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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

durch Nichtanstellung oder auf dem Wege ordnungsmäßiger Kündigung von
ihren Anlagen aus. Sie thäten dies, weil sie eben wüßten, daß die Regierungen
die Arbeitervereine auch nicht gern sähen und sich mit den Unternehmern zu¬
sammen vor der Bethätigung ihrer Wirksamkeit fürchteten. Die Arbeiter nun
seien durch dieses Vorgehen aufs äußerste betroffen. Sie könnten nicht ver¬
stehen, daß man ihnen die Koalitionsfreiheit zugestehe und doch die Verhin¬
derung, sie zu benutzen, zulasse. Sie fingen an, zu glauben, daß der Staat
unfähig sei, sie zu schützen.

Daß auch dieser Glaube in den Arbeitern durch die Agitation vielfach
wachgerufen werden kann, ist nicht zu bezweifeln. Aber auch er wäre irrig
und unberechtigt, und die Gründe, durch die man ihn den Leuten bei¬
brachte, wären hinfällig. Die Verleihung der Rechtsfähigkeit an alle Vereine
ohne Unterschied hat damit nichts zu thun und würde nichts helfen. Man
müßte festsetzen, daß kein Unternehmer einen Arbeiter deshalb entlassen
oder abweisen dürfte, weil er einem Arbeiterverein angehöre. Stieda sagt
natürlich nicht, daß er ein solches Gesetz wolle oder auch nur für möglich
halte; aber was will er sonst für eins? In solchen Fragen ist es doch sehr
wünschenswert, daß man ganz genau darlegt, was man praktisch angeordnet
wissen will, und wie man sich die Durchführung vorstellt. Eine ganz un¬
abweisbare Notwendigkeit aber ist es, daß man, solange das Lohnsystem, ja
überhaupt das private Unternehmertum zu Recht besteht, und man seine Be¬
seitigung nicht als nahes, klar erkanntes Ziel der sozialpolitischen Gesetz¬
gebung zu bezeichnen geneigt ist, dein guten Recht und der thatsächlichen Lage
der Unternehmer auch voll Berücksichtigung widerfahren läßt. Mit den all¬
gemein hingestellten Sätzen, daß die nichtorganisirten Arbeiter den Unternehmern
heut beim Vertragsabschluß mit gebundnen Händen gegenüberstünden, und daß
bei den Unternehmern in der Lohnfrage jede Gutmütigkeit, d. h, doch wohl:
jede billige Rücksichtnahme aufhöre, vielmehr nur der Zwang sie zur Billigkeit
bringen könne, kann man es doch nicht entschuldigen, daß man die Arbeit-
geberinteresscn, die Unternehmeranschanungen und Unternehmerempfindungen
ganz beiseite läßt. Ich habe Fälle genug kennen gelernt, wo die Abweisung
oder Entlassung von Arbeitervereinsmitgliedern eine ebenso große Unbilligkeit
wie Dummheit war, aber noch viel zahlreichere Fälle, wo Arbeitervereine
systematisch das gute Einvernehmen zwischen Arbeitern und Unternehmern
zerstört, die wohlwollenden, menschlich denkenden Arbeitgeber aufs äußerste ver¬
bittert haben. Diese Leute haben eben auch Empfindungen, und daß unter
der Herrschaft des einseitigen Kathedersozialismus die agitirende Staatswissen¬
schaft so wenig Rücksicht darauf genommen hat, daß sie es sogar in der Regel
ablehnte, der Notwehr der Unternehmer gegen die verletzendsten und feind¬
seligsten Hetzereien der Sozialdemokratie unter ihren Arbeitern mit Hilfe der
Vereine irgend welche Berechtigung zuzuerkennen, das hat dem Gedeihen der
sozialen Reformen sehr schweren Schaden gethan.


Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses

durch Nichtanstellung oder auf dem Wege ordnungsmäßiger Kündigung von
ihren Anlagen aus. Sie thäten dies, weil sie eben wüßten, daß die Regierungen
die Arbeitervereine auch nicht gern sähen und sich mit den Unternehmern zu¬
sammen vor der Bethätigung ihrer Wirksamkeit fürchteten. Die Arbeiter nun
seien durch dieses Vorgehen aufs äußerste betroffen. Sie könnten nicht ver¬
stehen, daß man ihnen die Koalitionsfreiheit zugestehe und doch die Verhin¬
derung, sie zu benutzen, zulasse. Sie fingen an, zu glauben, daß der Staat
unfähig sei, sie zu schützen.

Daß auch dieser Glaube in den Arbeitern durch die Agitation vielfach
wachgerufen werden kann, ist nicht zu bezweifeln. Aber auch er wäre irrig
und unberechtigt, und die Gründe, durch die man ihn den Leuten bei¬
brachte, wären hinfällig. Die Verleihung der Rechtsfähigkeit an alle Vereine
ohne Unterschied hat damit nichts zu thun und würde nichts helfen. Man
müßte festsetzen, daß kein Unternehmer einen Arbeiter deshalb entlassen
oder abweisen dürfte, weil er einem Arbeiterverein angehöre. Stieda sagt
natürlich nicht, daß er ein solches Gesetz wolle oder auch nur für möglich
halte; aber was will er sonst für eins? In solchen Fragen ist es doch sehr
wünschenswert, daß man ganz genau darlegt, was man praktisch angeordnet
wissen will, und wie man sich die Durchführung vorstellt. Eine ganz un¬
abweisbare Notwendigkeit aber ist es, daß man, solange das Lohnsystem, ja
überhaupt das private Unternehmertum zu Recht besteht, und man seine Be¬
seitigung nicht als nahes, klar erkanntes Ziel der sozialpolitischen Gesetz¬
gebung zu bezeichnen geneigt ist, dein guten Recht und der thatsächlichen Lage
der Unternehmer auch voll Berücksichtigung widerfahren läßt. Mit den all¬
gemein hingestellten Sätzen, daß die nichtorganisirten Arbeiter den Unternehmern
heut beim Vertragsabschluß mit gebundnen Händen gegenüberstünden, und daß
bei den Unternehmern in der Lohnfrage jede Gutmütigkeit, d. h, doch wohl:
jede billige Rücksichtnahme aufhöre, vielmehr nur der Zwang sie zur Billigkeit
bringen könne, kann man es doch nicht entschuldigen, daß man die Arbeit-
geberinteresscn, die Unternehmeranschanungen und Unternehmerempfindungen
ganz beiseite läßt. Ich habe Fälle genug kennen gelernt, wo die Abweisung
oder Entlassung von Arbeitervereinsmitgliedern eine ebenso große Unbilligkeit
wie Dummheit war, aber noch viel zahlreichere Fälle, wo Arbeitervereine
systematisch das gute Einvernehmen zwischen Arbeitern und Unternehmern
zerstört, die wohlwollenden, menschlich denkenden Arbeitgeber aufs äußerste ver¬
bittert haben. Diese Leute haben eben auch Empfindungen, und daß unter
der Herrschaft des einseitigen Kathedersozialismus die agitirende Staatswissen¬
schaft so wenig Rücksicht darauf genommen hat, daß sie es sogar in der Regel
ablehnte, der Notwehr der Unternehmer gegen die verletzendsten und feind¬
seligsten Hetzereien der Sozialdemokratie unter ihren Arbeitern mit Hilfe der
Vereine irgend welche Berechtigung zuzuerkennen, das hat dem Gedeihen der
sozialen Reformen sehr schweren Schaden gethan.


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[0302] Die Verhandlungen des neunten Evangelisch-sozialen Kongresses durch Nichtanstellung oder auf dem Wege ordnungsmäßiger Kündigung von ihren Anlagen aus. Sie thäten dies, weil sie eben wüßten, daß die Regierungen die Arbeitervereine auch nicht gern sähen und sich mit den Unternehmern zu¬ sammen vor der Bethätigung ihrer Wirksamkeit fürchteten. Die Arbeiter nun seien durch dieses Vorgehen aufs äußerste betroffen. Sie könnten nicht ver¬ stehen, daß man ihnen die Koalitionsfreiheit zugestehe und doch die Verhin¬ derung, sie zu benutzen, zulasse. Sie fingen an, zu glauben, daß der Staat unfähig sei, sie zu schützen. Daß auch dieser Glaube in den Arbeitern durch die Agitation vielfach wachgerufen werden kann, ist nicht zu bezweifeln. Aber auch er wäre irrig und unberechtigt, und die Gründe, durch die man ihn den Leuten bei¬ brachte, wären hinfällig. Die Verleihung der Rechtsfähigkeit an alle Vereine ohne Unterschied hat damit nichts zu thun und würde nichts helfen. Man müßte festsetzen, daß kein Unternehmer einen Arbeiter deshalb entlassen oder abweisen dürfte, weil er einem Arbeiterverein angehöre. Stieda sagt natürlich nicht, daß er ein solches Gesetz wolle oder auch nur für möglich halte; aber was will er sonst für eins? In solchen Fragen ist es doch sehr wünschenswert, daß man ganz genau darlegt, was man praktisch angeordnet wissen will, und wie man sich die Durchführung vorstellt. Eine ganz un¬ abweisbare Notwendigkeit aber ist es, daß man, solange das Lohnsystem, ja überhaupt das private Unternehmertum zu Recht besteht, und man seine Be¬ seitigung nicht als nahes, klar erkanntes Ziel der sozialpolitischen Gesetz¬ gebung zu bezeichnen geneigt ist, dein guten Recht und der thatsächlichen Lage der Unternehmer auch voll Berücksichtigung widerfahren läßt. Mit den all¬ gemein hingestellten Sätzen, daß die nichtorganisirten Arbeiter den Unternehmern heut beim Vertragsabschluß mit gebundnen Händen gegenüberstünden, und daß bei den Unternehmern in der Lohnfrage jede Gutmütigkeit, d. h, doch wohl: jede billige Rücksichtnahme aufhöre, vielmehr nur der Zwang sie zur Billigkeit bringen könne, kann man es doch nicht entschuldigen, daß man die Arbeit- geberinteresscn, die Unternehmeranschanungen und Unternehmerempfindungen ganz beiseite läßt. Ich habe Fälle genug kennen gelernt, wo die Abweisung oder Entlassung von Arbeitervereinsmitgliedern eine ebenso große Unbilligkeit wie Dummheit war, aber noch viel zahlreichere Fälle, wo Arbeitervereine systematisch das gute Einvernehmen zwischen Arbeitern und Unternehmern zerstört, die wohlwollenden, menschlich denkenden Arbeitgeber aufs äußerste ver¬ bittert haben. Diese Leute haben eben auch Empfindungen, und daß unter der Herrschaft des einseitigen Kathedersozialismus die agitirende Staatswissen¬ schaft so wenig Rücksicht darauf genommen hat, daß sie es sogar in der Regel ablehnte, der Notwehr der Unternehmer gegen die verletzendsten und feind¬ seligsten Hetzereien der Sozialdemokratie unter ihren Arbeitern mit Hilfe der Vereine irgend welche Berechtigung zuzuerkennen, das hat dem Gedeihen der sozialen Reformen sehr schweren Schaden gethan.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/302>, abgerufen am 28.07.2024.