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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien

Und Goethe bezeichnet das Problem mit größter Schärfe, wenn er von
Shakespeares Dramen sagt: "Alle drehen sich um den einen Punkt, wo die
persönliche Freiheit mit der Notwendigkeit zusammentrifft."

Die Notwendigkeit ist freilich hier nicht im Sinne eines äußern Zwanges
gemeint, sondern sie ist eine innere Notwendigkeit. Während die landläufige
Meinung von der Willensfreiheit schnell bei der Hand zu sein Pflegt mit ihrer
moralischen Beurteilung und Verurteilung der einzelnen That, gräbt die
Meinung, die die Kausalität auch für das Gebiet des Willens gelten läßt,
zunächst tiefer und forscht nach des Menschen Kern, dem Charakter. Sie
erkennt, daß aus dem Zusammentreffen bestimmt gegebner Charakterzüge
mit gewissen zufälligen äußern Umständen, die für diesen Charakter -- aber
gerade nur für diesen -- zu Motiven werden, mit Notwendigkeit Thaten hervor¬
gehen müssen, die eine Verschuldung herbeiführen. Wo die Dinge einen
menschlich und sittlich großen Maßstab haben, da entsteht das tragische Schicksal,
wie wir es in den Shakespearischen Tragödien bewundern. Wie kunstvoll darin
jedesmal die innern Charaktereigenschaften mit den äußern Umständen zusammen¬
gefügt sind, ist bewundernswert. Man versuche einmal in Gedanken, die
Charaktere vou Hamlet und Macbeth zu vertauschen, und in beiden Fällen
gäbe es dann keine Tragödie mehr, sondern der Verlauf der Dinge bliebe im
alltäglichen Geleise. Ein bedenklicher Macbeth oder vielmehr eine bedenkliche
Lady Macbeth käme in gar keine Versuchung, und ein resoluter Hamlet machte
dem Drama schon im ersten Akt ein Ende. Alles Zurückschieben der Schuld
in den Charakter und das Betonen der Notwendigkeit der That hebt aber die
Folgen der That für andre so wenig auf, wie für den Thäter; er muß die
Verantwortung und die Folgen auf sich nehmen, darin liegt die irdische und
auch die "poetische" Gerechtigkeit. Freilich, gegen die Annahme ewiger
Höllenstrafen im Jenseits sträubt sich der gebildete Geist, denn wenn fehler¬
hafte Anlagen, Vererbung, ungünstige Umstände und die Versuchung abge¬
rechnet werden, die doch nicht Schuld des Menschen sind, so wird der absolute
Unterschied des Guten und des Bösen so gering, daß er eine so grausame
Scheidung im Jenseits nicht rechtfertigen kann. Der ewige Gott kann und
muß Gnade walten lassen, und auch auf Erden kann die Gnade ihre Stätte
finden, nachdem die Schuld ihre Sühne gefunden, der Schuldige die Folgen
seiner That willig auf sich genommen hat. Schopenhauer ist wie auf andern
Gebieten auch bei der Behandlung der Willensfreiheit bedeutend und geistreich


Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien

Und Goethe bezeichnet das Problem mit größter Schärfe, wenn er von
Shakespeares Dramen sagt: „Alle drehen sich um den einen Punkt, wo die
persönliche Freiheit mit der Notwendigkeit zusammentrifft."

Die Notwendigkeit ist freilich hier nicht im Sinne eines äußern Zwanges
gemeint, sondern sie ist eine innere Notwendigkeit. Während die landläufige
Meinung von der Willensfreiheit schnell bei der Hand zu sein Pflegt mit ihrer
moralischen Beurteilung und Verurteilung der einzelnen That, gräbt die
Meinung, die die Kausalität auch für das Gebiet des Willens gelten läßt,
zunächst tiefer und forscht nach des Menschen Kern, dem Charakter. Sie
erkennt, daß aus dem Zusammentreffen bestimmt gegebner Charakterzüge
mit gewissen zufälligen äußern Umständen, die für diesen Charakter — aber
gerade nur für diesen — zu Motiven werden, mit Notwendigkeit Thaten hervor¬
gehen müssen, die eine Verschuldung herbeiführen. Wo die Dinge einen
menschlich und sittlich großen Maßstab haben, da entsteht das tragische Schicksal,
wie wir es in den Shakespearischen Tragödien bewundern. Wie kunstvoll darin
jedesmal die innern Charaktereigenschaften mit den äußern Umständen zusammen¬
gefügt sind, ist bewundernswert. Man versuche einmal in Gedanken, die
Charaktere vou Hamlet und Macbeth zu vertauschen, und in beiden Fällen
gäbe es dann keine Tragödie mehr, sondern der Verlauf der Dinge bliebe im
alltäglichen Geleise. Ein bedenklicher Macbeth oder vielmehr eine bedenkliche
Lady Macbeth käme in gar keine Versuchung, und ein resoluter Hamlet machte
dem Drama schon im ersten Akt ein Ende. Alles Zurückschieben der Schuld
in den Charakter und das Betonen der Notwendigkeit der That hebt aber die
Folgen der That für andre so wenig auf, wie für den Thäter; er muß die
Verantwortung und die Folgen auf sich nehmen, darin liegt die irdische und
auch die „poetische" Gerechtigkeit. Freilich, gegen die Annahme ewiger
Höllenstrafen im Jenseits sträubt sich der gebildete Geist, denn wenn fehler¬
hafte Anlagen, Vererbung, ungünstige Umstände und die Versuchung abge¬
rechnet werden, die doch nicht Schuld des Menschen sind, so wird der absolute
Unterschied des Guten und des Bösen so gering, daß er eine so grausame
Scheidung im Jenseits nicht rechtfertigen kann. Der ewige Gott kann und
muß Gnade walten lassen, und auch auf Erden kann die Gnade ihre Stätte
finden, nachdem die Schuld ihre Sühne gefunden, der Schuldige die Folgen
seiner That willig auf sich genommen hat. Schopenhauer ist wie auf andern
Gebieten auch bei der Behandlung der Willensfreiheit bedeutend und geistreich


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[0016] Rechtsphilosophische Phantasien eines Laien Und Goethe bezeichnet das Problem mit größter Schärfe, wenn er von Shakespeares Dramen sagt: „Alle drehen sich um den einen Punkt, wo die persönliche Freiheit mit der Notwendigkeit zusammentrifft." Die Notwendigkeit ist freilich hier nicht im Sinne eines äußern Zwanges gemeint, sondern sie ist eine innere Notwendigkeit. Während die landläufige Meinung von der Willensfreiheit schnell bei der Hand zu sein Pflegt mit ihrer moralischen Beurteilung und Verurteilung der einzelnen That, gräbt die Meinung, die die Kausalität auch für das Gebiet des Willens gelten läßt, zunächst tiefer und forscht nach des Menschen Kern, dem Charakter. Sie erkennt, daß aus dem Zusammentreffen bestimmt gegebner Charakterzüge mit gewissen zufälligen äußern Umständen, die für diesen Charakter — aber gerade nur für diesen — zu Motiven werden, mit Notwendigkeit Thaten hervor¬ gehen müssen, die eine Verschuldung herbeiführen. Wo die Dinge einen menschlich und sittlich großen Maßstab haben, da entsteht das tragische Schicksal, wie wir es in den Shakespearischen Tragödien bewundern. Wie kunstvoll darin jedesmal die innern Charaktereigenschaften mit den äußern Umständen zusammen¬ gefügt sind, ist bewundernswert. Man versuche einmal in Gedanken, die Charaktere vou Hamlet und Macbeth zu vertauschen, und in beiden Fällen gäbe es dann keine Tragödie mehr, sondern der Verlauf der Dinge bliebe im alltäglichen Geleise. Ein bedenklicher Macbeth oder vielmehr eine bedenkliche Lady Macbeth käme in gar keine Versuchung, und ein resoluter Hamlet machte dem Drama schon im ersten Akt ein Ende. Alles Zurückschieben der Schuld in den Charakter und das Betonen der Notwendigkeit der That hebt aber die Folgen der That für andre so wenig auf, wie für den Thäter; er muß die Verantwortung und die Folgen auf sich nehmen, darin liegt die irdische und auch die „poetische" Gerechtigkeit. Freilich, gegen die Annahme ewiger Höllenstrafen im Jenseits sträubt sich der gebildete Geist, denn wenn fehler¬ hafte Anlagen, Vererbung, ungünstige Umstände und die Versuchung abge¬ rechnet werden, die doch nicht Schuld des Menschen sind, so wird der absolute Unterschied des Guten und des Bösen so gering, daß er eine so grausame Scheidung im Jenseits nicht rechtfertigen kann. Der ewige Gott kann und muß Gnade walten lassen, und auch auf Erden kann die Gnade ihre Stätte finden, nachdem die Schuld ihre Sühne gefunden, der Schuldige die Folgen seiner That willig auf sich genommen hat. Schopenhauer ist wie auf andern Gebieten auch bei der Behandlung der Willensfreiheit bedeutend und geistreich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/16>, abgerufen am 01.09.2024.