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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

ander unter anderen ein manichäischer Abscheu vor dem Geschlechtsleben und
völlige Gewissenlosigkeit gegenüberstehen, und was vielleicht das schlimmste ist,
daß es den meisten der Menschen, die Glaubensmeinungen und Grundsätze
aussprechen, mit ihren Glaubensmeinungen und Grundsätzen gar nicht ernst
ist. Namentlich ist der einfache, klare Grundsatz der antiken Moral verloren
gegangen, daß, wo beim Geschlechtsverkehr Böses vorkommt, das Böse nicht
im Natürlichen liegt, sondern, wie bei der Befriedigung der übrigen leiblichen
Bedürfnisse, in den Schädigungen der eignen Person oder des Nächsten und
in den Rechtsverletzungen, die damit verbunden sind. Und so ist man denn
bei jener Verwirrung der Strafrechtspflege angelangt, die ich schon einmal
geschildert habe, und die soweit geht, daß grobe Verbrechen, die von den edlern
Heidenvölkern mit dem Tode bestraft worden sind, bei uns ganz unbestraft
bleiben, daß andre noch gröbere Verbrechen, z. B. das Mißbräuchen von
Kindern, viel zu mild gestraft werden (aus einem Berliner Blatt, der Frauen¬
korrespondenz, erfährt man, daß sogar eine beträchtliche Anzahl dieser Verbrechen
grundsätzlich unbestraft bleibt), während eine bloße Unterlassung, an der bis
vor zwanzig Jahren kein Richter in der ganzen Welt den Thatbestand eines
Verbrechens gefunden hätte, mit Zuchthaus bestraft wird, eine Unterlassung,
von der die Richter recht gut wissen, daß sie auf dem Lande hunderttausendfach
vorkommt/") Die Gesetzgeber zeigen diesem Wirrwar gegenüber das Bild kläg¬
lichster Ratlosigkeit. Die Frommen oder sich fromm geberdenden unter ihnen
stellen den Grundsatz auf, der Staat habe die "Sünde" zu verhüten und zu
bestrafen. (Wenn das wahr wäre, dann müßte das ganze Reich ein einziges
Zuchthaus sein, für das man die Aufseher aus dem Himmel zu bestellen hätte,
da wir Menschen ja allzumal Sünder sind.) Die andern wollen das nicht
zugeben, aber was sie eigentlich wollen, das wissen sie selbst nicht, feste Grund¬
sätze haben sie entweder nicht oder wagen sie nicht auszusprechen. Und dieser
Verwirrung der Behörden entspricht die Verwirrung der Gewissen. Während
von den einen das abscheulichste, was im heidnischen Griechenland gar nicht
möglich gewesen wäre, begangen wird ohne eine Spur von Gewissensbissen,
werden edle Jünglinge von Gewissensbissen geplagt aus keinem andern Grunde,
als weil sie merken, daß sie Männer werden. Und die gute Polizei konfiszirt
im Schaufenster ein Bildchen, dessen Original hart daneben riesengroß auf der
Schloßbrücke steht; heute gestattet diese selbe Polizei die Eröffnung eines Or-
pheums, in dem es zugeht, wie es an keinem altgriechischen Vergnügungsort
zugegangen ist, und morgen verbietet sie ein harmloses Theaterstück. Also die



*) Der Bauernstand der österreichischen Alpenländer und mancher Gegenden Deutschlands
beruht darauf, weil es ohne solches Zulassen kein Gesinde geben könnte. Auch der ^ulus ^.Kgiiug
der Preußischen Jahrbücher hat diese Ungeheuerlichkeit der Rechtsprechung gegeißelt und hervor¬
gehoben, wie sich die Richter lange Zeit dagegen gesträubt haben; feste Grundsätze für die Be¬
urteilung der Sittlichkcitsvcrgehen stellt er jedoch nicht auf.
Friedrich Nietzsche

ander unter anderen ein manichäischer Abscheu vor dem Geschlechtsleben und
völlige Gewissenlosigkeit gegenüberstehen, und was vielleicht das schlimmste ist,
daß es den meisten der Menschen, die Glaubensmeinungen und Grundsätze
aussprechen, mit ihren Glaubensmeinungen und Grundsätzen gar nicht ernst
ist. Namentlich ist der einfache, klare Grundsatz der antiken Moral verloren
gegangen, daß, wo beim Geschlechtsverkehr Böses vorkommt, das Böse nicht
im Natürlichen liegt, sondern, wie bei der Befriedigung der übrigen leiblichen
Bedürfnisse, in den Schädigungen der eignen Person oder des Nächsten und
in den Rechtsverletzungen, die damit verbunden sind. Und so ist man denn
bei jener Verwirrung der Strafrechtspflege angelangt, die ich schon einmal
geschildert habe, und die soweit geht, daß grobe Verbrechen, die von den edlern
Heidenvölkern mit dem Tode bestraft worden sind, bei uns ganz unbestraft
bleiben, daß andre noch gröbere Verbrechen, z. B. das Mißbräuchen von
Kindern, viel zu mild gestraft werden (aus einem Berliner Blatt, der Frauen¬
korrespondenz, erfährt man, daß sogar eine beträchtliche Anzahl dieser Verbrechen
grundsätzlich unbestraft bleibt), während eine bloße Unterlassung, an der bis
vor zwanzig Jahren kein Richter in der ganzen Welt den Thatbestand eines
Verbrechens gefunden hätte, mit Zuchthaus bestraft wird, eine Unterlassung,
von der die Richter recht gut wissen, daß sie auf dem Lande hunderttausendfach
vorkommt/") Die Gesetzgeber zeigen diesem Wirrwar gegenüber das Bild kläg¬
lichster Ratlosigkeit. Die Frommen oder sich fromm geberdenden unter ihnen
stellen den Grundsatz auf, der Staat habe die „Sünde" zu verhüten und zu
bestrafen. (Wenn das wahr wäre, dann müßte das ganze Reich ein einziges
Zuchthaus sein, für das man die Aufseher aus dem Himmel zu bestellen hätte,
da wir Menschen ja allzumal Sünder sind.) Die andern wollen das nicht
zugeben, aber was sie eigentlich wollen, das wissen sie selbst nicht, feste Grund¬
sätze haben sie entweder nicht oder wagen sie nicht auszusprechen. Und dieser
Verwirrung der Behörden entspricht die Verwirrung der Gewissen. Während
von den einen das abscheulichste, was im heidnischen Griechenland gar nicht
möglich gewesen wäre, begangen wird ohne eine Spur von Gewissensbissen,
werden edle Jünglinge von Gewissensbissen geplagt aus keinem andern Grunde,
als weil sie merken, daß sie Männer werden. Und die gute Polizei konfiszirt
im Schaufenster ein Bildchen, dessen Original hart daneben riesengroß auf der
Schloßbrücke steht; heute gestattet diese selbe Polizei die Eröffnung eines Or-
pheums, in dem es zugeht, wie es an keinem altgriechischen Vergnügungsort
zugegangen ist, und morgen verbietet sie ein harmloses Theaterstück. Also die



*) Der Bauernstand der österreichischen Alpenländer und mancher Gegenden Deutschlands
beruht darauf, weil es ohne solches Zulassen kein Gesinde geben könnte. Auch der ^ulus ^.Kgiiug
der Preußischen Jahrbücher hat diese Ungeheuerlichkeit der Rechtsprechung gegeißelt und hervor¬
gehoben, wie sich die Richter lange Zeit dagegen gesträubt haben; feste Grundsätze für die Be¬
urteilung der Sittlichkcitsvcrgehen stellt er jedoch nicht auf.
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[0230] Friedrich Nietzsche ander unter anderen ein manichäischer Abscheu vor dem Geschlechtsleben und völlige Gewissenlosigkeit gegenüberstehen, und was vielleicht das schlimmste ist, daß es den meisten der Menschen, die Glaubensmeinungen und Grundsätze aussprechen, mit ihren Glaubensmeinungen und Grundsätzen gar nicht ernst ist. Namentlich ist der einfache, klare Grundsatz der antiken Moral verloren gegangen, daß, wo beim Geschlechtsverkehr Böses vorkommt, das Böse nicht im Natürlichen liegt, sondern, wie bei der Befriedigung der übrigen leiblichen Bedürfnisse, in den Schädigungen der eignen Person oder des Nächsten und in den Rechtsverletzungen, die damit verbunden sind. Und so ist man denn bei jener Verwirrung der Strafrechtspflege angelangt, die ich schon einmal geschildert habe, und die soweit geht, daß grobe Verbrechen, die von den edlern Heidenvölkern mit dem Tode bestraft worden sind, bei uns ganz unbestraft bleiben, daß andre noch gröbere Verbrechen, z. B. das Mißbräuchen von Kindern, viel zu mild gestraft werden (aus einem Berliner Blatt, der Frauen¬ korrespondenz, erfährt man, daß sogar eine beträchtliche Anzahl dieser Verbrechen grundsätzlich unbestraft bleibt), während eine bloße Unterlassung, an der bis vor zwanzig Jahren kein Richter in der ganzen Welt den Thatbestand eines Verbrechens gefunden hätte, mit Zuchthaus bestraft wird, eine Unterlassung, von der die Richter recht gut wissen, daß sie auf dem Lande hunderttausendfach vorkommt/") Die Gesetzgeber zeigen diesem Wirrwar gegenüber das Bild kläg¬ lichster Ratlosigkeit. Die Frommen oder sich fromm geberdenden unter ihnen stellen den Grundsatz auf, der Staat habe die „Sünde" zu verhüten und zu bestrafen. (Wenn das wahr wäre, dann müßte das ganze Reich ein einziges Zuchthaus sein, für das man die Aufseher aus dem Himmel zu bestellen hätte, da wir Menschen ja allzumal Sünder sind.) Die andern wollen das nicht zugeben, aber was sie eigentlich wollen, das wissen sie selbst nicht, feste Grund¬ sätze haben sie entweder nicht oder wagen sie nicht auszusprechen. Und dieser Verwirrung der Behörden entspricht die Verwirrung der Gewissen. Während von den einen das abscheulichste, was im heidnischen Griechenland gar nicht möglich gewesen wäre, begangen wird ohne eine Spur von Gewissensbissen, werden edle Jünglinge von Gewissensbissen geplagt aus keinem andern Grunde, als weil sie merken, daß sie Männer werden. Und die gute Polizei konfiszirt im Schaufenster ein Bildchen, dessen Original hart daneben riesengroß auf der Schloßbrücke steht; heute gestattet diese selbe Polizei die Eröffnung eines Or- pheums, in dem es zugeht, wie es an keinem altgriechischen Vergnügungsort zugegangen ist, und morgen verbietet sie ein harmloses Theaterstück. Also die *) Der Bauernstand der österreichischen Alpenländer und mancher Gegenden Deutschlands beruht darauf, weil es ohne solches Zulassen kein Gesinde geben könnte. Auch der ^ulus ^.Kgiiug der Preußischen Jahrbücher hat diese Ungeheuerlichkeit der Rechtsprechung gegeißelt und hervor¬ gehoben, wie sich die Richter lange Zeit dagegen gesträubt haben; feste Grundsätze für die Be¬ urteilung der Sittlichkcitsvcrgehen stellt er jedoch nicht auf.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/230>, abgerufen am 28.07.2024.