Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.Friedrich Nietzsche ander unter anderen ein manichäischer Abscheu vor dem Geschlechtsleben und *) Der Bauernstand der österreichischen Alpenländer und mancher Gegenden Deutschlands
beruht darauf, weil es ohne solches Zulassen kein Gesinde geben könnte. Auch der ^ulus ^.Kgiiug der Preußischen Jahrbücher hat diese Ungeheuerlichkeit der Rechtsprechung gegeißelt und hervor¬ gehoben, wie sich die Richter lange Zeit dagegen gesträubt haben; feste Grundsätze für die Be¬ urteilung der Sittlichkcitsvcrgehen stellt er jedoch nicht auf. Friedrich Nietzsche ander unter anderen ein manichäischer Abscheu vor dem Geschlechtsleben und *) Der Bauernstand der österreichischen Alpenländer und mancher Gegenden Deutschlands
beruht darauf, weil es ohne solches Zulassen kein Gesinde geben könnte. Auch der ^ulus ^.Kgiiug der Preußischen Jahrbücher hat diese Ungeheuerlichkeit der Rechtsprechung gegeißelt und hervor¬ gehoben, wie sich die Richter lange Zeit dagegen gesträubt haben; feste Grundsätze für die Be¬ urteilung der Sittlichkcitsvcrgehen stellt er jedoch nicht auf. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0230" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228532"/> <fw type="header" place="top"> Friedrich Nietzsche</fw><lb/> <p xml:id="ID_831" prev="#ID_830" next="#ID_832"> ander unter anderen ein manichäischer Abscheu vor dem Geschlechtsleben und<lb/> völlige Gewissenlosigkeit gegenüberstehen, und was vielleicht das schlimmste ist,<lb/> daß es den meisten der Menschen, die Glaubensmeinungen und Grundsätze<lb/> aussprechen, mit ihren Glaubensmeinungen und Grundsätzen gar nicht ernst<lb/> ist. Namentlich ist der einfache, klare Grundsatz der antiken Moral verloren<lb/> gegangen, daß, wo beim Geschlechtsverkehr Böses vorkommt, das Böse nicht<lb/> im Natürlichen liegt, sondern, wie bei der Befriedigung der übrigen leiblichen<lb/> Bedürfnisse, in den Schädigungen der eignen Person oder des Nächsten und<lb/> in den Rechtsverletzungen, die damit verbunden sind. Und so ist man denn<lb/> bei jener Verwirrung der Strafrechtspflege angelangt, die ich schon einmal<lb/> geschildert habe, und die soweit geht, daß grobe Verbrechen, die von den edlern<lb/> Heidenvölkern mit dem Tode bestraft worden sind, bei uns ganz unbestraft<lb/> bleiben, daß andre noch gröbere Verbrechen, z. B. das Mißbräuchen von<lb/> Kindern, viel zu mild gestraft werden (aus einem Berliner Blatt, der Frauen¬<lb/> korrespondenz, erfährt man, daß sogar eine beträchtliche Anzahl dieser Verbrechen<lb/> grundsätzlich unbestraft bleibt), während eine bloße Unterlassung, an der bis<lb/> vor zwanzig Jahren kein Richter in der ganzen Welt den Thatbestand eines<lb/> Verbrechens gefunden hätte, mit Zuchthaus bestraft wird, eine Unterlassung,<lb/> von der die Richter recht gut wissen, daß sie auf dem Lande hunderttausendfach<lb/> vorkommt/") Die Gesetzgeber zeigen diesem Wirrwar gegenüber das Bild kläg¬<lb/> lichster Ratlosigkeit. Die Frommen oder sich fromm geberdenden unter ihnen<lb/> stellen den Grundsatz auf, der Staat habe die „Sünde" zu verhüten und zu<lb/> bestrafen. (Wenn das wahr wäre, dann müßte das ganze Reich ein einziges<lb/> Zuchthaus sein, für das man die Aufseher aus dem Himmel zu bestellen hätte,<lb/> da wir Menschen ja allzumal Sünder sind.) Die andern wollen das nicht<lb/> zugeben, aber was sie eigentlich wollen, das wissen sie selbst nicht, feste Grund¬<lb/> sätze haben sie entweder nicht oder wagen sie nicht auszusprechen. Und dieser<lb/> Verwirrung der Behörden entspricht die Verwirrung der Gewissen. Während<lb/> von den einen das abscheulichste, was im heidnischen Griechenland gar nicht<lb/> möglich gewesen wäre, begangen wird ohne eine Spur von Gewissensbissen,<lb/> werden edle Jünglinge von Gewissensbissen geplagt aus keinem andern Grunde,<lb/> als weil sie merken, daß sie Männer werden. Und die gute Polizei konfiszirt<lb/> im Schaufenster ein Bildchen, dessen Original hart daneben riesengroß auf der<lb/> Schloßbrücke steht; heute gestattet diese selbe Polizei die Eröffnung eines Or-<lb/> pheums, in dem es zugeht, wie es an keinem altgriechischen Vergnügungsort<lb/> zugegangen ist, und morgen verbietet sie ein harmloses Theaterstück. Also die</p><lb/> <note xml:id="FID_45" place="foot"> *) Der Bauernstand der österreichischen Alpenländer und mancher Gegenden Deutschlands<lb/> beruht darauf, weil es ohne solches Zulassen kein Gesinde geben könnte. Auch der ^ulus ^.Kgiiug<lb/> der Preußischen Jahrbücher hat diese Ungeheuerlichkeit der Rechtsprechung gegeißelt und hervor¬<lb/> gehoben, wie sich die Richter lange Zeit dagegen gesträubt haben; feste Grundsätze für die Be¬<lb/> urteilung der Sittlichkcitsvcrgehen stellt er jedoch nicht auf.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0230]
Friedrich Nietzsche
ander unter anderen ein manichäischer Abscheu vor dem Geschlechtsleben und
völlige Gewissenlosigkeit gegenüberstehen, und was vielleicht das schlimmste ist,
daß es den meisten der Menschen, die Glaubensmeinungen und Grundsätze
aussprechen, mit ihren Glaubensmeinungen und Grundsätzen gar nicht ernst
ist. Namentlich ist der einfache, klare Grundsatz der antiken Moral verloren
gegangen, daß, wo beim Geschlechtsverkehr Böses vorkommt, das Böse nicht
im Natürlichen liegt, sondern, wie bei der Befriedigung der übrigen leiblichen
Bedürfnisse, in den Schädigungen der eignen Person oder des Nächsten und
in den Rechtsverletzungen, die damit verbunden sind. Und so ist man denn
bei jener Verwirrung der Strafrechtspflege angelangt, die ich schon einmal
geschildert habe, und die soweit geht, daß grobe Verbrechen, die von den edlern
Heidenvölkern mit dem Tode bestraft worden sind, bei uns ganz unbestraft
bleiben, daß andre noch gröbere Verbrechen, z. B. das Mißbräuchen von
Kindern, viel zu mild gestraft werden (aus einem Berliner Blatt, der Frauen¬
korrespondenz, erfährt man, daß sogar eine beträchtliche Anzahl dieser Verbrechen
grundsätzlich unbestraft bleibt), während eine bloße Unterlassung, an der bis
vor zwanzig Jahren kein Richter in der ganzen Welt den Thatbestand eines
Verbrechens gefunden hätte, mit Zuchthaus bestraft wird, eine Unterlassung,
von der die Richter recht gut wissen, daß sie auf dem Lande hunderttausendfach
vorkommt/") Die Gesetzgeber zeigen diesem Wirrwar gegenüber das Bild kläg¬
lichster Ratlosigkeit. Die Frommen oder sich fromm geberdenden unter ihnen
stellen den Grundsatz auf, der Staat habe die „Sünde" zu verhüten und zu
bestrafen. (Wenn das wahr wäre, dann müßte das ganze Reich ein einziges
Zuchthaus sein, für das man die Aufseher aus dem Himmel zu bestellen hätte,
da wir Menschen ja allzumal Sünder sind.) Die andern wollen das nicht
zugeben, aber was sie eigentlich wollen, das wissen sie selbst nicht, feste Grund¬
sätze haben sie entweder nicht oder wagen sie nicht auszusprechen. Und dieser
Verwirrung der Behörden entspricht die Verwirrung der Gewissen. Während
von den einen das abscheulichste, was im heidnischen Griechenland gar nicht
möglich gewesen wäre, begangen wird ohne eine Spur von Gewissensbissen,
werden edle Jünglinge von Gewissensbissen geplagt aus keinem andern Grunde,
als weil sie merken, daß sie Männer werden. Und die gute Polizei konfiszirt
im Schaufenster ein Bildchen, dessen Original hart daneben riesengroß auf der
Schloßbrücke steht; heute gestattet diese selbe Polizei die Eröffnung eines Or-
pheums, in dem es zugeht, wie es an keinem altgriechischen Vergnügungsort
zugegangen ist, und morgen verbietet sie ein harmloses Theaterstück. Also die
*) Der Bauernstand der österreichischen Alpenländer und mancher Gegenden Deutschlands
beruht darauf, weil es ohne solches Zulassen kein Gesinde geben könnte. Auch der ^ulus ^.Kgiiug
der Preußischen Jahrbücher hat diese Ungeheuerlichkeit der Rechtsprechung gegeißelt und hervor¬
gehoben, wie sich die Richter lange Zeit dagegen gesträubt haben; feste Grundsätze für die Be¬
urteilung der Sittlichkcitsvcrgehen stellt er jedoch nicht auf.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |