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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Der japanische Farbeuholzschnitt

vollkommen und primitiv sie auch sei, die gleiche Berechtigung mit jeder andern
habe. Dabei werden natürlich die bisher verachteten und vernachlässigten Rich¬
tungen über Gebühr emporgeschraubt. Das "Nelken" ist auch hier an der
Tagesordnung. Ein solches Unwerte" ist ja psychologisch ganz begreiflich.
Sieht man sich doch auch eine Landschaft statt in aufgerichteter Stellung gern
einmal mit gesenktem Kopfe und durch die Beine an. Ob man aber diese
Stellung lange aushält, ist eine andre Frage. Und solange man mir nicht
nachweist, daß der Realismus notwendig zum Ruin der Kunst führen muß,
daß die ganze glorreiche Entwicklung der realistischen europäischen Malerei
vom fünfzehnten bis ins sechzehnte Jahrhundert hinein eine Entwicklung auf
der schiefen Ebene, in der Richtung zum Verfall gewesen ist, solange sehe ich
in Hvkuscii den natürlichen Abschluß der japanischen Kunstentwicklung und den
Meister, der von allen japanischen Malern allein, und zwar auch er nur in
einer gewissen Einschränkung, unsern modernen Künstlern als Vorbild vor
Augen gehalten werden darf.

Solchen Erscheinungen wie dein Japanismus, dem Primitivismus, dem
Symbolismus gegenüber hat man als deutscher Ästhetiker eigentlich einen
schweren Stand. Mau sieht, daß alle diese Richtungen nicht in Deutschland,
sondern im Ausland aufkommen, daß sie ganz plötzlich, wie eine neue Kleider¬
mode, in die deutsche Kunst hereinbrechen. Man schließt daraus, daß sie
unserm Wesen fremd, daß sie Treibhauspflanzen auf deutschem Boden sind.
Und dabei treten sie mit einer Siegesgewißheit auf, die jeden Beobachter in
Erstaunen setzen muß. Wo ist das Publikum, das diese Moden billigt? Sind
es nur die paar jungen Künstler und Kunstkritiker unsrer größern Städte,
unsrer Kunstzentren, die sie mitmachen, oder sind auch andre Kreise von der
Infektion ergriffen? Hat eine übermächtige geheimnisvolle Suggestion das
klare Urteil dieser Leute getrübt, sie gewissermaßen jenseits von Gut und Böse,
jenseits von Schön und Häßlich gestellt?

Ich weiß es nicht. Es kommt mir nur manchmal so vor, als ob ein
einziger großer Irrtum die Massen zu solchen Richtungen fortrisse und den
Blick der Einzelnen verblendete. Sehen sie die Gefahr nicht, oder wollen sie
sie nicht sehen? Manchmal will es mir scheinen, als ob Andersen seine
Märchen von des Kaisers neue" Kleidern eigens auf solche neu aufkommende
Kunstmoden geschrieben Hütte. Unsre moderne Kunst zieht alle zwei, drei Jahre
einmal ein solches neues Kleid an. Alle Welt, die ganze Kritik schreit: Wie
wunderschön! Das ist das einzig Wahre! Damit haben wir den neuen Kuust-
frühling, den wir schon so lange erhoffen. Und einer sagt es dem andern
nach, weil keiner zurückbleiben und für dumm gelten will. Da ist es dann
natürlich eine undankbare Aufgabe, das Kind zu spielen, das plötzlich in naiver
Heiterkeit und Unwissenheit ruft: Der Kaiser hat ja gar keine Kleider an!
Aber ein solches Kind muß nun einmal dasein, und so gestatte man mir denn,
dieses enlÄnt tsrridls zu spielen. Vielleicht wird man nur doch über kurz oder
lang einmal recht geben.




Der japanische Farbeuholzschnitt

vollkommen und primitiv sie auch sei, die gleiche Berechtigung mit jeder andern
habe. Dabei werden natürlich die bisher verachteten und vernachlässigten Rich¬
tungen über Gebühr emporgeschraubt. Das „Nelken" ist auch hier an der
Tagesordnung. Ein solches Unwerte» ist ja psychologisch ganz begreiflich.
Sieht man sich doch auch eine Landschaft statt in aufgerichteter Stellung gern
einmal mit gesenktem Kopfe und durch die Beine an. Ob man aber diese
Stellung lange aushält, ist eine andre Frage. Und solange man mir nicht
nachweist, daß der Realismus notwendig zum Ruin der Kunst führen muß,
daß die ganze glorreiche Entwicklung der realistischen europäischen Malerei
vom fünfzehnten bis ins sechzehnte Jahrhundert hinein eine Entwicklung auf
der schiefen Ebene, in der Richtung zum Verfall gewesen ist, solange sehe ich
in Hvkuscii den natürlichen Abschluß der japanischen Kunstentwicklung und den
Meister, der von allen japanischen Malern allein, und zwar auch er nur in
einer gewissen Einschränkung, unsern modernen Künstlern als Vorbild vor
Augen gehalten werden darf.

Solchen Erscheinungen wie dein Japanismus, dem Primitivismus, dem
Symbolismus gegenüber hat man als deutscher Ästhetiker eigentlich einen
schweren Stand. Mau sieht, daß alle diese Richtungen nicht in Deutschland,
sondern im Ausland aufkommen, daß sie ganz plötzlich, wie eine neue Kleider¬
mode, in die deutsche Kunst hereinbrechen. Man schließt daraus, daß sie
unserm Wesen fremd, daß sie Treibhauspflanzen auf deutschem Boden sind.
Und dabei treten sie mit einer Siegesgewißheit auf, die jeden Beobachter in
Erstaunen setzen muß. Wo ist das Publikum, das diese Moden billigt? Sind
es nur die paar jungen Künstler und Kunstkritiker unsrer größern Städte,
unsrer Kunstzentren, die sie mitmachen, oder sind auch andre Kreise von der
Infektion ergriffen? Hat eine übermächtige geheimnisvolle Suggestion das
klare Urteil dieser Leute getrübt, sie gewissermaßen jenseits von Gut und Böse,
jenseits von Schön und Häßlich gestellt?

Ich weiß es nicht. Es kommt mir nur manchmal so vor, als ob ein
einziger großer Irrtum die Massen zu solchen Richtungen fortrisse und den
Blick der Einzelnen verblendete. Sehen sie die Gefahr nicht, oder wollen sie
sie nicht sehen? Manchmal will es mir scheinen, als ob Andersen seine
Märchen von des Kaisers neue» Kleidern eigens auf solche neu aufkommende
Kunstmoden geschrieben Hütte. Unsre moderne Kunst zieht alle zwei, drei Jahre
einmal ein solches neues Kleid an. Alle Welt, die ganze Kritik schreit: Wie
wunderschön! Das ist das einzig Wahre! Damit haben wir den neuen Kuust-
frühling, den wir schon so lange erhoffen. Und einer sagt es dem andern
nach, weil keiner zurückbleiben und für dumm gelten will. Da ist es dann
natürlich eine undankbare Aufgabe, das Kind zu spielen, das plötzlich in naiver
Heiterkeit und Unwissenheit ruft: Der Kaiser hat ja gar keine Kleider an!
Aber ein solches Kind muß nun einmal dasein, und so gestatte man mir denn,
dieses enlÄnt tsrridls zu spielen. Vielleicht wird man nur doch über kurz oder
lang einmal recht geben.




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[0141] Der japanische Farbeuholzschnitt vollkommen und primitiv sie auch sei, die gleiche Berechtigung mit jeder andern habe. Dabei werden natürlich die bisher verachteten und vernachlässigten Rich¬ tungen über Gebühr emporgeschraubt. Das „Nelken" ist auch hier an der Tagesordnung. Ein solches Unwerte» ist ja psychologisch ganz begreiflich. Sieht man sich doch auch eine Landschaft statt in aufgerichteter Stellung gern einmal mit gesenktem Kopfe und durch die Beine an. Ob man aber diese Stellung lange aushält, ist eine andre Frage. Und solange man mir nicht nachweist, daß der Realismus notwendig zum Ruin der Kunst führen muß, daß die ganze glorreiche Entwicklung der realistischen europäischen Malerei vom fünfzehnten bis ins sechzehnte Jahrhundert hinein eine Entwicklung auf der schiefen Ebene, in der Richtung zum Verfall gewesen ist, solange sehe ich in Hvkuscii den natürlichen Abschluß der japanischen Kunstentwicklung und den Meister, der von allen japanischen Malern allein, und zwar auch er nur in einer gewissen Einschränkung, unsern modernen Künstlern als Vorbild vor Augen gehalten werden darf. Solchen Erscheinungen wie dein Japanismus, dem Primitivismus, dem Symbolismus gegenüber hat man als deutscher Ästhetiker eigentlich einen schweren Stand. Mau sieht, daß alle diese Richtungen nicht in Deutschland, sondern im Ausland aufkommen, daß sie ganz plötzlich, wie eine neue Kleider¬ mode, in die deutsche Kunst hereinbrechen. Man schließt daraus, daß sie unserm Wesen fremd, daß sie Treibhauspflanzen auf deutschem Boden sind. Und dabei treten sie mit einer Siegesgewißheit auf, die jeden Beobachter in Erstaunen setzen muß. Wo ist das Publikum, das diese Moden billigt? Sind es nur die paar jungen Künstler und Kunstkritiker unsrer größern Städte, unsrer Kunstzentren, die sie mitmachen, oder sind auch andre Kreise von der Infektion ergriffen? Hat eine übermächtige geheimnisvolle Suggestion das klare Urteil dieser Leute getrübt, sie gewissermaßen jenseits von Gut und Böse, jenseits von Schön und Häßlich gestellt? Ich weiß es nicht. Es kommt mir nur manchmal so vor, als ob ein einziger großer Irrtum die Massen zu solchen Richtungen fortrisse und den Blick der Einzelnen verblendete. Sehen sie die Gefahr nicht, oder wollen sie sie nicht sehen? Manchmal will es mir scheinen, als ob Andersen seine Märchen von des Kaisers neue» Kleidern eigens auf solche neu aufkommende Kunstmoden geschrieben Hütte. Unsre moderne Kunst zieht alle zwei, drei Jahre einmal ein solches neues Kleid an. Alle Welt, die ganze Kritik schreit: Wie wunderschön! Das ist das einzig Wahre! Damit haben wir den neuen Kuust- frühling, den wir schon so lange erhoffen. Und einer sagt es dem andern nach, weil keiner zurückbleiben und für dumm gelten will. Da ist es dann natürlich eine undankbare Aufgabe, das Kind zu spielen, das plötzlich in naiver Heiterkeit und Unwissenheit ruft: Der Kaiser hat ja gar keine Kleider an! Aber ein solches Kind muß nun einmal dasein, und so gestatte man mir denn, dieses enlÄnt tsrridls zu spielen. Vielleicht wird man nur doch über kurz oder lang einmal recht geben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/141>, abgerufen am 27.07.2024.