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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

und wie das durchgeführt werden soll, was er etwa wollen könnte. Es sei
notwendig, "die Konzession zu machen," um der Freiheit willen. Wir kämen
gar nicht darum herum; der Arbeiterstand habe einmal soviel Selbstbewußtsein
bekommen, er wolle seine Interessen vertreten, und wir könnten in einem freien
Staat mit allgemeinem Stimmrecht ihm das nicht vorenthalten, sonst suche er
seine politische Vertretung in der Sozialdemokratie. Solchen Gedankensprüngen
kritisch folgen zu wollen, ist Verlorne Mühe. Unvernünftige Forderungen der
Sozialisten und Sozialdemokraten werden dadurch nicht vernünftig, daß eine
große Zahl "selbstbewußter" Arbeiter in den Irrtum versetzt ist, damit ihre
Interessen zu vertreten. Die jüngste Zeit hat gelehrt, daß auch in den euro¬
päischen Kulturstaaten die Arbeiter durch Agitationen noch leicht zu offnem
Aufruhr veranlaßt werden können, und wie dringend nötig eben deshalb eine
sorgsame Aufsicht des Staats gerade über Arbeiterorganisationen ist. Es kann
in der Gegenwart gar nichts unverständigeres geben, als das Recht und die
Pflicht des Staats zur Aufsicht über diese Organisationen zu bestreiten, wie
Tischendörfer das thut. Daß Fehler, grobe Fehler und Mißbräuche bei der
Ausübung der Aufsicht vorkommen, berechtigt ebensowenig zur Bekämpfung
dieses Rechts selbst, wie die Mißbräuche des Koalitionsrechts zu dessen Be¬
kämpfung. Das Koalitionsrecht besteht, und es ist vielleicht unbedenklich, daß
es durch Verallgemeinerung der Rechtsfähigkeit und Aufhebung des Ver¬
bindungsverbots ergänzt wird. Praktischen Wert haben diese Reformen aber
nur in bescheidnen Maße. Die Verhandlungen des Evangelisch-sozialen Kon¬
gresses haben das durch ihren ganzen Verlauf unzweideutig bestätigt- Sie
sind jedenfalls ein kalter Wasserstrahl für die sozialistische Koalitionsschwärmerei
geworden, dessen heilsame Wirkungen hoffentlich nicht ausbleiben werden.

Die zweite Forderung Stiedas, die Einführung von Arbeiterkammern, ist
von ihm selbst als sür die Gegenwart nicht passend anerkannt und vom
Kongreß, dessen Resolutionslust sonst nichts zu wünschen übrig ließ, nicht
angenommen worden. Sie kennzeichnet besonders den rein theoretischen,
formalen Standpunkt des Vortrags, der an sich seine Berechtigung hat, aber
für die praktische Sozialpolitik der Gegenwart nur wenig fruchtbar sein konnte.

Evangelisch-soziale Zwecke sind dadurch ersichtlich nicht gefördert, sind
dabei nicht einmal berührt worden. Auf sie unmittelbar einzugehen, ist der
Vorzug des dritten Verhandlungsgegenstands, der im folgenden besprochen
werden soll.

(Schluß folgt)




Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

und wie das durchgeführt werden soll, was er etwa wollen könnte. Es sei
notwendig, „die Konzession zu machen," um der Freiheit willen. Wir kämen
gar nicht darum herum; der Arbeiterstand habe einmal soviel Selbstbewußtsein
bekommen, er wolle seine Interessen vertreten, und wir könnten in einem freien
Staat mit allgemeinem Stimmrecht ihm das nicht vorenthalten, sonst suche er
seine politische Vertretung in der Sozialdemokratie. Solchen Gedankensprüngen
kritisch folgen zu wollen, ist Verlorne Mühe. Unvernünftige Forderungen der
Sozialisten und Sozialdemokraten werden dadurch nicht vernünftig, daß eine
große Zahl „selbstbewußter" Arbeiter in den Irrtum versetzt ist, damit ihre
Interessen zu vertreten. Die jüngste Zeit hat gelehrt, daß auch in den euro¬
päischen Kulturstaaten die Arbeiter durch Agitationen noch leicht zu offnem
Aufruhr veranlaßt werden können, und wie dringend nötig eben deshalb eine
sorgsame Aufsicht des Staats gerade über Arbeiterorganisationen ist. Es kann
in der Gegenwart gar nichts unverständigeres geben, als das Recht und die
Pflicht des Staats zur Aufsicht über diese Organisationen zu bestreiten, wie
Tischendörfer das thut. Daß Fehler, grobe Fehler und Mißbräuche bei der
Ausübung der Aufsicht vorkommen, berechtigt ebensowenig zur Bekämpfung
dieses Rechts selbst, wie die Mißbräuche des Koalitionsrechts zu dessen Be¬
kämpfung. Das Koalitionsrecht besteht, und es ist vielleicht unbedenklich, daß
es durch Verallgemeinerung der Rechtsfähigkeit und Aufhebung des Ver¬
bindungsverbots ergänzt wird. Praktischen Wert haben diese Reformen aber
nur in bescheidnen Maße. Die Verhandlungen des Evangelisch-sozialen Kon¬
gresses haben das durch ihren ganzen Verlauf unzweideutig bestätigt- Sie
sind jedenfalls ein kalter Wasserstrahl für die sozialistische Koalitionsschwärmerei
geworden, dessen heilsame Wirkungen hoffentlich nicht ausbleiben werden.

Die zweite Forderung Stiedas, die Einführung von Arbeiterkammern, ist
von ihm selbst als sür die Gegenwart nicht passend anerkannt und vom
Kongreß, dessen Resolutionslust sonst nichts zu wünschen übrig ließ, nicht
angenommen worden. Sie kennzeichnet besonders den rein theoretischen,
formalen Standpunkt des Vortrags, der an sich seine Berechtigung hat, aber
für die praktische Sozialpolitik der Gegenwart nur wenig fruchtbar sein konnte.

Evangelisch-soziale Zwecke sind dadurch ersichtlich nicht gefördert, sind
dabei nicht einmal berührt worden. Auf sie unmittelbar einzugehen, ist der
Vorzug des dritten Verhandlungsgegenstands, der im folgenden besprochen
werden soll.

(Schluß folgt)




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[0304] Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses und wie das durchgeführt werden soll, was er etwa wollen könnte. Es sei notwendig, „die Konzession zu machen," um der Freiheit willen. Wir kämen gar nicht darum herum; der Arbeiterstand habe einmal soviel Selbstbewußtsein bekommen, er wolle seine Interessen vertreten, und wir könnten in einem freien Staat mit allgemeinem Stimmrecht ihm das nicht vorenthalten, sonst suche er seine politische Vertretung in der Sozialdemokratie. Solchen Gedankensprüngen kritisch folgen zu wollen, ist Verlorne Mühe. Unvernünftige Forderungen der Sozialisten und Sozialdemokraten werden dadurch nicht vernünftig, daß eine große Zahl „selbstbewußter" Arbeiter in den Irrtum versetzt ist, damit ihre Interessen zu vertreten. Die jüngste Zeit hat gelehrt, daß auch in den euro¬ päischen Kulturstaaten die Arbeiter durch Agitationen noch leicht zu offnem Aufruhr veranlaßt werden können, und wie dringend nötig eben deshalb eine sorgsame Aufsicht des Staats gerade über Arbeiterorganisationen ist. Es kann in der Gegenwart gar nichts unverständigeres geben, als das Recht und die Pflicht des Staats zur Aufsicht über diese Organisationen zu bestreiten, wie Tischendörfer das thut. Daß Fehler, grobe Fehler und Mißbräuche bei der Ausübung der Aufsicht vorkommen, berechtigt ebensowenig zur Bekämpfung dieses Rechts selbst, wie die Mißbräuche des Koalitionsrechts zu dessen Be¬ kämpfung. Das Koalitionsrecht besteht, und es ist vielleicht unbedenklich, daß es durch Verallgemeinerung der Rechtsfähigkeit und Aufhebung des Ver¬ bindungsverbots ergänzt wird. Praktischen Wert haben diese Reformen aber nur in bescheidnen Maße. Die Verhandlungen des Evangelisch-sozialen Kon¬ gresses haben das durch ihren ganzen Verlauf unzweideutig bestätigt- Sie sind jedenfalls ein kalter Wasserstrahl für die sozialistische Koalitionsschwärmerei geworden, dessen heilsame Wirkungen hoffentlich nicht ausbleiben werden. Die zweite Forderung Stiedas, die Einführung von Arbeiterkammern, ist von ihm selbst als sür die Gegenwart nicht passend anerkannt und vom Kongreß, dessen Resolutionslust sonst nichts zu wünschen übrig ließ, nicht angenommen worden. Sie kennzeichnet besonders den rein theoretischen, formalen Standpunkt des Vortrags, der an sich seine Berechtigung hat, aber für die praktische Sozialpolitik der Gegenwart nur wenig fruchtbar sein konnte. Evangelisch-soziale Zwecke sind dadurch ersichtlich nicht gefördert, sind dabei nicht einmal berührt worden. Auf sie unmittelbar einzugehen, ist der Vorzug des dritten Verhandlungsgegenstands, der im folgenden besprochen werden soll. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/304>, abgerufen am 27.07.2024.