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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien

Würde. ... Bei diesem Begriff geht uns das deutliche Denken deshalb aus,
weil der Satz vom Grunde in allen seinen Bedeutungen die wesentliche Form
unsers gesamten Erkenntnisvermögens ist, hier aber aufgegeben werden soll."

Das für uns Wesentliche dieser Darlegung ist, daß auf dem moralischen
Gebiete Freiheit und Notwendigkeit keine unbedingten Gegensätze sind, weder
bei dem einzelnen Menschen, noch auf dem Gebiete der Geschichte.

Das Notwendige ist der Gegensatz von Willkür, Zufall und Zwecklosig-
keit, es ist das Sollen des Guten, das Freisein ist der Gegensatz von Zwang
dulden, willenlos sein, es ist das Wollen des Guten, beides trifft in dem
Sittlichen zusammen. Schließt die absolute Unfreiheit des Willens den Begriff
von Strafe aus, so nicht minder die absolute Freiheit. Ein Unzurechnungs¬
fähiger ist in dem Gebrauch seiner Freiheit nicht immer behindert; er ist -- wie
das Reichsgericht psychologisch richtig entschieden hat -- unfähig, sich durch sitt¬
liche oder rechtliche Motive bestimmen zu lassen, d. h. durch die Motive, durch
die er sich selbst bestimmen soll! Damit haben wir die rechte Grundlage ge¬
wonnen; der menschliche Wille ist nicht völlig frei, auch nicht völlig unfrei,
er ist bestimmbar durch Motive, die in unsern Vorstellungen bestehen.

Von einer andern Seite her können wir dem Problem noch näher kommen.
Die neuere empirische Psychologie hat überhaupt die altbekannten drei Seelen¬
vermögen verworfen und das gesamte Seelenleben einheitlich auf die Vor¬
stellungen im Geiste des Menschen, auf deren Assoziativ", Reproduktion und
Apperzeption, zu deutsch ihre Verbindung, Wiedererweckung und Aneignung auf¬
gebaut. Da das Bewußtsein des Menschen nun viele Vorstellungen auf einmal
nicht fassen kann, so kommt es darauf an, die unwillkürliche Aufmerksamkeit,
bei der der Mensch nur leidend ist, zu einer willkürlichen zu machen; damit
wird dann das Fühlen und Wollen so weit beeinflußt, als dies der mensch¬
lichen Natur nach möglich ist. Die gestählte, erstarkte, willkürliche Aufmerk¬
samkeit kann bei dem Manne der Wissenschaft und Kunst so weit gehen, daß er
die ganze Außenwelt darüber vergißt; die Fliegenden Blätter beschäftigen sich
ja oft mit der sogenannten Zerstreutheit der Professoren. Die willkürliche
Aufmerksamkeit ist hauptsächlich ein Resultat der Erziehung, und im besondern
hat die Schule für ihre Entwicklung zu sorgen. Hier liegt denn auch natür¬
lich der charakterbildende Hauptwert der Volksschule; die mühsame Herstellung
einiger Reihen vou Schriftzeichen ist doch nur von Wert als Zeichen, daß der
Mensch durch diese Charakterschule gegangen ist.

Durch das Zusammenballen der Vorstellungen zu größern Massen und
Gruppen entstehen nun die sogenannten herrschenden Vorstellungen, die den
neu zuströmenden gegenüber ein Übergewicht bewahren und dadurch den
Charakter des Menschen, seine Gefühle und Strebungen, seine Anschauungs¬
und Handlungsweise bestimmen. Diese herrschenden Vorstellungen sind also
nicht mehr nur geistige Bilder, sondern werden dadurch, daß sie immer wieder
ins Bewußtsein zurückzukehren streben, zu Kräften, die den Menschen in Ve-


Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien

Würde. ... Bei diesem Begriff geht uns das deutliche Denken deshalb aus,
weil der Satz vom Grunde in allen seinen Bedeutungen die wesentliche Form
unsers gesamten Erkenntnisvermögens ist, hier aber aufgegeben werden soll."

Das für uns Wesentliche dieser Darlegung ist, daß auf dem moralischen
Gebiete Freiheit und Notwendigkeit keine unbedingten Gegensätze sind, weder
bei dem einzelnen Menschen, noch auf dem Gebiete der Geschichte.

Das Notwendige ist der Gegensatz von Willkür, Zufall und Zwecklosig-
keit, es ist das Sollen des Guten, das Freisein ist der Gegensatz von Zwang
dulden, willenlos sein, es ist das Wollen des Guten, beides trifft in dem
Sittlichen zusammen. Schließt die absolute Unfreiheit des Willens den Begriff
von Strafe aus, so nicht minder die absolute Freiheit. Ein Unzurechnungs¬
fähiger ist in dem Gebrauch seiner Freiheit nicht immer behindert; er ist — wie
das Reichsgericht psychologisch richtig entschieden hat — unfähig, sich durch sitt¬
liche oder rechtliche Motive bestimmen zu lassen, d. h. durch die Motive, durch
die er sich selbst bestimmen soll! Damit haben wir die rechte Grundlage ge¬
wonnen; der menschliche Wille ist nicht völlig frei, auch nicht völlig unfrei,
er ist bestimmbar durch Motive, die in unsern Vorstellungen bestehen.

Von einer andern Seite her können wir dem Problem noch näher kommen.
Die neuere empirische Psychologie hat überhaupt die altbekannten drei Seelen¬
vermögen verworfen und das gesamte Seelenleben einheitlich auf die Vor¬
stellungen im Geiste des Menschen, auf deren Assoziativ», Reproduktion und
Apperzeption, zu deutsch ihre Verbindung, Wiedererweckung und Aneignung auf¬
gebaut. Da das Bewußtsein des Menschen nun viele Vorstellungen auf einmal
nicht fassen kann, so kommt es darauf an, die unwillkürliche Aufmerksamkeit,
bei der der Mensch nur leidend ist, zu einer willkürlichen zu machen; damit
wird dann das Fühlen und Wollen so weit beeinflußt, als dies der mensch¬
lichen Natur nach möglich ist. Die gestählte, erstarkte, willkürliche Aufmerk¬
samkeit kann bei dem Manne der Wissenschaft und Kunst so weit gehen, daß er
die ganze Außenwelt darüber vergißt; die Fliegenden Blätter beschäftigen sich
ja oft mit der sogenannten Zerstreutheit der Professoren. Die willkürliche
Aufmerksamkeit ist hauptsächlich ein Resultat der Erziehung, und im besondern
hat die Schule für ihre Entwicklung zu sorgen. Hier liegt denn auch natür¬
lich der charakterbildende Hauptwert der Volksschule; die mühsame Herstellung
einiger Reihen vou Schriftzeichen ist doch nur von Wert als Zeichen, daß der
Mensch durch diese Charakterschule gegangen ist.

Durch das Zusammenballen der Vorstellungen zu größern Massen und
Gruppen entstehen nun die sogenannten herrschenden Vorstellungen, die den
neu zuströmenden gegenüber ein Übergewicht bewahren und dadurch den
Charakter des Menschen, seine Gefühle und Strebungen, seine Anschauungs¬
und Handlungsweise bestimmen. Diese herrschenden Vorstellungen sind also
nicht mehr nur geistige Bilder, sondern werden dadurch, daß sie immer wieder
ins Bewußtsein zurückzukehren streben, zu Kräften, die den Menschen in Ve-


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[0018] Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien Würde. ... Bei diesem Begriff geht uns das deutliche Denken deshalb aus, weil der Satz vom Grunde in allen seinen Bedeutungen die wesentliche Form unsers gesamten Erkenntnisvermögens ist, hier aber aufgegeben werden soll." Das für uns Wesentliche dieser Darlegung ist, daß auf dem moralischen Gebiete Freiheit und Notwendigkeit keine unbedingten Gegensätze sind, weder bei dem einzelnen Menschen, noch auf dem Gebiete der Geschichte. Das Notwendige ist der Gegensatz von Willkür, Zufall und Zwecklosig- keit, es ist das Sollen des Guten, das Freisein ist der Gegensatz von Zwang dulden, willenlos sein, es ist das Wollen des Guten, beides trifft in dem Sittlichen zusammen. Schließt die absolute Unfreiheit des Willens den Begriff von Strafe aus, so nicht minder die absolute Freiheit. Ein Unzurechnungs¬ fähiger ist in dem Gebrauch seiner Freiheit nicht immer behindert; er ist — wie das Reichsgericht psychologisch richtig entschieden hat — unfähig, sich durch sitt¬ liche oder rechtliche Motive bestimmen zu lassen, d. h. durch die Motive, durch die er sich selbst bestimmen soll! Damit haben wir die rechte Grundlage ge¬ wonnen; der menschliche Wille ist nicht völlig frei, auch nicht völlig unfrei, er ist bestimmbar durch Motive, die in unsern Vorstellungen bestehen. Von einer andern Seite her können wir dem Problem noch näher kommen. Die neuere empirische Psychologie hat überhaupt die altbekannten drei Seelen¬ vermögen verworfen und das gesamte Seelenleben einheitlich auf die Vor¬ stellungen im Geiste des Menschen, auf deren Assoziativ», Reproduktion und Apperzeption, zu deutsch ihre Verbindung, Wiedererweckung und Aneignung auf¬ gebaut. Da das Bewußtsein des Menschen nun viele Vorstellungen auf einmal nicht fassen kann, so kommt es darauf an, die unwillkürliche Aufmerksamkeit, bei der der Mensch nur leidend ist, zu einer willkürlichen zu machen; damit wird dann das Fühlen und Wollen so weit beeinflußt, als dies der mensch¬ lichen Natur nach möglich ist. Die gestählte, erstarkte, willkürliche Aufmerk¬ samkeit kann bei dem Manne der Wissenschaft und Kunst so weit gehen, daß er die ganze Außenwelt darüber vergißt; die Fliegenden Blätter beschäftigen sich ja oft mit der sogenannten Zerstreutheit der Professoren. Die willkürliche Aufmerksamkeit ist hauptsächlich ein Resultat der Erziehung, und im besondern hat die Schule für ihre Entwicklung zu sorgen. Hier liegt denn auch natür¬ lich der charakterbildende Hauptwert der Volksschule; die mühsame Herstellung einiger Reihen vou Schriftzeichen ist doch nur von Wert als Zeichen, daß der Mensch durch diese Charakterschule gegangen ist. Durch das Zusammenballen der Vorstellungen zu größern Massen und Gruppen entstehen nun die sogenannten herrschenden Vorstellungen, die den neu zuströmenden gegenüber ein Übergewicht bewahren und dadurch den Charakter des Menschen, seine Gefühle und Strebungen, seine Anschauungs¬ und Handlungsweise bestimmen. Diese herrschenden Vorstellungen sind also nicht mehr nur geistige Bilder, sondern werden dadurch, daß sie immer wieder ins Bewußtsein zurückzukehren streben, zu Kräften, die den Menschen in Ve-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/18>, abgerufen am 01.09.2024.