
kommen, es soll auch hier für Hoch und Niedrig nur einerlei Kunst geben.
Scheinbar ist diese Einheit leicht zu haben: man macht die Sinfonie- und
Oratorienaufführungen, die vorwiegend nur von den obern Klassen besucht
wurden, in einer oder der andern Form zu allgemeinen Volkseinrichtungen, wie
Schule. Heer und Kirche. Die teuern Virtuosen werden mit dreingegeben.
Das sind also die Volkskonzerte, wie man sie sich jetzt denkt: eine billige Aus¬
gabe der Abonnementskonzerte unsrer Musikvereine.

Mit vollem Recht darf zunächst einmal gefragt werden, ob es nicht
vielleicht wichtigere und nützlichere Dinge für das Volk giebt, als solche
Konzerte? Gewiß; da wären z. B. die Volksbibliotheken, die England schon
so lange, so stattlich und so zahlreich hat. Indes, wenn unsre Volksfreunde
die Musik voranstellen, so ist das gut deutsch gedacht und gehandelt. Denn
wir sind zwar von allen großen abendländischen Kulturvölkern um spätesten
zur Tonkunst gekommen, aber sie ist uns dann auch mehr geworden und ge¬
wesen, als irgend einem andern, selbst die Italiener nicht ausgenommen.

Viel wichtiger ist die Frage, ob diese Volkskonzerte, so wie sie bis jetzt
geplant werden, den Kreisen, für die sie bestimmt sind, den erwarteten Nutzen
bringen können? Diese Frage muß verneint werden.

Der Gegensatz zwischen Volksmusik und Kunstmusik ist uralt, ist eine
natürliche notwendige Erscheinung. Das Volk braucht eine Musik mit charakter¬
voller, aber einfachen Melodien, mit knappen, jedenfalls mit bequem übersicht¬
lichen Formen; es braucht Töne in einem Körper, der sich dem Gedächtnis
leicht einprägt. Der Künstler kann sich durch solche Rücksichten nicht fesseln
lassen, er schreitet vom Geist der Zeit, von der Macht der eignen Indivi¬
dualität, vom öde^de-i? getrieben hinaus über den Jdeenvorrat und über die
Formen der Volkskunst, versucht frei und original neue, größere, reichere und


volkskonzerte

zeitgemäßen und erfreulichen Musikbewegung zu vermissen: eine Erörterung der
Grundfragen, von denen das Gedeihen des Vorhabens abhängt, eine Klärung
der Formen, in die es geleitet werden muß, wenn es den beabsichtigten guten
Zweck erreichen soll. Hierzu wollen die nachfolgenden Zeilen bescheidentlich
anregen.

Man hofft mit diesen Volkskonzerten wieder ein Stück der sozialen Kluft
ausgleichen zu können, und zwar das Stück, von dem her der Wohlfahrt und
dem Frieden die meiste Gefahr droht. Sind doch die Kenner darüber einig,
daß die bessern Elemente unter den wenig bemittelten Klassen den Unterschied
im irdischen Besitz viel leichter tragen, als den Ausschluß von wichtigen
geistigen Gütern und von der höhern Bildung. Ein Volk, eine Sprache, eine
Religion, ein Recht, und, wenn Gemeinsamkeit des Anschauens und Empfindens
bleiben soll, auch eine Kunst! Dieser Ansicht folgend hat man die Museen,
Galerien und Sammlungen frei gegeben, hat in den größern Theatern billige
Klassikervorstellungen eingeführt. Folgerichtig soll nun auch die Musik dran¬
kommen, es soll auch hier für Hoch und Niedrig nur einerlei Kunst geben.
Scheinbar ist diese Einheit leicht zu haben: man macht die Sinfonie- und
Oratorienaufführungen, die vorwiegend nur von den obern Klassen besucht
wurden, in einer oder der andern Form zu allgemeinen Volkseinrichtungen, wie
Schule. Heer und Kirche. Die teuern Virtuosen werden mit dreingegeben.
Das sind also die Volkskonzerte, wie man sie sich jetzt denkt: eine billige Aus¬
gabe der Abonnementskonzerte unsrer Musikvereine.

Mit vollem Recht darf zunächst einmal gefragt werden, ob es nicht
vielleicht wichtigere und nützlichere Dinge für das Volk giebt, als solche
Konzerte? Gewiß; da wären z. B. die Volksbibliotheken, die England schon
so lange, so stattlich und so zahlreich hat. Indes, wenn unsre Volksfreunde
die Musik voranstellen, so ist das gut deutsch gedacht und gehandelt. Denn
wir sind zwar von allen großen abendländischen Kulturvölkern um spätesten
zur Tonkunst gekommen, aber sie ist uns dann auch mehr geworden und ge¬
wesen, als irgend einem andern, selbst die Italiener nicht ausgenommen.

Viel wichtiger ist die Frage, ob diese Volkskonzerte, so wie sie bis jetzt
geplant werden, den Kreisen, für die sie bestimmt sind, den erwarteten Nutzen
bringen können? Diese Frage muß verneint werden.

Der Gegensatz zwischen Volksmusik und Kunstmusik ist uralt, ist eine
natürliche notwendige Erscheinung. Das Volk braucht eine Musik mit charakter¬
voller, aber einfachen Melodien, mit knappen, jedenfalls mit bequem übersicht¬
lichen Formen; es braucht Töne in einem Körper, der sich dem Gedächtnis
leicht einprägt. Der Künstler kann sich durch solche Rücksichten nicht fesseln
lassen, er schreitet vom Geist der Zeit, von der Macht der eignen Indivi¬
dualität, vom öde^de-i? getrieben hinaus über den Jdeenvorrat und über die
Formen der Volkskunst, versucht frei und original neue, größere, reichere und


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[0039] volkskonzerte zeitgemäßen und erfreulichen Musikbewegung zu vermissen: eine Erörterung der Grundfragen, von denen das Gedeihen des Vorhabens abhängt, eine Klärung der Formen, in die es geleitet werden muß, wenn es den beabsichtigten guten Zweck erreichen soll. Hierzu wollen die nachfolgenden Zeilen bescheidentlich anregen. Man hofft mit diesen Volkskonzerten wieder ein Stück der sozialen Kluft ausgleichen zu können, und zwar das Stück, von dem her der Wohlfahrt und dem Frieden die meiste Gefahr droht. Sind doch die Kenner darüber einig, daß die bessern Elemente unter den wenig bemittelten Klassen den Unterschied im irdischen Besitz viel leichter tragen, als den Ausschluß von wichtigen geistigen Gütern und von der höhern Bildung. Ein Volk, eine Sprache, eine Religion, ein Recht, und, wenn Gemeinsamkeit des Anschauens und Empfindens bleiben soll, auch eine Kunst! Dieser Ansicht folgend hat man die Museen, Galerien und Sammlungen frei gegeben, hat in den größern Theatern billige Klassikervorstellungen eingeführt. Folgerichtig soll nun auch die Musik dran¬ kommen, es soll auch hier für Hoch und Niedrig nur einerlei Kunst geben. Scheinbar ist diese Einheit leicht zu haben: man macht die Sinfonie- und Oratorienaufführungen, die vorwiegend nur von den obern Klassen besucht wurden, in einer oder der andern Form zu allgemeinen Volkseinrichtungen, wie Schule. Heer und Kirche. Die teuern Virtuosen werden mit dreingegeben. Das sind also die Volkskonzerte, wie man sie sich jetzt denkt: eine billige Aus¬ gabe der Abonnementskonzerte unsrer Musikvereine. Mit vollem Recht darf zunächst einmal gefragt werden, ob es nicht vielleicht wichtigere und nützlichere Dinge für das Volk giebt, als solche Konzerte? Gewiß; da wären z. B. die Volksbibliotheken, die England schon so lange, so stattlich und so zahlreich hat. Indes, wenn unsre Volksfreunde die Musik voranstellen, so ist das gut deutsch gedacht und gehandelt. Denn wir sind zwar von allen großen abendländischen Kulturvölkern um spätesten zur Tonkunst gekommen, aber sie ist uns dann auch mehr geworden und ge¬ wesen, als irgend einem andern, selbst die Italiener nicht ausgenommen. Viel wichtiger ist die Frage, ob diese Volkskonzerte, so wie sie bis jetzt geplant werden, den Kreisen, für die sie bestimmt sind, den erwarteten Nutzen bringen können? Diese Frage muß verneint werden. Der Gegensatz zwischen Volksmusik und Kunstmusik ist uralt, ist eine natürliche notwendige Erscheinung. Das Volk braucht eine Musik mit charakter¬ voller, aber einfachen Melodien, mit knappen, jedenfalls mit bequem übersicht¬ lichen Formen; es braucht Töne in einem Körper, der sich dem Gedächtnis leicht einprägt. Der Künstler kann sich durch solche Rücksichten nicht fesseln lassen, er schreitet vom Geist der Zeit, von der Macht der eignen Indivi¬ dualität, vom öde^de-i? getrieben hinaus über den Jdeenvorrat und über die Formen der Volkskunst, versucht frei und original neue, größere, reichere und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/39>, abgerufen am 01.09.2024.