Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus misrer Dstmark

Polen ganz ungeheuer; sie waren größtenteils Bauern, die unter dem Namen
Bürger in sogenannten Städten wohnten, die kein Westdeutscher jemals als
Städte hätte gelten lassen, die Minderzahl ein Handwerker- und Arbeiter¬
proletariat schlimmster Sorte; der von Schmutz starrende Schafspelz war das
Lieblingskleidungsstück.

Der polnische Bauer, der auf seinem Rücken noch die Beweise für die
Willkür seiner ehemaligen Herren und Peiniger trug, fing erst an, sich unter
der strengen und gerechten Zucht der preußischen Negierung in einen Menschen
umzuwandeln. Die Deutschen, ein unpolitisches, still der Arbeit lebendes Ge¬
schlecht, überwogen in den Städten, nicht bloß, wie schon gezeigt, an Zahl,
sondern erst recht an Wohlstand und Intelligenz. Die Beamten waren noch
die an min0rv.1v. ^otium, die sich die Ehrenbezeugung des xacls.rü 6c> v6Z
(Fußfalls) von den untern Volksklassen als etwas selbstverständliches gern ge¬
fallen ließen. Wie hat sich seitdem alles geändert! Heute ist in den Ost¬
marken das Deutschtum in seiner Vorherrschaft und in seinem Erwerb,
namentlich in den Städten, aufs schwerste bedroht, nicht bloß, weil es an Zahl
zurückgeht, sondern auch weil die Polen, die die Wandlung in gebildete Euro¬
päer schnell vollziehen, sich bemühen, den kulturmüßigen und wirtschaftlichen
Vorsprung der Deutschen einzuholen und mit der Waffe des Boykotts den
deutschen Erwerbsstünden tödliche Wunden zu schlagen. Der polnische Adel zwar
hat inzwischen den größern Teil seines Besitzes veräußern müssen und wird,
auch nach polnischer Meinung, den Rest seines Erbes nicht mehr lange
zu behaupten vermögen, der Klerus dagegen streift die alten Mängel ab, ist
rührig, intelligent, der Führer und Wohlthäter der untern Klassen, der Bauern
und Handwerker, geworden, die ebenso schnell an Gesittung und Wohlstand
zunehmen wie der die Deutschen aus den Städten verdrängende polnische
Bürgerstand. Was die im Juli 1848 gebildete I^s, xalslca, (polnische Liga),
die schnell auf einen Mitgliederstand von 10000 anwuchs, erstrebt hat: "die
Entwicklung aller nationalen Elemente, der Sprache und der Sitten der Polen
auf Grund ihrer geschichtlichen Vergangenheit mit vollständiger gewerblicher
wie gesellschaftlicher Sonderung von den Deutschen," das ist heute erreicht;
es leugnen wollen, hieße die Augen gegen offenkundige Thatsachen verschließen.

Um wie viel schwerer ist also am Ende des Jahrhunderts die Aufgabe
des preußischen Beamtentums in den Ostmarken als in seiner Mitte! Damals,
wo es in seiner Blüte stand, über unvergleichlich mehr Machtmittel gebot, ist
es an ihr gescheitert. Wird es ihr heute, einem stärkern Ansturm, unver¬
gleichlich komplizirtern Problemen gegenüber gewachsen sein? Trotz alledem
möchte ich diese Frage bejahen.

Heute giebt es keine Beuermann, rat- und hilflose Büreaukraten, keine zu
Kommissarien, zu denen sie nicht qualifizirt sind, sich unberufen drängenden
oder dazu berufnen Willisen, keine in Politik dilettirenden Militärs, keine
Brigadiers der Gendarmerie mehr, die sich beeilen würden, die vom "polnischen


Aus misrer Dstmark

Polen ganz ungeheuer; sie waren größtenteils Bauern, die unter dem Namen
Bürger in sogenannten Städten wohnten, die kein Westdeutscher jemals als
Städte hätte gelten lassen, die Minderzahl ein Handwerker- und Arbeiter¬
proletariat schlimmster Sorte; der von Schmutz starrende Schafspelz war das
Lieblingskleidungsstück.

Der polnische Bauer, der auf seinem Rücken noch die Beweise für die
Willkür seiner ehemaligen Herren und Peiniger trug, fing erst an, sich unter
der strengen und gerechten Zucht der preußischen Negierung in einen Menschen
umzuwandeln. Die Deutschen, ein unpolitisches, still der Arbeit lebendes Ge¬
schlecht, überwogen in den Städten, nicht bloß, wie schon gezeigt, an Zahl,
sondern erst recht an Wohlstand und Intelligenz. Die Beamten waren noch
die an min0rv.1v. ^otium, die sich die Ehrenbezeugung des xacls.rü 6c> v6Z
(Fußfalls) von den untern Volksklassen als etwas selbstverständliches gern ge¬
fallen ließen. Wie hat sich seitdem alles geändert! Heute ist in den Ost¬
marken das Deutschtum in seiner Vorherrschaft und in seinem Erwerb,
namentlich in den Städten, aufs schwerste bedroht, nicht bloß, weil es an Zahl
zurückgeht, sondern auch weil die Polen, die die Wandlung in gebildete Euro¬
päer schnell vollziehen, sich bemühen, den kulturmüßigen und wirtschaftlichen
Vorsprung der Deutschen einzuholen und mit der Waffe des Boykotts den
deutschen Erwerbsstünden tödliche Wunden zu schlagen. Der polnische Adel zwar
hat inzwischen den größern Teil seines Besitzes veräußern müssen und wird,
auch nach polnischer Meinung, den Rest seines Erbes nicht mehr lange
zu behaupten vermögen, der Klerus dagegen streift die alten Mängel ab, ist
rührig, intelligent, der Führer und Wohlthäter der untern Klassen, der Bauern
und Handwerker, geworden, die ebenso schnell an Gesittung und Wohlstand
zunehmen wie der die Deutschen aus den Städten verdrängende polnische
Bürgerstand. Was die im Juli 1848 gebildete I^s, xalslca, (polnische Liga),
die schnell auf einen Mitgliederstand von 10000 anwuchs, erstrebt hat: „die
Entwicklung aller nationalen Elemente, der Sprache und der Sitten der Polen
auf Grund ihrer geschichtlichen Vergangenheit mit vollständiger gewerblicher
wie gesellschaftlicher Sonderung von den Deutschen," das ist heute erreicht;
es leugnen wollen, hieße die Augen gegen offenkundige Thatsachen verschließen.

Um wie viel schwerer ist also am Ende des Jahrhunderts die Aufgabe
des preußischen Beamtentums in den Ostmarken als in seiner Mitte! Damals,
wo es in seiner Blüte stand, über unvergleichlich mehr Machtmittel gebot, ist
es an ihr gescheitert. Wird es ihr heute, einem stärkern Ansturm, unver¬
gleichlich komplizirtern Problemen gegenüber gewachsen sein? Trotz alledem
möchte ich diese Frage bejahen.

Heute giebt es keine Beuermann, rat- und hilflose Büreaukraten, keine zu
Kommissarien, zu denen sie nicht qualifizirt sind, sich unberufen drängenden
oder dazu berufnen Willisen, keine in Politik dilettirenden Militärs, keine
Brigadiers der Gendarmerie mehr, die sich beeilen würden, die vom „polnischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0111" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228413"/>
          <fw type="header" place="top"> Aus misrer Dstmark</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_338" prev="#ID_337"> Polen ganz ungeheuer; sie waren größtenteils Bauern, die unter dem Namen<lb/>
Bürger in sogenannten Städten wohnten, die kein Westdeutscher jemals als<lb/>
Städte hätte gelten lassen, die Minderzahl ein Handwerker- und Arbeiter¬<lb/>
proletariat schlimmster Sorte; der von Schmutz starrende Schafspelz war das<lb/>
Lieblingskleidungsstück.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_339"> Der polnische Bauer, der auf seinem Rücken noch die Beweise für die<lb/>
Willkür seiner ehemaligen Herren und Peiniger trug, fing erst an, sich unter<lb/>
der strengen und gerechten Zucht der preußischen Negierung in einen Menschen<lb/>
umzuwandeln. Die Deutschen, ein unpolitisches, still der Arbeit lebendes Ge¬<lb/>
schlecht, überwogen in den Städten, nicht bloß, wie schon gezeigt, an Zahl,<lb/>
sondern erst recht an Wohlstand und Intelligenz. Die Beamten waren noch<lb/>
die an min0rv.1v. ^otium, die sich die Ehrenbezeugung des xacls.rü 6c&gt; v6Z<lb/>
(Fußfalls) von den untern Volksklassen als etwas selbstverständliches gern ge¬<lb/>
fallen ließen. Wie hat sich seitdem alles geändert! Heute ist in den Ost¬<lb/>
marken das Deutschtum in seiner Vorherrschaft und in seinem Erwerb,<lb/>
namentlich in den Städten, aufs schwerste bedroht, nicht bloß, weil es an Zahl<lb/>
zurückgeht, sondern auch weil die Polen, die die Wandlung in gebildete Euro¬<lb/>
päer schnell vollziehen, sich bemühen, den kulturmüßigen und wirtschaftlichen<lb/>
Vorsprung der Deutschen einzuholen und mit der Waffe des Boykotts den<lb/>
deutschen Erwerbsstünden tödliche Wunden zu schlagen. Der polnische Adel zwar<lb/>
hat inzwischen den größern Teil seines Besitzes veräußern müssen und wird,<lb/>
auch nach polnischer Meinung, den Rest seines Erbes nicht mehr lange<lb/>
zu behaupten vermögen, der Klerus dagegen streift die alten Mängel ab, ist<lb/>
rührig, intelligent, der Führer und Wohlthäter der untern Klassen, der Bauern<lb/>
und Handwerker, geworden, die ebenso schnell an Gesittung und Wohlstand<lb/>
zunehmen wie der die Deutschen aus den Städten verdrängende polnische<lb/>
Bürgerstand. Was die im Juli 1848 gebildete I^s, xalslca, (polnische Liga),<lb/>
die schnell auf einen Mitgliederstand von 10000 anwuchs, erstrebt hat: &#x201E;die<lb/>
Entwicklung aller nationalen Elemente, der Sprache und der Sitten der Polen<lb/>
auf Grund ihrer geschichtlichen Vergangenheit mit vollständiger gewerblicher<lb/>
wie gesellschaftlicher Sonderung von den Deutschen," das ist heute erreicht;<lb/>
es leugnen wollen, hieße die Augen gegen offenkundige Thatsachen verschließen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_340"> Um wie viel schwerer ist also am Ende des Jahrhunderts die Aufgabe<lb/>
des preußischen Beamtentums in den Ostmarken als in seiner Mitte! Damals,<lb/>
wo es in seiner Blüte stand, über unvergleichlich mehr Machtmittel gebot, ist<lb/>
es an ihr gescheitert. Wird es ihr heute, einem stärkern Ansturm, unver¬<lb/>
gleichlich komplizirtern Problemen gegenüber gewachsen sein? Trotz alledem<lb/>
möchte ich diese Frage bejahen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_341" next="#ID_342"> Heute giebt es keine Beuermann, rat- und hilflose Büreaukraten, keine zu<lb/>
Kommissarien, zu denen sie nicht qualifizirt sind, sich unberufen drängenden<lb/>
oder dazu berufnen Willisen, keine in Politik dilettirenden Militärs, keine<lb/>
Brigadiers der Gendarmerie mehr, die sich beeilen würden, die vom &#x201E;polnischen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0111] Aus misrer Dstmark Polen ganz ungeheuer; sie waren größtenteils Bauern, die unter dem Namen Bürger in sogenannten Städten wohnten, die kein Westdeutscher jemals als Städte hätte gelten lassen, die Minderzahl ein Handwerker- und Arbeiter¬ proletariat schlimmster Sorte; der von Schmutz starrende Schafspelz war das Lieblingskleidungsstück. Der polnische Bauer, der auf seinem Rücken noch die Beweise für die Willkür seiner ehemaligen Herren und Peiniger trug, fing erst an, sich unter der strengen und gerechten Zucht der preußischen Negierung in einen Menschen umzuwandeln. Die Deutschen, ein unpolitisches, still der Arbeit lebendes Ge¬ schlecht, überwogen in den Städten, nicht bloß, wie schon gezeigt, an Zahl, sondern erst recht an Wohlstand und Intelligenz. Die Beamten waren noch die an min0rv.1v. ^otium, die sich die Ehrenbezeugung des xacls.rü 6c> v6Z (Fußfalls) von den untern Volksklassen als etwas selbstverständliches gern ge¬ fallen ließen. Wie hat sich seitdem alles geändert! Heute ist in den Ost¬ marken das Deutschtum in seiner Vorherrschaft und in seinem Erwerb, namentlich in den Städten, aufs schwerste bedroht, nicht bloß, weil es an Zahl zurückgeht, sondern auch weil die Polen, die die Wandlung in gebildete Euro¬ päer schnell vollziehen, sich bemühen, den kulturmüßigen und wirtschaftlichen Vorsprung der Deutschen einzuholen und mit der Waffe des Boykotts den deutschen Erwerbsstünden tödliche Wunden zu schlagen. Der polnische Adel zwar hat inzwischen den größern Teil seines Besitzes veräußern müssen und wird, auch nach polnischer Meinung, den Rest seines Erbes nicht mehr lange zu behaupten vermögen, der Klerus dagegen streift die alten Mängel ab, ist rührig, intelligent, der Führer und Wohlthäter der untern Klassen, der Bauern und Handwerker, geworden, die ebenso schnell an Gesittung und Wohlstand zunehmen wie der die Deutschen aus den Städten verdrängende polnische Bürgerstand. Was die im Juli 1848 gebildete I^s, xalslca, (polnische Liga), die schnell auf einen Mitgliederstand von 10000 anwuchs, erstrebt hat: „die Entwicklung aller nationalen Elemente, der Sprache und der Sitten der Polen auf Grund ihrer geschichtlichen Vergangenheit mit vollständiger gewerblicher wie gesellschaftlicher Sonderung von den Deutschen," das ist heute erreicht; es leugnen wollen, hieße die Augen gegen offenkundige Thatsachen verschließen. Um wie viel schwerer ist also am Ende des Jahrhunderts die Aufgabe des preußischen Beamtentums in den Ostmarken als in seiner Mitte! Damals, wo es in seiner Blüte stand, über unvergleichlich mehr Machtmittel gebot, ist es an ihr gescheitert. Wird es ihr heute, einem stärkern Ansturm, unver¬ gleichlich komplizirtern Problemen gegenüber gewachsen sein? Trotz alledem möchte ich diese Frage bejahen. Heute giebt es keine Beuermann, rat- und hilflose Büreaukraten, keine zu Kommissarien, zu denen sie nicht qualifizirt sind, sich unberufen drängenden oder dazu berufnen Willisen, keine in Politik dilettirenden Militärs, keine Brigadiers der Gendarmerie mehr, die sich beeilen würden, die vom „polnischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/111
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/111>, abgerufen am 28.07.2024.