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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr.

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Nach der Reichstagswahl

Bauern, die Fabrikbarone wie die Arbeiter, die Geheimräte wie die Briefträger
-- von einigen unpraktischen Sonderlingen abgesehen -- nach und nach im
Prinzip und in der Praxis zu reinlichen Geschäftspolitikern erzogen. Unter
diesem Zeichen stand die Politik des alten Reichstages, unter ihm ist der neue
gewählt, und wenn es nicht so traurig wäre, müßte man sich beinah darüber
freuen, daß wenigstens der römische Papst, der allein nicht materiellen Gewinn
verspricht, noch immer Fische in Deutschland sängt. Wer den ersten zehn
Regiernngsjahren Wilhelms II. einst wird gerecht werden wollen, der wird
diese Entartung des politischen Geistes im deutschen Volke vor allem in Anschlag
bringen müssen. Das Urteil steht dann aber auch ganz außer Zweifel.

Es ist lächerlich und unwahr, heute, wie die Sachen nun einmal stehen,
den Kaiser bei der Erörterung politischer Fragen grundsätzlich aus dem Spiele
lassen zu wollen. Der Bauer, der Arbeiter versteht solches Versteckenspiel
nicht; er sieht den Kaiser überall, aber freilich immer nur durch die raffinirt
zurecht geschliffne und gefärbte Brille, die die Partei ihm auf die Nase setzt.
Gerade angesichts dieser Wahlen muß es aber auch den verschrobnen Köpfen der
gebildeten Leute immer wieder mit allem Nachdruck ins Ohr geschrieen werden, daß
bei uns in der innern wie in der äußern Politik jetzt alles auf den Kaiser gestellt,
und daß von einer Politik des deutschen Volks, von einer Politik der deutschen
Volksvertretung, Gott seis geklagt, überhaupt nichts zu sehen und zu hören ist.
Es ist ja für den Augenblick ein großes Glück, daß des Kaisers Hand das Steuer
halt, und sein Kurs nur ein Ziel kennt: die Mehrung des Reichs zum Besten
des Volkes. Aber kein gebildeter Mann sollte die Unnatur und Gefahr über¬
sehen, die heute und mit jedem Jahre mehr in diesem Stand der Dinge gerade
sür das Deutsche Reich liegt. Nur mit dem Volk und mit der Volksvertretung
kann unser Kaiser die gewaltigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Auf¬
gaben lösen, die die nahe Zukunft dem Deutschen Reiche stellt. Schon viel
zu lange hat die politische Zerfahrenheit der Nation und der Mangel der
nationalen Politik das Reich nach innen und außen gelähmt und eher zurück
statt voran gebracht. Mag der jetzt gewühlte Reichstag auch Deutschland
noch nicht zu Grunde richten: noch eine, noch zwei solche Reichstagswahlen,
und wir stehen aller Voraussicht nach vor der beschämenden Thatsache, daß --
nicht etwa die politische Unreife oder Verdorbenheit der nach Millionen zählenden
Wählermassen, nicht die Bauern und die Arbeiter, sondern wir, das sogenannte
gebildete Element in allen Berufen und Ständen, das kaum aufgerichtete neue
Deutsche Reich um seine Zukunft betrogen haben, daß wir, die Vertreter der
Geistesarbeit, so stolz auf die neue Zeit und den neuen Geist, uns unfähig
und unwürdig erwiesen haben, das, was die Großväter heiß ersehnt und die
Väter erreicht, zu verstehen, zu genießen und vor jämmerlichem Verfall zu be¬
wahren. Nur der ehrliche Bruch mit der Politik der Sonderinteresfen, des
Pseudosozialismus, der Bruch mit der demagogischen Geschüftspolitik der bis-


Nach der Reichstagswahl

Bauern, die Fabrikbarone wie die Arbeiter, die Geheimräte wie die Briefträger
— von einigen unpraktischen Sonderlingen abgesehen — nach und nach im
Prinzip und in der Praxis zu reinlichen Geschäftspolitikern erzogen. Unter
diesem Zeichen stand die Politik des alten Reichstages, unter ihm ist der neue
gewählt, und wenn es nicht so traurig wäre, müßte man sich beinah darüber
freuen, daß wenigstens der römische Papst, der allein nicht materiellen Gewinn
verspricht, noch immer Fische in Deutschland sängt. Wer den ersten zehn
Regiernngsjahren Wilhelms II. einst wird gerecht werden wollen, der wird
diese Entartung des politischen Geistes im deutschen Volke vor allem in Anschlag
bringen müssen. Das Urteil steht dann aber auch ganz außer Zweifel.

Es ist lächerlich und unwahr, heute, wie die Sachen nun einmal stehen,
den Kaiser bei der Erörterung politischer Fragen grundsätzlich aus dem Spiele
lassen zu wollen. Der Bauer, der Arbeiter versteht solches Versteckenspiel
nicht; er sieht den Kaiser überall, aber freilich immer nur durch die raffinirt
zurecht geschliffne und gefärbte Brille, die die Partei ihm auf die Nase setzt.
Gerade angesichts dieser Wahlen muß es aber auch den verschrobnen Köpfen der
gebildeten Leute immer wieder mit allem Nachdruck ins Ohr geschrieen werden, daß
bei uns in der innern wie in der äußern Politik jetzt alles auf den Kaiser gestellt,
und daß von einer Politik des deutschen Volks, von einer Politik der deutschen
Volksvertretung, Gott seis geklagt, überhaupt nichts zu sehen und zu hören ist.
Es ist ja für den Augenblick ein großes Glück, daß des Kaisers Hand das Steuer
halt, und sein Kurs nur ein Ziel kennt: die Mehrung des Reichs zum Besten
des Volkes. Aber kein gebildeter Mann sollte die Unnatur und Gefahr über¬
sehen, die heute und mit jedem Jahre mehr in diesem Stand der Dinge gerade
sür das Deutsche Reich liegt. Nur mit dem Volk und mit der Volksvertretung
kann unser Kaiser die gewaltigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Auf¬
gaben lösen, die die nahe Zukunft dem Deutschen Reiche stellt. Schon viel
zu lange hat die politische Zerfahrenheit der Nation und der Mangel der
nationalen Politik das Reich nach innen und außen gelähmt und eher zurück
statt voran gebracht. Mag der jetzt gewühlte Reichstag auch Deutschland
noch nicht zu Grunde richten: noch eine, noch zwei solche Reichstagswahlen,
und wir stehen aller Voraussicht nach vor der beschämenden Thatsache, daß —
nicht etwa die politische Unreife oder Verdorbenheit der nach Millionen zählenden
Wählermassen, nicht die Bauern und die Arbeiter, sondern wir, das sogenannte
gebildete Element in allen Berufen und Ständen, das kaum aufgerichtete neue
Deutsche Reich um seine Zukunft betrogen haben, daß wir, die Vertreter der
Geistesarbeit, so stolz auf die neue Zeit und den neuen Geist, uns unfähig
und unwürdig erwiesen haben, das, was die Großväter heiß ersehnt und die
Väter erreicht, zu verstehen, zu genießen und vor jämmerlichem Verfall zu be¬
wahren. Nur der ehrliche Bruch mit der Politik der Sonderinteresfen, des
Pseudosozialismus, der Bruch mit der demagogischen Geschüftspolitik der bis-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228301/10>, abgerufen am 27.07.2024.